Den Alltag in den Extremen leben und überleben

Die große Angst, vergessen zu werden, weil man sich aus der Ferne an das Leid der „anderen“ gewöhnt hat, beherrscht die Menschen in der Ukraine. Trotzdem konnten viele die jüdischen Feiertage traditionell begehen – wenn auch nur mit Hilfe in- und ausländischer Organisationen.

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Rosch ha-Schana zwischen Krieg, Hoffnung und gemeinsamem Gebet: die Choral- Synagoge (Beth Menachem) in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine. © wikipedia/Adam Jones from Kelowna, BC, Canada

Die neue Zeitrechnung beginnt am 24. Februar 2022, dem Tag, als Russland glaubte, endlich das gesamte Gebiet seines „Bruder“- und Nachbarlandes mit einem kurzen, brutalen Militärschlag erobern und die Bevölkerung in die Knie zwingen zu können. Zwei Mal wurde seither das jüdische Frühlings- und Befreiungsfest Pessach und zwei Mal das jüdische Neue Jahr bei Herbstbeginn, Rosch ha-Schana, in mehreren ukrainischen Städten begangen: Bisher nur einmal, im Dezember 2022, wurde das Lichterfest Chanukka gefeiert. Doch aller Voraussicht nach wird die erste Kerze oder ein Öllämpchen am Abend des 7. Dezembers 2023, am 24. Kislev 5784, noch im Krieg entzündet werden und auf das zweite Chanukka-Fest einstimmen.

Und wie geht es den jüdischen Menschen in der Ukraine heute? Natürlich genauso wie allen anderen Bürgern und Bewohnerinnen dieses großen, gepeinigten Landes: Sie leben als Zivilisten in Angst und Panik, im Laufschritt und in der Erschöpfung, mit einem Funken Hoffnung und schwindender Zuversicht. Sie mussten lernen, mit Entbehrungen zu leben, die für uns hier (noch) unvorstellbar sind – auch wenn sich manchmal die Bilder oberflächlich zu gleichen scheinen: Der Wiener Stadttempel ist auch heuer am ersten Tag von Rosch ha-Schana gut besucht, ebenso wie der größte Tempel in der Ukraine, die Choral-Synagoge* (Beth Menachem) in der Stadt Charkiw** im Nordosten des Landes, in unmittelbarer Frontnähe. Vielleicht sieht man in diesem G-tteshaus weniger Männer mit dem Tallit (Gebetschal) um die Schulter, wahrscheinlich ist auch die Stimmung etwas weniger entspannt – und insgesamt leiser als in Wien, weil die Charkiwer Juden in dieser permanenten Gefahrenzone von bedrückenden Gedanken beherrscht sind.

Aber hinter oder besser gesagt „unter“ dieser friedlich und festlich scheinenden Fassade befindet sich das grundlegend andere in Charkiw: Im tiefen, dickwandigen Keller wurden die Vorratslager ausgeräumt und mit Kinderbetten und Matratzen ausgelegt. Eine provisorische Küche wurde installiert, die täglich hunderte Mahlzeiten bereitstellte. „Von den rund 150 Menschen, die hier gleich nach der Invasion Zuflucht fanden, haben uns die Letzten erst im April 2023 verlassen, als sie in andere Unterkünfte ziehen konnten“, wird Chabad-Rabbiner Moshe Moskovitz in einem Interview zitiert. Als Charkiw von russischen Truppen belagert wurde, gaben der 59-jährige Chabad-Gesandte (Shaliach) Moshe und seine Frau Miriam (54) eine klare Botschaft aus: „Öffnet die Tore für alle, die Schutz benötigen, Juden wie Nicht-Juden gleichermaßen.“

„Es ist unglaublich, wie hungrig die Menschen nach Wissen und Bildung auch in diesen fordernden Tagen sind.“
Edward Serotta

Sofia Huz ist 90 Jahre alt, sie verbrachte mehrere Monate im Schutzraum der Synagoge, nachdem ihr mehrstöckiges Wohnhaus im Außenbezirk von Saltivka in eine schwarz rauchende Ruine gebombt wurde. „Sie haben uns Essen und Kleider gegeben“, erzählt sie. Freiwillige haben sie mit ihrer 60-jährigen Tochter und 18-jährigen Enkelin in die Synagoge gerettet, nachdem sie zwei Wochen zusammengedrängt, verängstigt und frierend im Keller eines Nachbarwohnhauses ausgeharrt hatten.

