Das chinesische Erbe des Wiener Fädenziehers

Rund 20.000 jüdische Flüchtlinge fanden während des Zweiten Weltkriegs in Shanghai eine vorübergehende Bleibe. Spuren dieser Menschen sind in der chinesischen Metropole kaum zu finden. Und doch gibt es sie. Manchmal kommen sie durch Zufall ans Licht.

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Der Schwan, nach einem Märchen von Hans Christian Andersen, inszeniert von Yu Zheguang. © Jiao Da

Mai 1942, Shanghai Bubbling Well Road 722. Im Theatersaal des Jewish Club hebt sich der Vorhang der Shanghaier Puppenspiele. Gezeigt wird eine Bearbeitung des Zaubermärchens Der Bauer als Millionär von Ferdinand Raimund. Die Journalistin Gertrude Herzberg, die der Vorstellung in Begleitung des elfjährigen Peter beiwohnt, schreibt später im Jewish Chronicle: „Er war mit den Darbietungen, mit den großen und kleinen Aufregungen des Stücks, restlos zufrieden, und seine blauen Augen strahlten vor Freude über das Spiel der Puppen, über die glückliche Wendung zum Guten.“ Auch ein paar Chinesen sitzen im Publikum, unter ihnen der Kunstlehrer Yu Zheguang. Direktor dieses kleinen Theaters ist der jüdische Wiener Filmschaffende Arthur Gottlein. Er ist im Juni 1941 mit seiner Frau aus Manila (wohin das Paar mit Hilfe eines Filmvertrages vor den Nationalsozialisten fliehen konnte) nach Shanghai gekommen. Als am 7. Dezember mit dem japanischen Überfall auf den US-Stützpunkt Pearl Harbor der Pazifikkrieg beginnt, kann das Ehepaar Gottlein nicht mehr auf die Philippinen zurück. Doch Arthur Gottlein – bereits während der Stumm- und Tonfilmzeit in Österreich und Deutschland als kreativer Kopf dafür bekannt, für jedes Problem eine Lösung zu finden – gründet kurzerhand ein Marionettentheater und sichert damit seiner Frau, sich selbst und seinen Mitarbeiter:innen das Überleben.

Enkelsohn Jiao Do sah seinem Großvater Yu Zheguang gerne beim Entwerfen und Bauen der Handpuppen zu. © Jiao Da

Als ich im Herbst des Vorjahres mein Buch Der Fädenzieher über Arthur Gottlein vorstellte, schien es so, als sei die Geschichte mit der Rückkehr des Paares nach Österreich beendet. Denn die Flüchtlinge, denen die chinesische Stadt Shanghai vorübergehend eine – zumindest weitgehend – sichere Zuflucht bot, reisten nach Ende des Zweiten Weltkrieges rasch weiter. Ein paar alte Straßenzüge sind zwar heute noch so, wie sie damals waren, und es gibt ein Exilmuseum. Die Zeugnisse Wiener Exilkultur – die Kaffeehäuser, Geschäfte und auch Gottleins Puppenbühne – sind aber verschwunden. Da mich Marionettentheater interessiert (ich habe selbst im Marionettentheater Schloss Schönbrunn gespielt), postete ich in einer einschlägigen FacebookGruppe Fotos von Gottleins Shanghaier Puppentheater und erhielt eine spannende Rückmeldung. Dmitri Carter, ein Puppenspieler aus Seattle mit Kontakten nach China, schrieb mir, sein Freund Jiao Da sei der Enkel des oben erwähnten Yu Zheguang, der Gottleins Marionettenspiel in den 1940er-Jahren live miterlebte und schließlich ein eigenes Theater nach Gottleins Vorbild etablierte. Meine Neugier war geweckt.

Die Zeugnisse Wiener Exilkultur in – die Kaffeehäuser,
Geschäfte und auch Gottleins Puppenbühne –
sind aus Shanghai verschwunden.

 

Kunststudent, Kunstlehrer, Puppenspieler. Geboren wurde Yu Zheguang 1906 in der Stadt Wuxi, rund 150 Kilometer nordwestlich der Metropole Shanghai. Bereits als Kind war er von fahrenden Schaustellern fasziniert, die sogenannte „Holzkopfshow“ – eine Art Handpuppentheater – hinterließ einen tiefen Eindruck, erzählte er viele Jahre später in einem Zeitungsartikel. Es sind einfache Geschichten, die auf den Märkten gezeigt wurden: ein menschenfressender Tiger, ein altes keifendes Paar. Mit knapp 20 Jahren begann Yu Zheguang ein Studium an der Kunstakademie Shanghai, beschäftigte sich mit traditioneller chinesischer Malerei, unterrichtete bald als Kunstlehrer an verschiedenen Schulen. Und er interessierte sich für den Bau von Puppenbühnen ebenso wie für die Spieltechnik verschiedener Figuren. China hat eine lange Puppentheatertradition, Marionettenspiel gilt sogar als älteste Variante dieser Kunstform. Hinweise darauf gibt es bereits aus der Tang-Dynastie um das Jahr 760. Die Figuren wurden zunächst vor allem bei Trauerfeierlichkeiten eingesetzt, erst später dann bei festlichen Anlässen und zur Belustigung auf Jahrmärkten. Sie waren überaus ausgereift und kunstvoll geschnitzt, manche hatten bis zu 50 Führungsfäden, das ist weit mehr als bei vergleichbaren europäischen Marionetten. Und im Gegensatz zum in unseren Breiten verwendeten Spielkreuz wurde die chinesische Marionette mit einem Holzrechteck bewegt.

