Wie war es damals?

Ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter über die Frage, warum Eltern nicht mit ihren Kindern über die Zeit der NS-Verfolgung gesprochen haben.

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LUCIA HEILMAN, wurde 1929 geboren und wurde während der NS-Zeit mit ihrer Mutter vom Kunstschmied Reinhold Duschka, einem Freund der Familie, in dessen Werkstätte in der Mollardgasse versteckt. Sie studierte nach Kriegsende Medizin und arbeitete später als Ärztin in Wien. Seit 1975 geht Lucia Heilman als Zeitzeugin in Schulen. ©Viola Heilman

Was Erlebnisse der Elterngeneration in der nationalsozialistischen Zeit betrifft, stehen viele nach 1945 Geborene vor einer Wand des Schweigens. Die wenigen Fakten, die Eltern ihren Kindern erzählt haben, haben eher dazu beigetragen, die Frage „Was war damals?“ zu einem Tabu zu machen. Als Folge fragten irgendwann die Kinder nicht mehr. Das heißt jedoch nicht, dass sie dieses Thema vergessen, denn jedes Kind ist neugierig, und Tabus sind bekanntlich besonders interessant. Die Versuche, über andere Wege, etwa bei Gleichaltrigen, Informationen herauszufinden, scheiterten daran, dass eine ganze Generation nicht mit ihren Kindern darüber gesprochen hat. Umso erstaunlicher ist es, dass Überlebende als Zeitzeugen vor fremden Menschen sprechen, mit den eigenen Kindern aber nicht. Es ist ein Nicht-Können, kein Nicht-Wollen. Die nachfolgende Generation kann daher die Traumata der Elterngeneration nie richtig verstehen. Es wäre aber so wichtig zu begreifen, wozu Menschen fähig sind. Obwohl viel über die NS-Zeit in den Medien berichtet wird, bekommt das Thema eine andere Qualität, wenn es in der eigenen Familie jemanden gibt, der das erlebt hat. Das Trauma würde individualisiert und bekäme ein Gesicht. So bleibt aber in der zweiten und dritten Generation die Frage, warum wurde darüber nicht gesprochen. Niemals vergessen ist der Leitsatz, aber das NichtVergessen wäre leichter, wenn die nachgeborene Generation mehr Informationen auf emotioneller Ebene bekommen hätte. So wurde ein schmerzendes Trauma übertragen, das unverständlich bleibt und daher auch nicht aufgearbeitet werden kann.

Du beschreibst in deinen Zeitzeugen-Gesprächen ein Gefühl der großen Freude bei der Befreiung durch die Alliierten. Wie war es, fremden Menschen zu begegnen?
I Lucia Heilman: Während des Versteckt-Seins hatte ich überhaupt keinen Kontakt zu anderen Menschen, außer mit Reinhold Duschka und meiner Mutter. So konnte ich über andere Leute weder nachdenken noch mit ihnen plaudern. Ich war also ganz allein als Kind, ohne Kindergesellschaft. Der einzige Kontakt mit der Außenwelt waren ein kleines Radio, das die ganzen Nazi-Nachrichten stündlich verkündet hat, und die Bücher, die mir Reinhold zum Lesen gebracht hat. Als wir wieder eine Wohnung hatten, war der erste Kontakt mit fremden Menschen die Begegnung mit Nachbarn in diesem Haus. Diese völlig fremden Menschen waren für mich alle Nazis. Mein erster Gedanke war immer, das ist ein Nazi, das war innerlich immer präsent.

Du warst bei Kriegsende eine junge Frau, wie bist du Männern begegnet?
I Im Nebenhaus hat eine Mutter mit ihrem Sohn gelebt, der ein bis zwei Jahre älter war ich. Ich bin damals in die fünfte Klasse Gymnasium gegangen und er in die Siebente. Er war ein sehr fescher junger Mann und für mich ein erster Kontakt zum anderen Geschlecht. Aber es war ein merkwürdiges Verhältnis, denn ich habe natürlich ganz genau gewusst, dass er ein HJler war. Trotzdem hat es mir geschmeichelt, dass ich ihm gefallen habe. Dieser Flirt hat aber nicht lange gedauert, vielleicht ein halbes Jahr, nicht länger. Dann habe ich einen jungen jüdischen Mann kennengelernt, der dann später mein Ehemann wurde. Bedingt dadurch, dass ich kaum jemanden gekannt habe, war diese Begegnung ein schicksalhaftes Erlebnis. Ich habe ihn angeschaut, er hat mich angeschaut, und es war Liebe auf den ersten Blick. Das Gefühl war heimisch …