„Unser Feind möchte, dass wir uns verstecken und im Dunkeln weinen“, so der aus Venezuela stammende Rabbi Moskovitz. „Wir lassen uns nicht einschüchtern“, fügt die australische Ehefrau hinzu: „Wir haben über Jahrhunderte unsere Festtage in Not und Kriegszeiten gefeiert, das gibt uns viel Kraft.“ Sofia Huz war acht Jahre alt, als das damals sowjetische Charkiw von den deutschen Nazis besetzt wurde. Ihr kleiner Bruder war einer der etwa 600.000 ukrainischen Juden, der lebend in ein Massengrab geschossen wurde. „Obwohl ich noch so klein war, erinnere mich sehr gut daran, wie beängstigend die Explosionen und das viele Blut waren. Auch daran, wie sich meine Mutter um uns alle gesorgt hat – genau so wie ich jetzt um meine Enkelin fürchte.“

Das Leben und Überleben im kriegsgebeutelten Alltag wiederholt sich in Charkiw wie seit dem ersten Angriff: Am Freitagabend, 15. September 2023, mit Eingang des Schabbat und dem Beginn von Rosh ha-Schana, heulten die Sirenen, nur wenige Stunden nach dem Abendgebet und mitten im Essen. Am Morgen des ersten Feiertags erschütterten Salven von Marschflugkörpern die Stadt und verletzten fünf Menschen. Und trotzdem bleibt Charkiw eine der lebendigsten jüdischen Gemeinden in der Ukraine: Vor dem russischen Überfall lebten hier um die 25.000 Seelen, zeitweise halbierte sich die Zahl, als viele flohen, andere kehrten jedoch wieder zurück.

Hilfe von außen, Solidarität innen Wie in den meisten ehemaligen sowjetischen Republiken hatten sich die Juden von der Religion entfernt, damit ging auch die Erinnerung an lieb gewordene Traditionen verloren. Oft ging es soweit, dass die jüdische Herkunft in der Familie aus vielen Gründen überhaupt verschwiegen wurde. Dieser jüngste Krieg und die Todesangst veränderten auch da einiges, wie Moskovitz einer US-Hilfsorganisation berichtete: „Ein Charkiwer, der sich nach der Invasion zum Militärdienst gemeldet hatte, vertraute seinem Sohn ein Geheimnis an, bevor er an die Front geschickt wurde. ‚Ich bin Jude, falls ich getötet werde, verschaffe mir ein jüdisches Begräbnis.‘ Vor zwei Monaten kam der Sohn zu mir und sagte, dass die Identität seines Vaters, dessen Überreste erst nach mehrmonatiger Suche gefunden wurden, jetzt durch DNA-Proben bestätigt werden konnte. Daraufhin organisierten wir einen Minjan, begruben ihn neben seiner jüdischen Großmutter und erfüllten so seinen letzten Wunsch.“

Diesen Kriegsalltag in all seinen Schattierungen kennt der Amerikaner Edward Serotta besonders gut, erst vor Kurzem bereiste er neun ukrainische Städte in nur 16 Tagen. Edward Serotta ist Journalist, Fotograf und Filmemacher, der sich auf das jüdische Leben in Mittel- und Osteuropa spezialisiert hat. In Savannah, Georgia (USA), geboren, arbeitet Serotta seit 1985 in Ost- und Mitteleuropa und lebt seit 1988 in Österreich. „Unsere erste Erkundungsmission in die Ukraine machten wir bereits im Jahr 2015, und ab 2016 ist Centropa*** mit unseren Ausbildungsseminaren für Geschichtslehrer aktiv“, erzählt der Gründer von Centropa, einem jüdischen Geschichtsinstitut mit Büros in Hamburg, Wien, Budapest und Washington, D.C. Heute unterrichten allein in der Ukraine 150 von Centropa ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer in öffentlichen Schulen Holocaust Studies. Inzwischen ist die Ukraine zum größten Projekt von Centropa geworden.