© Filmarchiv Austria; Jiao Da

Yu Zheguang erkannte jedenfalls rasch den pä-dagogischen Wert dieser Art von Theater. Nach seinem Besuch von Gottleins Zaubermärchen im Frühjahr 1942, dessen Lieder – auf Deutsch gesungen und auf Englisch übersetzt – jedoch vom chinesischen Publikum kaum verstanden wurden, gründete Yu Zheguang kurzerhand einen Marionetten-Amateur-Club. Noch im gleichen Jahr wurde sein erstes Stück Der Urmensch im Jewish Club aufgeführt, in mehreren Szenen war die Entstehung der Menschheit zu sehen, vom Vulkanausbruch über den Dinosaurierkampf bis zu einer romantischen Szene im Mondlicht. Kurz danach wurde Der Schwan nach einem Märchen von Hans Christian Andersen inszeniert. Ob und inwieweit sich Yu Zheguang bei der Machart der Figuren, der Befestigung der Fäden und der Dramaturgie etwas von Arthur Gottleins Truppe abgeschaut hat? Schwer zu sagen. Die Figuren waren jedenfalls knapp einen halben Meter hoch, sechs Fäden sorgten für die Beweglichkeit. Auch die Guckkastenbühne war jener Gottleins ähnlich, rund zwei Meter breit und eineinhalb Meter tief – die Puppenspieler waren hinter einem dunklen Vorhang versteckt und für das Publikum nicht zu sehen. Bis etwa 1950 entstanden noch zahlreiche Marionettenstücke. Dann wandte sich Yu Zheguang dem Marionettenfilm für Kinder zu, als Direktor des Shanghai Art Film Studios war er für Drehbuch und Regie von mehr als 20 Puppenfilmen verantwortlich. Später verquickte er das Marionettenspiel mit dem klassischen chinesischen Schattentheater und entwickelte eine neue Form des animierten Puppenfilmes, indem er aus Papier gefaltete Tiere zum Leben erweckte. Seine Origami-Kinderfilme aus den 1960er-Jahren, in denen Enten die Hauptrollen spielten, sind heute Klassiker und werden bei Retrospektiven gezeigt.

China hat eine lange Puppentheatertradition,
Marionettenspiel gilt sogar als

älteste Variante dieser Kunstform.

 

Von der Leidenschaft erfasst. Die Kommunikation mit China ist heutzutage nicht ganz einfach, Facebook – so wie wir es kennen – ist dort nicht erlaubt. Und so vergingen mehrere Wochen, bis ich all diese Informationen beisammen hatte. Die persönlichen Mails zwischen Jioa Da (Jahrgang 1953) und mir werden stets mit Google-Translate übersetzt, und auch wenn manche Passagen mit viel Einfallsreichtum interpretiert werden müssen, ist der Ton überaus herzlich. Für den Enkelsohn des Puppentheater- und Puppenfilmdirektors Yu Zheguang ist es eine große Freude, dass in Österreich über seinen Großvater berichtet wird. Bei einem Vortrag im Shanghai Minsheng Art Museum im August 2019 erzählte er, er habe seinem Großvater als Kind gerne beim Entwerfen und Bauen der fantasievollen Figuren und Bühnendekorationen zugesehen. Sein Großvater habe ihn immer an Geppetto erinnert, den alten Tischler, der die Holzpuppe Pinocchio schnitzte. Die Leidenschaft seines Großvaters habe ihn schließlich selbst erfasst. Jiao Da ist Mitglied verschiedener PuppentheaterVereinigungen einschließlich der chinesischen Teilorganisation der UNIMA (Union Internationale de la Marionette). Mehrfach schickte mir Jiao Da chinesische Zeitungsausschnitte, diverse biografische Texte und Fotografien. Auch hier leisten moderne Übersetzungstools gute Arbeit und sorgen ab und zu für ein überraschtes Schmunzeln. In einem Artikel aus dem Jahr 1942 zum Beispiel wird von einem Juden erzählt, der ein Puppentheater leitete. Dabei konnte es sich nur um Arthur Gottlein handeln. Auf Chinesisch wird er „Gao Tianlun“ genannt, vielleicht eine lautmalerische Übertragung des Namens.

Yu Zheguang bei der Herstellung eines Animationsfilms mit Origamifiguren, um 1960. © Jiao Da

Das Ehepaar Gottlein verließ Shanghai im Frühjahr 1949 und kehrte nach Österreich zurück. Auch hier blieb Arthur Gottlein seiner Liebe zum Figurentheater treu: Im Dezember 1949 war er Produktionsleiter bei der Aufzeichnung einer Vorstellung des Teschner-Figurentheaters, 1957 führte er Regie beim Film Marionetten sprechen zu euch, einem Stück aus dem Marionettentheater Ruprecht in WienHernals. Dann beendete Arthur Gottlein seine aktive Filmkarriere, wurde in der Gewerkschaft tätig und organisierte Ausstellungen zum österreichischen Film. Ob er wusste, dass sein kleines Shanghaier Marionettentheater chinesische Produktionen inspiriert hatte? Eher unwahrscheinlich. Und doch hat er – im Gegensatz zu Tausenden anderen jüdischen Flüchtlingen – in Form von geschnitzten, von Menschenhand bewegten, an Fäden tanzenden Figuren im fernen Shanghai seine Spuren hinterlassen.

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