Das Ungeheuer

Der Politikwissenschaftler Alfons Söllner und der Historiker Michael Wildt haben in der Europäischen Verlagsanstalt die in der Zeit bahnbrechende Arbeit Behemoth von Franz Neumann neu herausgebracht. Darin schilderte dieser die Struktur und die Praxis des Nationalsozialismus – 1942.

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Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944. Neu herausgegeben von Alfons Söllner und Michael Wildt. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2018, 757 S., € 39,10

Im Rückblick ist es immer noch eine drängende Frage: Wie viel wusste man während der NS-Zeit über die systematische Vertreibung und Ermordung von Jüdinnen und Juden? Es ist deshalb eine weiterhin drängende Frage, da sie auch Auskunft darüber gibt, wie Menschen sich möglicherweise wieder verhalten würden. Was wissen alle, was wissen einige, was könnte man wissen, wenn man hinschaut, was wird kollektiv zur Seite geschoben?
Das Nichtwissen ist hier zu Lande bis heute Stehsatz. Ja, was die Nazis mit den armen Juden machten, war schrecklich. Aber die Menschen wussten ja nichts davon. Meine Großeltern, meine Urgroßeltern hatten keine Ahnung. Die Juden waren weg – aber vielleicht waren sie wirklich alle gemeinsam an einem anderen Ort? Wie oft hat das jeder von uns schon in verschiedenen Varianten gehört? Nein, es gibt keine Kollektivschuld, und schon gar nicht gibt es eine Erbschuld. Dennoch ist es wichtig, aus dem, was passiert ist und wie es passiert ist, zu lernen, was in der Gegenwart und Zukunft anders gemacht werden muss.
Franz Neumann, ein deutscher Jurist und Politologe, der sich vor den Nationalsozialisten in die USA in Sicherheit bringen konnte, veröffentlichte 1942 sein epochales Werk Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus. Er behandelte die Zeit ab 1933 – und brachte nur zwei Jahre später eine mit einem Anhang versehene Fassung heraus, die zu den einzelnen Kapiteln jeweils seinen aktualisierten Wissensstand dokumentierte. Damit wurde in diesem Buch der Nationalsozialismus von 1933 bis 1944 eingehend betrachtet.

»Die auf Befehl der Nazis von immer breiteren Schichten des deutschen Volkes praktizierte Verfolgung der Juden verwickelt diese Schichten in eine kollektive Schuld.«
Franz Neumann

Erst 1977 erschien das Werk in deutscher Übersetzung. Viele Jahre vergriffen, brachte die Europäische Verlagsanstalt nun eine Neuausgabe heraus, erweitert um Überlegungen Söllners zu Neumann als „political scholar“ und einem Beitrag Wildts zur Bedeutung von Neumanns Arbeit für die NS-Forschung. Vor allem Raul Hilberg baute auf dem auf, was er bei Neumann gelesen hatte, mehrmals, wie er später schilderte.

„In einem einzigen verblüffenden Aufriss legte er dar, wie sich die gesamte deutsche Gesellschaft unter dem Nationalsozialismus in vier festgefügte, zentralistisch organisierte Blöcke mit Führerprinzip und je eigener Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit untergliederte. Die vier Hierarchien – Staatsapparat, Armee, Industrie und Partei – konnten unabhängig voneinander arbeiten, ohne dass Gesetze ihre Kreise störten. […] Hier fand ich also ein Nazideutschland, das im Prinzip anarchisch war, ein organisiertes Chaos, jedoch mit der Freiheit, in völlig unerforschte Handlungsräume vorzustoßen“, so Hilberg.