„Für mich persönlich war das eine Zeit, die man so schnell wie möglich wegschiebt, ganz weit in den hintersten
Winkel, und sich nicht einmal mehr daran erinnert. Was soll ich darüber reden?“

Hast du mit anderen Menschen in deinem Umfeld als junge Frau über deine Zeit als U-Boot gesprochen?
I Kaum. Es war so uninteressant. Was sollte ich erzählen? Ich bin in einer Werkstatt gesessen, habe dort den ganzen Tag gehämmert … das alles sollte ich erzählen. Viel interessanter war das Leben von dem Mann, in den ich verliebt war. Das war für mich reizvoller, als über mich, über diese schreckliche Zeit, in der ich kaum gelebt habe, zu sprechen. Ich hatte ja keine Möglichkeit, irgendwas dort in der Werkstatt zu erleben. Nichts.

Haben die anderen jungen Leute etwas erzählt?
I Über die Hitlerzeit hat jeder ein bisschen erzählt. Vor allem, wenn jemand aus einem anderen Land kam, wurde erzählt, wie das dort war. Aber in drei, vier Sätzen wurde diese Sache abgehandelt und war mehr als Hintergrundinformation gedacht, aber nicht mehr. Niemand hat über Gräueltaten erzählt oder über Schlägereien, Diskriminierung. Gerade Diskriminierung war damals so selbstverständlich, dass niemand ein Wort darüber verlor.

Du bist von der jahrelangen Kinder-Einsamkeit plötzlich in ein soziales Gefüge gekommen. Hast du Mängel an dir festgestellt?
I Nein! Ich habe auch an anderen kaum Mängel festgestellt. Das erste wirkliche soziale Gefüge, in das ich hineingestolpert bin, war die Schule. Es hat mich so gefreut, dass ich mit jungen Mädchen zusammen war. Ich habe mich sehr bemüht, in diese Gemeinschaft hineinzukommen, vor allem durchs Lernen. Ich wollte mir beweisen, dass ich lernen kann. In den ganzen vier Jahren des Versteckt-Seins habe ich ja nie gelernt.

Haben dich deine Mitschülerinnen nicht danach gefragt, was du in den vergangenen vier Jahr gemacht hast?
I Nein. Erst im Laufe der Jahre haben mir Mitschülerinnen gesagt, wer von den anderen bei dem BDM war und eine Nazi. Das heißt, die Kinder in der Klasse haben sehr wohl unterschieden zwischen Mädchen mit Nazi-Gesinnung und solchen, die nur schweigende Mitläufer oder nicht engagiert waren. Es wurde auch darüber gesprochen, dass die Lehrer Nazis waren.

Hat es nach der Befreiung Momente gegeben, in denen du dir gewünscht hättest über die Zeit des Versteckt-Seins zu sprechen?
I Nein.

„Jedes Läuten in der Werkstatt, jedes Geräusch am Gang – das war jedes Mal ein Angstschock. Als das weggefallen ist, war das eine solche Erlösung, eine plötzliche Leichtigkeit, eine Lastbefreiung.“

Wir erklärst du dir das?
I Für mich persönlich war das eine Zeit, die man so schnell wie möglich wegschiebt, ganz weit in den hintersten Winkel, und sich nicht einmal mehr daran erinnert. Was soll ich darüber reden?

Und deine Mutter, mit der du gemeinsam diese schreckliche Zeit erlebt hast: Hat sie mit dir gesprochen?
I Nein. Auch nicht. Wir waren so froh, dass diese Zeit zu Ende ist, dass wir nicht mehr unterdrückt und bedrängt wurden. Vor allem die Angst, die immer da war. Jedes Läuten in der Werkstatt, jedes Geräusch am Gang – das war jedes Mal ein Angstschock. Als das weggefallen ist, war das eine solche Erlösung, eine plötzliche Leichtigkeit, eine Lastbefreiung. Will ich denn darüber etwas erzählen? Nein: Weg damit!

Was hat dich dann doch bewogen, als Zeitzeugin vor Menschen zu sprechen?
I Die Spielberg Foundation hat über ein Inserat in einer Zeitung nach Menschen gesucht, die während der Hitler-Zeit versteckt waren. Sie sollten sich melden, um ihre Geschichte zu erzählen. Ich habe lange hin und her überlegt, ob ich das will. Aber es war so formuliert, dass ich das Gefühl hatte, dass ich das machen muss. Ich empfand es als Pflicht, mich dort zu melden. Es war für mich sicher, dass ich von allein nichts erzählen würde.

