WINA: Das Wiener Publikum ist im Musikgeschmack als konservativ verschrien. Die Kritiken zu Ihrer satirischpolitischen Oper Animal Farm waren einhellig positiv. Hat Sie der Jubel an der Wiener Staatsoper überrascht?
Alexander Raskatov: Die Uraufführung im März 2023 in Amsterdam war ein großer Erfolg; natürlich wusste ich, dass Wien konservativer ist. Umso angenehmer überrascht war ich, dass das fantastische Orchester der Wiener Philharmoniker mich und meine Musik so offen und positiv aufgenommen hat. Das gab mir Hoffnung.
Wie sind Sie mit dem Regisseur dieser Erstaufführung in Wien, Damiano Michieletto, zusammenkommen?
I Ich habe für die Nederlandse Opera in Amsterdam 2010 meine erste satirische Oper, A Dog’s Heart (Hundeherz) nach einer Erzählung von Michail Bulgakow, vertont. Die dortige Operndirektorin, Sophie de Lint, die bis 2018 in Zürich Intendantin war, hat mir Orwells Animal Farm zum Lesen gegeben und als nächstes Kompositionssujet vorgeschlagen. Ich konnte Orwells Parabel erst zu diesem Zeitpunkt lesen, denn diese (siehe Kasten) bezog sich auf die Geschichte der Sowjetunion, auf die Diktatur Stalins, und war in der UdSSR bis 1988 verboten. Ich war begeistert, da hat mir Sophie gleich Damiano vorgestellt: Da wir uns auf Anhieb sehr gut verstanden haben, wurde die Zusammenarbeit beschlossen.
Wie lange hat es gedauert, bis Animal Farm fertig war?
I Zuerst holte ich mir eine Carte Blanche, um das vorhandene Libretto umzuarbeiten: Ich habe es dann nach meinen Vorstellungen verknappt, um die Erzählung möglichst plastisch zu gestalten. Das Schreiben der Partitur geht mir leicht von der Hand, aber mit der gesamten Orchestrierung etc. hat es rund drei Jahre gedauert.
„Wir leben in einer Zeit der vollkommenen Entmenschlichung.
Das ist ein tragischer Zustand: Wir haben unseren humanistischen Kompass verloren.“
Sie wurden unweit des Roten Platzes in Moskau am Tag von Stalins Begräbnis in eine russisch-jüdische Familie hineingeboren. Nach der Lektüre von Animal Farm sollen Sie gesagt haben: „Der Text reflektiert meine Geschichte und die meiner Familie.“ Was meinten Sie konkret?
I Da muss ich etwas ausholen: Meine Eltern waren beide Ärzte und arbeiteten als Chirurgen im Spital. Als Stalin 1952 mit einigen Gefolgsleuten eine erfundene „zionistische“ Verschwörung mit nachfolgenden Hinrichtungen und Verbannungen hauptsächlich gegen jüdische Mediziner, die „Mörder im weißen Kittel“, durchzog, waren auch meine Eltern in Lebensgefahr. Als Erwachsener fragte ich meine Mutter, warum sie zu diesem Zeitpunkt beschlossen hatten, ein Kind in die Welt zu setzen. Ihre Antwort lautete: „Wir dachten, entweder wir sterben oder überleben alle drei!“ Damit hatte sie schon einige Erfahrung: Als junge Chirurgin war sie im Zweiten Weltkrieg mit den russischen Soldaten von Stalingrad, Uschgorod und Mukatschewo bis nach Prag und Budapest gekommen; unter unmenschlichen Bedingungen musste sie schwierige Operationen und Amputation durchführen; dafür wurde sie dann hoch dekoriert …
Wie haben Ihre Eltern die „Säuberung“ durch Stalin überlebt?
I Sie entkamen nur durch Zufall, waren aber ständig Schikanen ausgesetzt: Meine Mutter musste als Oberärztin hochschwanger bis zum Tag der Geburt im Spital arbeiten, weil ihr Vorgesetzter drohte, sie nach einem Urlaub nicht mehr einzustellen. Mein Vater hat sogar seinen Beruf aufgegeben, er wurde Journalist und schrieb satirische Gedichte für das Moskauer Magazin Krokodil.
