Wer in Israel lebt, der hat die hohe, gequetschte Stimme im Ohr, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit in TV- oder Radiodokumentationen zu hören ist. Es handelt sich um die historische Aufnahme von David Ben-Gurion, wie er am 14. Mai 1948 die Unabhängigkeitserklärung verliest. „Wir erklären hiermit die Gründung eines jüdischen Staates im Land Israel“, ruft der spätere erste Ministerpräsident. Wegen des 70. Jahrestags wurde diese Aufnahme in den letzten Monaten besonders häufig gespielt. Und weil sie medial schon so abgenützt ist, löst sie eher Langeweile aus. Abgesehen davon wurde die Szene wegen der heute etwas komisch wirkenden Erscheinung und Diktion Ben-Gurions schon unzählige Male parodiert. Aufgeregt hat sich darüber jedenfalls noch niemand.
Wieso sollte man auch? Dass Israel der Staat der Juden ist, ist ja allgemein bekannt. Schon lange bevor Ben-Gurion für diesen Staat den Namen „Israel“ wählte, war es selbstverständlich, dass – ob man nun dafür oder dagegen war – vom Nationalstaat des jüdischen Volkes die Rede war, in der Substanz und im Wortlaut. Was sonst hat Theodor Herzl prophezeit und betrieben, wenn nicht die Errichtung eines „Judenstaats“? Die UNO beschloss am 29. November 1947 die Teilung des Mandatsgebiets Palästina in einen „Arabischen Staat“ und, wörtlich, einen „Jüdischen Staat“. Und alle, die für eine „Zweistaatenlösung“ eintreten, können damit logischerweise doch nur meinen, dass es neben einem palästinensischen eben einen jüdischen Staat geben soll – denn sonst könnte man sich ja gleich mit einer „Einstaatenlösung“ begnügen.
„Rassismus“ und „Affront“
Das ist alles so elementar, dass man sich beinahe genieren muss, es niederzuschreiben. Oder vielleicht doch nicht? Denn was sich diesen Sommer rund um das vom israelischen Parlament beschlossene „Nationalstaatsgesetz“ abgespielt hat, belegt wieder aufs Neue, dass im Hinblick auf Israel offenbar nichts elementar ist. Proteste arabischer Politiker waren ja zu erwarten gewesen, aber der Ton wurde außergewöhnlich schrill. Der PLO-Funktionär Saeb Erekat sagte, das Gesetz mache Israel zu einem „Apartheid-System“. Knesset-Abgeordnete der Arabischen Einheitsliste sprachen von „Rassismus“ und vom „Tod der Demokratie“. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nannte Israel den „faschistischsten und rassistischsten Staat der Welt“ und sah bei dem Gesetz „keinen Unterschied zu Hitlers Obsession mit der arischen Rasse“. Die Wellen schlugen dabei weit aus der Region hinaus. „Wir sind besorgt, wir haben diese Besorgnis ausgedrückt, und wir werden in diesem Kontext weiterhin an die israelischen Behörden herantreten“, sagte etwa eine Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini, und in deutschsprachigen Medienkommentaren fiel immer wieder das Wort „Affront“.
Was steht nun also in diesem Gesetz, das derartige Emotionen auslöst? Nicht viel. Das „Grundgesetz: Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes“ umfasst elf knappe Artikel, bestehend aus ganzen 22 lakonischen Sätzen. Fast alle diese Sätze enthalten triviale, phrasenhafte Aussagen oder beschreiben eine seit Langem etablierte Realität. „Das Land Israel ist die historische Heimat des jüdischen Volkes“, heißt es da etwa, „Der Name des Staates ist ‚Israel‘ “, und „Die Hymne des Staates ist haTikwa“. Dass der Sabbat und die jüdischen Feiertage Ruhetage sind, dass der Unabhängigkeitstag der Nationalfeiertag ist und dass Israel „für jüdische Einwanderung offen“ ist – das alles ist wohl auch keine Schlagzeilen wert. Von seinem Wesen her ist das Gesetz deklarativ und nicht operativ. In ihm ist nichts zu finden, was konkrete Maßnahmen oder Veränderungen nach sich ziehen würde.
Missverständnisse und Fehlinformationen
Um nun doch etwas Handfestes zu zitieren, was den „faschistischen“ oder auch nur „diskriminierenden“ Charakter des Gesetzes belegen würde, mussten sich die kritischen Berichterstatter schon sehr bemühen. Und die spärlichen Beispiele beruhten dann auf Missverständnissen oder glatten Fehlinformationen. Als Lachnummer tat sich da etwa ein großes deutsches Magazin hervor, das titelte: Israel wird ‚Nationalstaat für jüdische Menschen‘. Die Erklärung dafür liegt wohl darin, dass die Redakteure nicht hebräisch sprechen und auf eine englische Übersetzung des Gesetzes angewiesen waren. Und so haben sie wohl ihrerseits den Ausdruck „Jewish people“ falsch ins Deutsche übersetzt (mit „jüdische Menschen“ statt „jüdisches Volk“).
Es war selbstverständlich, dass – ob man nun dafür oder dagegen war – vom Nationalstaat des jüdischen Volkes die Rede war, in der Substanz und im Wortlaut. Was sonst hat Theodor Herzl prophezeit und betrieben, wenn nicht die Errichtung eines „Judenstaats“?
