„Plötzlich werden wir wieder zu Sündenböcken gemacht“

Die Linguistin und Herausgeberin Ruth Wodak über den alten und neuen Antisemitismus, mangelnde Wachsamkeit, Blasen, Cancel Culture und ein Ja ohne Aber im freundschaftlichen Gespräch mit Anita Pollak.

985
© privat

WINA: Der Antisemitismus alter Nazis, von dem in den Alltagsgeschichten erzählt wird, erscheint uns aus heutiger Sicht beinah harmlos. Wir waren ihn gewohnt, konnten ihn sozusagen lesen, ihm vielleicht sogar ausweichen und haben gehofft, dass er ausstirbt. Nun sind aber neue Varianten neuer Judenhasser dazugekommen, deren Sprache, deren Codes wir gar nicht verstehen. Wie gehst du als Linguistin damit um?
Ruth Wodak: Ich glaube, es gibt momentan eine Mischung von ganz verschiedenen Antisemitismen, wobei auch die Antisemitismen von Rechtsextremen immer noch stark vorhanden sind. Sogenannte Einzelfälle, die wir seit jeher kennen und die heute expliziter sein können als sie früher waren. Die Codierung, die noch stark bei Jörg Haider bestand, wo man sich etwa über bestimmte Namen lustig gemacht hat, diese Codierung ist zurückgegangen und wurde durch ganz explizite antisemitische Äußerungen ersetzt, die keine linguistischen Analysen brauchen. Es ist unverschämter geworden, siehe Liederbuch Affäre, das ist eine neue Generation. Wenn z. B. bei den Anti-Impf-Demonstrationen vor zwei Jahren, angeführt von der FPÖ, gelbe Davidsterne mit „Ungeimpft“ getragen wurden. Dieser Antisemitismus zeigt immer wieder sein hässliches Gesicht. Auch der islamistische Judenhass ist ohne Zweifel vorhanden, und daher erleben wir jetzt beides. In den Schulen werden bekanntlich jüdische Kinder gemobbt, da passierten bereits vor dem 7. Oktober schreckliche Dinge, das hat jetzt noch zugenommen. Das ist ein anderer Antisemitismus, denn viele Menschen etwa aus dem Iran sind in solche Vorurteile hinein sozialisiert worden. Viele Menschen sind aufgewachsen, ohne zu wissen, dass es die Shoah gegeben hat. Da vermischt sich die Anti-Israel-Haltung mit Hass auf alle Juden auf der Welt; alle Juden und Jüdinnen werden sozusagen mit „Israel“ und der israelischen Politik identifiziert. Da sind Bildung und Aufklärung gefragt.

Wir sind aber dennoch mit einem Judenhass konfrontiert, der eine andere Sprache spricht. Wie kann man mit diesen Erscheinungsformen etwa auf den diversen Social Media oder wirklich in arabischen Sprachen umgehen?
I Also, ich kann nicht Arabisch, dazu kann ich mich überhaupt nicht äußern. Ich hatte aber in der Universität von Lancaster mit arabischen Studierenden zu tun, und da gab es viele Gespräche, weil diese nichts über die Geschichte der europäischen Juden wussten. Damals gab es noch keine aufgeheizte, polarisierte Atmosphäre, da ist es mir gelungen, bei Studierenden Bewusstsein zu wecken. Vor allem bei gebildeten Frauen haben wir durch Dialoge viel Wissen und Bewusstsein verbreiten können.

„Wir waren lange Zeit privilegiert und haben
in unseren Blasen gut gelebt.“
Ruth Wodak

Wir alle leben ja in Blasen, die einander nicht berühren. Es sind teilweise auch sprachliche Parallelwelten. Besteht da nicht die Gefahr, dass wir vieles gar nicht wahrnehmen, übersehen, vielleicht zu spät erkennen?
I Mir ist das bislang nicht so vorgekommen, weil ich mich auch anderen Gesprächen aussetze, was manchmal auch unangenehm sein kann. Aber wenn wir nicht in diesen Blasen verharren wollen, sondern auch hören wollen, was andere sagen, bleibt nichts anderes übrig, als sich auch in anderen Kontexten zu bewegen. Dazu besitzt freilich nicht jeder die Möglichkeit, und man hat natürlich auch Angst, man weiß ja nicht, was einem blüht. Michel Friedman hatte bei seinem Vortrag in Wien ganz Recht, dass man sehr wachsam sein muss. Wir waren lange Zeit privilegiert und haben in unseren Blasen gut gelebt, haben uns halt ab und zu empört. Aber wie Friedman sagte, Demokratie muss man täglich erarbeiten und daher auch wahrnehmen, welche Diskurse verbreitet werden. Wir haben uns mit dem Alltagsantisemitismus in Wien quasi „arrangiert“, und jetzt gibt’s halt noch ein bisserl mehr, und da wird man noch ein bisserl mehr zusammenrücken. Dabei hat die Wachsamkeit eingebüßt. Mich hat z. B. die Schändung des jüdischen Friedhofs nach dem 7. Oktober sehr aufgerüttelt. Was haben wir da versäumt? Plötzlich werden wir, alle Juden auf der Welt, wieder zu Sündenböcken gemacht – wie ich dies in meiner Forschung mit dem Konzept des „Judeus ex machina“ beschreibe.