Den sarkastisch-grotesken Humor haben Sie sicher von ihm geerbt. Verbesserte sich nach Stalins Tod die Situation?
I Nicht wirklich, denn ab 1965 nahmen die Schwierigkeiten zu, weil jetzt der Antisemitismus von oben, durch die Machthaber instrumentalisiert wurde. Ich war z. B. in einer öffentlichen Schule der einzige jüdische Schüler. Der Klassenvorstand hatte ein Journal am Tisch, wo unsere „Nationalität“ aufgelistet war, da stand laufend: russisch, russisch, ukrainisch und bei mir jüdisch. Ich musste mich ständig gegen den ganz primitiven Antisemitismus wehren. Bei einer brutalen Rauferei habe ich mit 12 Jahren mein rechtes Auge verloren und war fast ein Jahr in Behandlung. Ich will kein Mitleid, das ist nur ein Faktum. Kurz darauf änderte mein Vater seinen Namen Moise Raskin in Michail Raskatov.
Haben Sie später auch noch Judenhass erlebt?
I Die ständige Angst war die Basis unseres Lebens. Die bange Frage, was „sie“ alles mit uns tun könnten, war immer gegenwärtig. Nach meiner Augenoperation hatte ich Glück und konnte mit 15 Jahren auf eine Musikschule gehen. Aber am Moskauer Konservatorium, wo ich anschließend studierte, war der Direktor berüchtigt für seine antijüdischen Tiraden. Dort lehrten und lernten viele berühmte jüdische Musiker, gerade deswegen wurden wir laufend abschätzig behandelt.
War Ihr Vater im Zweiten Weltkrieg eingezogen?
I Nein, da war er noch zu jung, aber seine Mutter, die noch David Ben-Gurion, den ersten Ministerpräsidenten Israels, aus ihrer Geburtsstadt Pinsk (Weißrussland) kannte, hatte derart viele Pogrome gegen Juden überlebt, dass sie endlich nach Kiew ging, wo mein Vater geboren wurde. Später zogen sie nach Moskau, das war ein Glück, denn sonst wären sie, wie viele unserer nächsten Verwandten, 1941 beim Massaker von Babyn Jar* erschossen worden. Ich bin überzeugt, dass wir alle Großmutters Traumata weiterleben.
Sie haben in Ihrem Werk The Last Freedom (Die letzte Freiheit) lateinische, hebräische und slawische Texte zu einer Art Requiem vereint. Haben Sie in Ihren Kompositionen je jüdische Elemente verarbeitet?
I Ich wollte ein jüdisches Requiem schreiben, daraus wurde nichts, aber ich komponierte ein kurzes Musikstück, Kaddisch (jüd. Totengebet) zur Erinnerung an meinen früh an Krebs verstorbenen Vater. Es ist ein Streichquartett mit Solostimme – und diese sang und singt meine Frau Elena Vassilieva, die jetzt an der Staatsoper in Animal Farm die Rolle des Raben „Blacky“ übernommen hat.
Jetzt könnten Sie doch etwas mit Ihrem spitzen jüdischen Humor komponieren?
I Ja, aber das müsste jemand beauftragen: Auf Spekulation kann man weder arbeiten noch überleben, denn auch künstlerisches Schaffen ist dem Markt unterworfen. Als ich 1994 eine Einladung der Stiftungen Arno Schmidt und später M. P. Belaieff zum Aufenthalt in Deutschland bekam, hielt ich mich mit Stipendien über Wasser. Nur mit Hilfe der jüdischen Gemeinde Hannover konnte ich als Kontingentflüchtling in Deutschland bleiben. Und das wollte ich, denn alle Hoffnungen, die wir ab 1985 in Michail Gorbatschow und die „Perestroika“ (Umbau) gesetzt hatten, haben sich für jüdische Menschen nicht erfüllt: Innenpolitisch war er nicht ehrlich, es gab – trotz der naiven Bewunderung im Westen – eine neue Welle des Antisemitismus. Die offizielle Prawda (Wahrheit) schrieb damals: „Die Juden müssen so bekämpft werden wie die Partisanen in Afghanistan!“ Mein enger Freund, der polnische Komponist Mieczysław Weinberg, sagte zu mir: Sascha, sei nicht naiv, alles kann ein Da Capo haben …“
Von den Interpreten Ihrer Kompositionen verlangen sie stimmliche Akrobatik, so auch aktuell an der Wiener Staatsoper. Dennoch bleiben Ihnen diese treu und begleiten Sie bei all Ihren bisherigen Opernabenteuern. Wie machen Sie das?