Aber das ist doch ein Widerspruch? Einerseits wolltest du diese Zeit so schnell wie möglich vergessen, und andererseits hast du dich verpflichtet gefühlt?
I Der Aufruf in der Zeitung hat mich persönlich so getroffen, dass ich erst dadurch diese Verpflichtung erkannt habe.

Wem gegenüber?
I Den Verstorbenen. Man hat doch meinen Großvater umgebracht. Das war für mich als Kind damals ein furchtbares Erlebnis, den Großvater zu verlieren. Er ist in Birkenau ermordet worden. Ich war dabei, als seine Urne am Friedhof begraben wurde. Heute weiß ich rückblickend, dass das für mich als Kind einschneidende Erlebnisse waren. Ich erkannte, dass ich darüber reden muss, damit andere wissen, wie das war. Alle nicht jüdischen Menschen, die ich nach 1945 kennengelernt habe, hatten doch keine Ahnung, was man uns alles angetan hatte. Mir war klar, dass niemand darüber Bescheid wissen wollte.

„Ich erkannte, dass ich darüber reden muss, damit andere wissen, wie das war. Alle nicht jüdischen Menschen, die ich nach 1945 kennengelernt habe, hatten doch keine Ahnung,
was man uns alles angetan hatte. Mir war klar, dass niemand darüber Bescheid wissen wollte.“

Und warum wolltest du das mit deinen Kindern nicht besprechen?
I Es war eine so traurige Zeit. Wer will schon über traurige Zeiten, gerade mit Kindern, reden? Mit Kindern will man lustig sein, will man Spaß machen. Positives tun. Ich hatte nur Negatives zu erzählen.

Und die Verpflichtung?
I Die Verpflichtung war gegenüber anderen, nicht gegenüber meinen Angehörigen. Solange die Kinder klein waren, kann man über Themen wie Tod und Verfolgung nicht sprechen. Ich habe es jedenfalls nicht zusammengebracht, meinen Kindern, solange sie klein waren, solche Geschichten zu erzählen. Wenn Kinder dann in die Schule kommen, bleibt wenig Zeit, über Privates zu sprechen. Ich glaube, ich könnte auch heute nicht über Privates mit meinen Kindern sprechen. Mir wäre auch nie eingefallen, mit meiner Mutter, mit der ich versteckt war, über die Hitlerzeit zu reden. Nie. Außerdem war ich überhaupt nicht im Stande, über diese Zeit unemotional zu sprechen. Das ist mir erst bei den Aufnahmen für die Spielberg Foundation klar geworden. Als die Interviewerin die erste Frage, „Wie war das?“, gestellt hat, habe ich schon zu weinen und schluchzen begonnen. Das Team der Spielberg Foundation kam einen Monat lang regelmäßig zu mir, und erst langsam begann ich über die Jahre des VerstecktSeins zu erzählen.

Wann hast du aufgehört zu weinen?
I Nie. Vielleicht muss man etwas Ähnliches erlebt haben, um diese Situation überhaupt nachvollziehen zu können. Was in dieser Zeit passiert ist und was man mir als Kind angetan hat, diese schreckliche Situation im Versteck – ich war wie zugeschnürt im Hals, wenn ich darüber sprechen sollte. Ich konnte darüber einfach nie reden, weil es mich emotional gleich zum Weinen gebracht hat. Es war ja so fürchterlich. Alles war fürchterlich. Nicht nur mein Leben, auch für die Bekannten, die man kannte. Ununterbrochen nur Negatives, nur Schreckliches, emotional für ein Kind kaum Fassbares, und das die ganze Zeit, all die Jahre. Auch die Bombenangriffe am Ende waren so angstbeladen, wie soll man das jemandem erzählen? Das kann man nicht erzählen.

Hast du je einen Zusammenhang zwischen deinem Trauma und dem Kinderwunsch hergestellt?
I Ja, und zwar insofern, als ich wusste, dass es meinen Kindern früher oder später von außen brutal eingehämmert werden wird, dass sie Juden sind. Das wusste ich. Aber dass die Folge des Jüdisch-Seins den Tod bedeuten kann, habe ich, und da war ich überzeugt, nicht mehr erwartet. Ich bin der Meinung, dass jeder jüdische Mensch wissen soll, dass ihn Anfeindungen bedrohen können. Es baut darauf auf, dass man als Jude nicht zu einer Mehrheitsgesellschaft gehört. Ich wusste doch, dass die Nazis mit Ende des Krieges nicht ausgestorben sind und auch Nazis geblieben sind.

Als du dann später als Zeitzeugin vor Schulen und vor Publikum gesprochen hast, warum hast du dann nicht mit deinen Kindern darüber gesprochen?
I Ich hatte kein Bedürfnis.