Angst macht auch die globale Dimension des Judenhasses, der sich im Gewand der s. g. Israelkritik äußert. Was ja ein Unwort ist, denn es gibt z. B. keine Russlandkritik oder Syrienkritik. Kann man, muss man da differenzieren?
I Ich stimme dir zu, dass das ein Unwort ist und dass es einen double standard gegenüber Israel gibt und von Anfang an gegeben hat, den ich total ablehne, aber dem ich immer wieder begegne. Andererseits darf man nicht in die Falle gehen, nichts Kritisches über die israelische Politik sagen zu dürfen – und die gegenwärtige rechtsextreme israelische Regierung ist tatsächlich schrecklich. Die Polarisierung lässt leider nur zwei Positionen zu; ich möchte jedoch differenzieren dürfen. Wir dürfen unsere kritische Reflexion nicht verlieren und müssen Komplexität erkennen und lernen damit umzugehen.

Antisemiten sind in keiner Weise objektiv oder neutral. Von Juden und Jüdinnen wird hingegen immer verlangt, auch die andere Seite zu sehen. Dürfen wir nicht auch subjektiv sein?
I Na, selbstverständlich müssen wir jetzt unsere Seite sehen und nicht das „Ja, aber“, sondern das „Ja und“; subjektiv ist es natürlich ein „Ja ohne Aber“.

Du hast dich kürzlich zur s. g. Cancel Culture geäußert, die sicher nur ein Symptom aller dieser Entwicklungen ist. Das Problem ist jetzt z. B. bei den Festwochen auch in Wien angekommen. Da ist man offenbar in einem Dilemma. Einerseits wilman manchen extremen Positionen kein Forum bieten, andererseits fürchtet man sich vor Auswüchsen, die dann auch die andere Seite ausnützt. Wie stehst du dazu?
I In England wurden z. B. Israelis (Künstler:innen oder Wissenschaftler:innen), nur weil sie Israelis sind, bereits ausgeladen. Das geht gar nicht. Es kommt immer auf den Einzelfall an, da muss man abwiegen, und die Frage stellt sich dann, wer wiegt ab, wer entscheidet aufgrund welcher Kriterien? Gibt es ein Forum, wo man sich mit den Eingeladenen auseinandersetzen kann, wo verschiedene Meinungen diskutiert werden? In einem universitären Forum muss ein Diskurs möglich sein, außer das Verbotsgesetz wird überschritten oder es besteht Verhetzungsgefahr etc. Wenn aber jemand z. B. zu einem Festvortrag ins Burgtheater eingeladen ist, und es gibt keine Möglichkeit zur Diskussion, dann muss man sich das genau überlegen, ob eine solche Veranstaltung sinnvoll ist. Wir müssen aufpassen, dass letztlich nicht irgendwer uns das Wort verbietet und dann jeder jedem das Wort verbietet oder verbieten könnte. Das wäre das Ende der Meinungsfreiheit und auch der Wissenschaftsfreiheit. Die Universität und die Öffentlichkeit müssen verschiedene Meinungen und sachliche Diskussionen aushalten, und davor darf man auch keine Angst haben.

Dein Band ist knapp vor dem 7. Oktober redaktionell fertig geworden. Was verändert diese Zeitenwende daran, wie wir ihn lesen?
I Schon vor Drucklegung haben wir das mit den Autor:innen diskutiert, haben dann aber das Manuskript unverändert gelassen. Zu lesen ist der Alltag, wie er in Wien besteht und immer bestehen wird. Der Alltagsantisemitismus wird leider nicht verschwinden, es gibt immer wieder neue Ausformungen, wie den muslimischen Antisemitismus, der dazugekommen ist. Die Response auf diese Zeitenwende wären jetzt andere Essays, die sich damit beschäftigen, was es bedeutet, wenn plötzlich der Nahostkonflikt in Wien ausgetragen wird, wenn eben zwei ethnische Gruppen, jüdische und palästinensische, die beide in der Diaspora leben, in anderen Kontexten aufeinander treffen, wie anderswo auch. Wie gehen wir damit um, dass wir in unseren angenehmen Blasen plötzlich gestört werden von Geschehnissen, die nicht unmittelbar, aber mittelbar natürlich mit uns zusammenhängen? Ich habe keine gute Antwort darauf, wie wir im Alltag damit umgehen sollen. Ich wünsche mir, wenn möglich, einen Dialog, Auseinandersetzungen in adäquaten Kontexten. Ansonsten müssen wir uns schützen. Und ja, in diesen Zeiten enormer Unsicherheit haben wir alle Angst.


Siehe auch: „Nur die Spitze des Eisbergs“

In ihrem neuen Band Das kann immer noch in Wien passieren versammelt Ruth Wodak judenfeindliche Erfahrungen als „Alltagsgeschichten“.

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here