I Ich habe nie risikoreiche Partien um des Risikos wegen geschrieben. Ich will es den Sängerinnen, Künstlern sicher nicht schwer machen, den Profis gelingt es mit der richtigen Technik sehr wohl. Meine Frau Elena ist eine klassische Sängerin und hat ihren Bühnencharakter stimmlich großartig geschafft.
In Animal Farm geht es um Gewalt und Machtmissbrauch, daher ist auch Ihr Libretto – leider – aktueller denn je. Kann man heute überhaupt noch „unpolitisches“ Theater machen, „unpolitische“ Opern schreiben?
I Wir leben in einer Zeit der vollkommenen Entmenschlichung. Das ist ein tragischer Zustand: Wir haben unseren humanistischen Kompass verloren. Daher möchte ich meine bisherigen Themen, wie bei Michail Bulgakow Hundeherz oder Heiner Müllers Germania abschließen und versuchen, über menschliche Werte zu schreiben, um diese zurückzubringen. Klingt etwas naiv, oder? Aber ich bin ja auch noch immer auf der Suche nach meiner Identität: Ich bin Jude, habe aber mit 40 Jahren mit dem Abschied aus Moskau meine kulturellen Wurzeln, die Natur Russlands, die ich liebte, verloren.
Humor als Überlebensdroge
Alexander Raskatov, der 1978 seine Studien am Moskauer Konservatorium beendete, trat der Vereinigung zeitgenössischer Musik bei, weil er sich besonders für die vokale wie instrumentale Kammermusik interessierte. Sein Talent zeigt sich vor allem in seiner lebhaften Phantasie und Emotionalität, die er mit sorgfältig ausgearbeiteten Strukturen kombiniert. Alfred Schnittke nannte ihn „einen der interessantesten Komponisten seiner Generation“. Im Jahr 1990 war er „Composer in Residence“ an der Stetson University in Florida und 1998 in Lockenhaus. Er erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, darunter eines von der französisch-amerikanischen Stiftung La Napoule; 1997 erhielt er eine Einladung zur Meisterklasse der Cité de la musique in Paris sowie 1998 den Kompositionspreis der Salzburger Osterfestspiele. Raskatov erhielt Kompositionsaufträge u. a. von Gidon Kremer, dem Hilliard und dem Schönberg Ensemble. Bisher umfasst sein kompositorisches Werk vier Opern, 12 Stücke für Orchester, 15 für Kammermusik sowie elf Vokalwerke. Die im Auftrag der Koproduktionspartner Nationale Opera & Ballet Amsterdam, Wiener Staatsoper, Teatro Massimo Palermo und Finnish National Opera komponierte Oper Animal Farm nach George Orwell liest Raskatov als Nachgeborener: Er verbindet Orwells Außenansicht des Sowjetimperiums mit seiner Innensicht des Systems, indem er Originalzitate von Stalin, Trotzki und des Geheimdienstchefs Beria einarbeitet.
* In der Schlucht Babyn Jar auf dem heutigen Gebiet der ukrainischen Hauptstadt Kiew erschossen deutsche Nazis und ihre Helfer am 29. und 30. September 1941 über 33.000 Jüdinnen und Juden. Die Massenerschießungen waren das größte Einzelmassaker im Zweiten Weltkrieg auf europäischem Boden.