Grundlegende Analyse. Neumanns Werk bildete aber auch die Grundlage der Konzeption der Anklage der Nürnberger Prozesse von amerikanischer Seite. Für Wildt ist das „vielleicht neben Hilberg die wichtigste Rezeption von Neumanns Analysen überhaupt“. Und: „Für die weit verzweigte Szene von Geheimdiensten, US-amerikanischen think tanks und der Roosevelt-Administration lieferte Neumanns Buch die grundlegende Analyse des feindlichen NS-Deutschlands.“ Interessanterweise bezog sich Gerald Reitlingers Studie The Final Solution. The Attempt to Exterminate the Jews of Europe 1939–1945, die 1953 auf Englisch und 1956 auf Deutsch erschien und prägend für die Aufarbeitung der Nachkriegszeit war, zwar auf die Dokumente, die bei den Nürnberger Prozesses zusammengetragen worden waren, ließ die Arbeit Neumanns aber außen vor.
Die Vernichtung der Jüdinnen und Juden steht dann auch, wenn man sich durch die hunderten Seiten von Behemoth – im Judentum als Landungeheuer, das das Land beherrscht bekannt – arbeitet, nicht im Mittelpunkt der Arbeit Neumanns. Er konzentrierte sich vor allem auf die Struktur des politischen Systems Nationalsozialismus und beleuchtete, wie das Wirtschaftssystem und die Gesellschaft funktionierten. Er setzte sich aber sowohl in der Ausgabe von 1942 wie auch in den Ergänzungen von 1944 mit dem Thema Antisemitismus auseinander. Und hier ist, wenn auch nicht breit ausgewalzt und nicht mit Details sowie Zahlen untermauert, doch schon alles zu lesen.
„Der Nationalsozialismus ist die erste antisemitische Bewegung, die die völlige Ausrottung der Juden verficht“, steht bereits in der ersten Fassung von 1942. Genau geschildert wird hier die „Arisierung“ des jüdischen Vermögens, das Ausschalten (so nennt es der Autor) der Juden aus dem Staatsdienst und dem Wirtschaftsleben, die Vertreibung als Ziel. Heinrich Himmler bezeichnet Neumann als „Rassenfanatiker“, er thematisiert die Nürnberger Gesetze, darunter jenes „zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“.
In den Ergänzungen von 1944 schrieb Neumann, „die antijüdische Gesetzgebung ist nun abgeschlossen.“ Juden seien außerhalb des Gesetzes und der Gesellschaft gestellt worden. Es fällt der Begriff „Konzentrationslager“, und der Autor schreibt auch, was dort passiert: „Nicht alleine Juden fielen unter dem Beil des Henkers, sondern ebenso ungezählte andere Menschen vieler Rassen, Nationalitäten, Überzeugungen und Religionen. Der Antisemitismus ist daher die Speerspitze des Terrors. Die Juden werden wie Versuchstiere benutzt, um die Methoden der Repression zu testen.“ Die Art der Tötung scheint – folgt man diesen Sätzen – Neumann noch nicht gänzlich klar gewesen zu sein. Dass Juden ermordet wurden, ist aber deutlich herauszulesen. So schreibt er von einer „physischen Ausrottung der Juden“.
Und Neumann kommt bereits 1944 zu einem Schluss, der – siehe eingangs – bis heute nachwirkt. „Die auf Befehl der Nazis von immer breiteren Schichten des deutschen Volkes praktizierte Verfolgung der Juden verwickelt diese Schichten in eine kollektive Schuld. Die Teilnahme an einem so ungeheuren Verbrechen wie der Ausrottung der Ostjuden macht die deutsche Wehrmacht, das deutsche Beamtentum und breite Massen zu Mittätern und Helfern dieses Verbrechens und macht es ihnen daher unmöglich, das Naziboot zu verlassen.“
So ist auch das lange Schweigen in der Gesellschaft zu verstehen, obwohl doch schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Nürnberger Prozesse so viel bekannt war, so viele grausamen Fakten auf dem Tisch lagen. Doch wer keine Mitschuld haben will, schiebt das Thema zur Seite. Auch hier haben die Nazis durch die Art, wie sie den Ausschluss der Juden aus der Gesellschaft vorangetrieben und in Gesetze gegossen haben, zynisch gesagt, ganze Arbeit geleistet. Und so verwundert es auch nicht, dass es keine Willkommens- und schon gar keine Rückkolhaltung nach dem Aus des Naziterrors gab. Je mehr Helfer und Mittäter und, ja, auch Zuschauer es gibt, desto geschlossener ist die Haltung.
Behemoth ist vor allem mit Hinblick auf das Datum der Erstveröffentlichung erschütternder Lesestoff. Denn wie für Neumann so vieles offen und klar und durchschaubar dagelegen hat, so viel müssen auch viele andere gewusst haben. Doch der Widerstand war zu klein, fiel zu gering aus.

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