„In der Schwarzmeer-Stadt Odessa im Süden des Landes erlebt man genauso wie in Charkiw diesen ständigen Zwiespalt zwischen dem Meistern des täglichen Lebens im Kriegschaos und dem Wunsch, ein wenig ‚alte‘ Normalität in das Tagesgeschehen zu bringen“, erzählt Serotta. „Odessa hat zwei jüdische Gemeindezentren, eines davon ist sehr schick. Als ich hinein kam, sah ich rund 80 Pensionisten, die dort Hora getanzt und laut gesungen haben“, lacht der umtriebige Reporter, der laufend spannende Beiträge für das jüdische Online- Portal TABLET liefert. „Es ist unglaublich, wie hungrig die Menschen nach Wissen und Bildung auch in diesen fordernden Tagen sind. In der AKW-Stadt Saporischschja gibt es z. B. einen sehr aktiven jüdischen Geschichtsklub, aber nur online. Ich habe sechs Jugendliche persönlich in einer öffentlichen Bibliothek getroffen“, berichtet Serotta. Er fragte sie, warum sie daran teilnehmen, und ein 17-Jähriger antwortete ihm: „Wenn du deine Vergangenheit nicht kennst, hast du keine Zukunft.“ Serotta: „Das klingt nach einem schönen Klischee, aber nicht, wenn es ein 17-jähriger jüdischer Bursch sagt, der im Keller versteckt ist.“

Zu den „neuen Armen“ zählen die Jüngeren. Einige internationale jüdische Organisationen, darunter federführend das Joint Distribution Committee (JDC), aber auch lokale Hilfsinitiativen versorgen die jüdische Bevölkerung nicht nur zu den Hohen Feiertagen, sondern das ganze Jahr über. Landesweit erhalten mehr als 50.000 Menschen laufend Essen, Medizin und psychologische Betreuung, allein von der Joint. Inna Vdoivichenko, JDC-Büroleiterin in Odessa, berichtete jüngst über die neuesten dramatischen Entwicklungen: „Vor dem Krieg haben wir vor allem den Älteren und Behinderten geholfen, aber jetzt erreicht die ‚neue Armut‘ bereits die 40- bis 60-Jährigen.“ Die Ursachen sieht Vdoivichenko vor allem in den schwindenden Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt und der explodierenden Inflation. Diese entmutigende Tatsache bestätigt auch Serotta, der in Kiew unter den jüdischen Dienstleistern genau das Gleiche hören musste: Die Armut hat bereits große Teile der Mittelschicht erwischt.

Das moralische Engagement und die finanzielle Unterstützung durch die westliche Bevölkerung hat merklich nachgelassen: Man ist beim Zuhören und Zusehen müde geworden. Die Gefahr für die Menschen in der Ukraine besteht auch darin, dass der Status quo irgendwie hingenommen wird, das tägliche Leid aus der Ferne zur Gewohnheit wird. Die Berichte über diverse Waffengattungen werden, weil unverständlich, nur mehr ignoriert. Die Gewöhnung an diesen Krieg ist die größte Gefahr für die Ukraine – und genau damit spekuliert Putin.

Über die Ängste der jüdischen Gemeinden schreibt der Economist Folgendes: „Obwohl die Juden in der Ukraine nie weniger Antisemitismus erfahren haben als jetzt, bleibt ihnen eine tiefverwurzelte Angst: Sie fürchten, dass Präsident Selenskys Erbe zu einer Zündschnur für aufflammenden Antisemitismus werden könnte, sollten die Juden für eine ukrainische Niederlage verantwortlich gemacht werden. Somit haben sie noch einen weiteren Grund, zu den Feiertagen für den Sieg zu beten.“


* Die Synagoge, ein eklektizistischer Bau des Architekten und Malers Valentin Feldman, wurde 1913 eingeweiht. Nach der Oktoberrevolution wurde sie 1923 als Bethaus geschlossen, aber als jüdischer Arbeiterklub, Kino und Sportklub genutzt. Während der deutschen Besatzung und der schweren Gefechte um Charkiw im Zweiten Weltkrieg blieb sie unbeschadet. Nach 1991 wurde sie an jüdische Organisationen zurückgegeben.
** Charkiw ist nach Kiew mit rund 1,5 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Mit 42 Universitäten und Hochschulen ist sie nach Kiew das bedeutendste Wissenschafts- und Bildungszentrum des Landes.
*** Centropa wurde 2000 von Edward Serotta in Wien gegründet. Seit Beginn des Projektes Jüdische Zeugnisse eines europäischen Jahrhunderts sind mehr als 1.250 Lebensgeschichten und knapp 25.000 Familienfotografien digitalisiert worden. Centropas Interviews wurden in Litauen, Lettland, Estland, Polen, Russland, der Ukraine, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Österreich, Moldawien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Serbien und der Türkei geführt. Seit 2007 existiert eine Wanderausstellung als Bildungsprojekt für Schulen in Europa, den USA und Israel: www.centropa.org.

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