Der Fehler ist nicht nur belustigend, sondern auch bezeichnend für die Verwirrung, um nicht zu sagen Ahnungslosigkeit. Das Gesetz definiert eben gerade nicht die Rechte individueller Menschen, sondern nationale Rechte. Deshalb ist es auch nicht diskriminierend, wenn in dem Gesetz steht: „Die Verwirklichung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung im Staat Israel ist dem jüdischen Volk vorbehalten.“ Das ist genauso selbstverständlich wie die Aussage, dass in Frankreich die nationale Selbstbestimmung des französischen Volkes (und nicht etwa jene des korsischen oder baskischen oder eines sonstigen Volkes) verwirklicht wird. Der Selbstbestimmung und den Rechten von Individuen und Minderheiten innerhalb des Staates wird dadurch kein Abbruch getan.
Kein arabischer Bürger Israels wird durch das Gesetz irgendeinen Nachteil erleiden. Israel bleibt ein Muster der Multikulturalität. Die Aufregung ist maßlos übertrieben.
Mit einem irreführenden Übersetzungsproblem belastet ist auch die weithin kolportierte Meldung, das Gesetz würde festlegen, dass „jüdische Siedlungen im nationalen Interesse sind“. Das Wort „Siedlungen“ ist im Zusammenhang mit Israel politisch negativ geprägt und wird mit jüdischer Bautätigkeit im Westjordanland (und früher im Gazastreifen) assoziiert. Doch wer den hebräischen Gesetzestext liest, findet dort keine „Siedlungen“, sondern den Ausdruck „Hitjaschvut“, der „Besiedlung“ bedeutet. „Hitjaschvut“ hat schon in vorstaatlichen Zeiten die Gründung von Gemeinden aller Art, insbesondere von Kibbuzim in allen Regionen des Landes, etwa in Galiläa oder im Negev, bezeichnet – also etwas, das in Israel von jeher und unter allen Regierungen als selbstverständliche nationale Mission betrachtet wurde.
Arabisch war niemals Amtssprache
In den Berichten über das Nationalstaatsgesetz am häufigsten genannt wurde aber der Passus über die arabische Sprache. Arabisch sei bisher in Israel „Amtssprache“ oder „offizielle“ Sprache gewesen, wurde man immer wieder belehrt, und werde nun „herabgestuft“. Das wäre nun wirklich bedenklich. Bloß: Es ist einfach nicht wahr. Wie die israelische Publizistin Janet Berg recherchiert hat, war in Israel niemals zuvor irgendeine Sprache, auch nicht die hebräische, per Gesetz zur offiziellen Staatssprache erklärt worden. Der Irrglaube rührt von einem britischen Mandatsgesetz aus dem Jahr 1922 her, wonach Verordnungen, offizielle Verlautbarungen von Gemeinden, Formulare und dergleichen auf Englisch, Arabisch und Hebräisch zu verfassen waren. Nach der Gründung Israels entstanden dann nach und nach Gesetze, die für spezifische praktische Zwecke die Benützung der arabischen Sprache erlaubten oder vorschrieben. Das israelische Wahlgesetz etwa bestimmt, dass Stimmzettel auch arabisch beschriftet sein dürfen. Das Rundfunkgesetz legt fest, dass auch Programme in arabischer Sprache produziert werden sollen. Eine Verordnung über Sicherheit am Arbeitsplatz bestimmt, dass Sicherheitsvorschriften auch auf Arabisch ausgehängt werden müssen. Die Apothekenverordnung schreibt vor, dass Beipackzettel für Medikamente auch ins Arabische zu übersetzen sind. Arabisch war also in Israel niemals „Amtssprache“, sondern hatte, aus historischen und praktischen Gründen, einen speziellen Status. Mithin wird die arabische Sprache durch das Nationalstaatsgesetz nicht „herabgestuft“. Vielmehr wird der spezielle Status, den sie ohnehin hat, zum ersten Mal überhaupt durch ein israelisches Gesetz im Verfassungsrang ausdrücklich anerkannt. Im Übrigen geht Israel damit über das hinaus, was in den meisten anderen Staaten üblich ist, auch in europäischen Demokratien. Die Verfassung Frankreichs etwa bestimmt kategorisch: „Die Sprache der Republik ist Französisch.“ Und im deutschen Grundgesetz – eine richtige Verfassung hat Deutschland nicht – heißt es: „Die deutsche Sprache ist, unbeschadet der den sprachlichen Minderheiten bundesgesetzlich eingeräumten Rechte, die Staatssprache der Republik.“ In Israels Nachbarschaft scheint man auch kein großes Herz für Minderheitensprachen zu haben. „Der Islam ist die Religion des Staates, und Arabisch ist seine offizielle Sprache“, verfügt die Verfassung Ägyptens. Und Artikel 42 der türkischen Verfassung klingt schon fast wie eine Drohung: „Keine andere Sprache als Türkisch darf türkischen Bürgern als Muttersprache in jedweden Ausbildungs- oder Unterrichtsanstalten beigebracht werden.“ Vielleicht könnte man für Erdogan einmal einen Besuch in einem arabischen Gymnasium in Jaffo oder Nazareth organisieren.
Das Gesetz ist unnötig, die Aufregung auch
Israels neues Nationalstaatsgesetz enthält also nur Selbstverständlichkeiten und verändert nichts. Mit anderen Worten: Es ist eigentlich unnötig. Deshalb war es auch unklug und ungeschickt, dieses Gesetz überhaupt zu beschließen, zumal die Empörung darüber, so wenig sie berechtigt sein mag, vorhersehbar war. Außerdem hätten die Initiatoren, wenn sie schon dabei waren, den Text noch durch ein paar weitere „Selbstverständlichkeiten“ unterfüttern können, etwa ein ausdrückliches Bekenntnis zur Demokratie. Doch kein arabischer Bürger Israels wird durch das Gesetz irgendeinen Nachteil erleiden, Israel bleibt ein Muster der Multikulturalität, und die Aufregung ist maßlos übertrieben.