Zu fremden Menschen schon?
I Ja.

Warum?
I Das weiß ich nicht. Kann ich nicht beantworten.

Meine Generation fragt sich, warum haben unsere Eltern nicht mit uns über die Hitler-Zeit gesprochen.
I Wie stellst du dir das vor, wie das passieren sollte? Ich setze mich mit meinem Kind hin und sage, jetzt erzähle ich dir über die Hitler-Zeit? Das war nicht möglich. Man will Kindern nicht die vielen traurigen und tragischen Erlebnisse erzählen. Aus denen besteht aber die Hitler-Zeit. Aus Tragik. Man will doch Kinder vor dem Bösen bewahren. Ich hatte auch Angst, dass das Kind es mitempfinden könnte.

Natürlich empfindet das Kind mit. Es empfindet ja auch das Tabu. Kann man Kinder vor Tragik oder dem Bösen bewahren?
I Ich weiß heute besser, dass Eltern mit Kindern über gewisse Dinge nicht sprechen, oder wenn, dann falsch und unehrlich. Ich hätte von Anfang an mit meinen Kindern darüber reden müssen. Irgendwann geht es aber dann nicht mehr. Vielleicht wäre es noch möglich gewesen, als ich anfing, Zeitzeuginnen-Vorträge zu halten. Aber ich wollte darüber nicht reden, besonders nicht mit meinen Kindern. Das wäre mir nie eingefallen. Nie.

Hast du mit deinem Mann darüber gesprochen?
I Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich mit ihm mehr gesprochen hätte. Er wusste, dass ich versteckt war und dass mich Reinhold gerettet hat.

Glaubst du, dass du das Trauma verarbeitet hast?
I Das habe ich mich nie gefragt. Ich glaube nicht. Aber durch die Zeitzeugen-Gespräche habe ich vieles nach außen getragen.

Wie siehst du den Ukraine-Krieg?
I Das erste starke Gefühl kam, als es geheißen hat, es ist Krieg. Krieg ist etwas, das ich kenne. Krieg ist eine ganz fürchterliche Sache. Auf beiden Seiten weinen Frauen um ihre Männer, Mütter um ihre Söhne. Die Bomben, die auf die Häuser fallen und alles verbrennen und zerstören – es ist so viel Schreckliches mit dem Wort Krieg verbunden. Alles wird kaputt, was geschaffen worden ist … und dazu kommt die Angst. Ununterbrochen Angst. Wenn die Flugzeuge die Bomben fallen lassen, bedeutet das Angst. Wenn man auf die Straße geht, bedeutet das Angst. Immer Angst. Wie kann sich heute ein Mensch noch vorstellen, immer Angst zu haben? Ich selbst kann es mir schon fast nicht mehr vorstellen, aber ich weiß, dass sie im Krieg vorhanden ist. Deshalb war es für mich ein riesiger Schock, als es geheißen hat, in der Ukraine ist Krieg. Ich sehe die Vergangenheit direkt vor mir. Was hat das Wort „Einberufung“ in der Hitlerzeit für mich bedeutet? Männer bekommen eine Uniform angezogen und ein Gewehr in die Hand gedrückt und müssen dann einen anderen Menschen erschießen. Die Ukraine ist zwar relativ weit weg, aber ich fühle mit den Menschen mit.

Hast du eine Zukunftsvorstellung?
I Ad hoc nein. Es ist so schwer vorstellbar, wie ein Krieg ein Ende nehmen kann. Ich kenne nur eine Möglichkeit, und das ist die Vernichtung einer Seite und damit der Sieg der anderen Seite. Ich möchte, dass der Krieg aufhört, dass die Menschen begreifen, dass bereits genug Menschen gelitten haben … aber bis die Menschen das begreifen … Wenn ich meine Zeitzeugengeschichten vortrage, bedenken die Zuhörer oft nicht, was auch die Menschen auf der anderen Seite alles mitgemacht haben. Wie viele Mütter haben über den Tod ihrer Söhne geweint. Diese Mütter haben ihre Söhne aufgezogen, bis sie junge Erwachsene waren, dann wurden sie einberufen – und erschossen. Wie viel Liebe, wie viel Fürsorge haben diese Mütter gegeben? Es war sehr schön, in den über siebzig Jahren, die zwischen 1945 bis 2022 vergangen sind, in dieser „Zwischenkriegszeit“ zu leben. In einer gemütlichen und prosperierenden Zeit für fast alle Menschen in Europa. Auch für jene, die nicht so am Wohlstand teilhaben konnten. Selbst für die war es nie so schlimm wie im Krieg.

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