Blau sind seine Augen sogar in Schwarzweiß. Ein schöner, blondgelockter Bub war er einmal, der mit einem deutschen Fräulein aufwuchs. „Hoppe, hoppe Reiter, wenn er fällt dann schreit er …“, erinnert sich der alte Mann und lächelt. 1941, als die Deutschen nach Kaunas in Litauen kamen, war er erst neun und diese Kindheit vorbei, für immer. Auf die Idylle folgte der Absturz in die Höllen von Stutthof, Auschwitz-Birkenau, Mauthausen, Gusen. Der heute 91-jährige Daniel Chanoch ist nicht der erste Zeitzeuge, der von diesen KZs erzählt, als Child Survivor aber wahrscheinlich einer der Letzten, der mit wachem Geist, in wohlgesetzten Worten, klaren Gedanken und auch einer Prise Selbstironie und Esprit seine unfassbare Geschichte erzählen kann. Vorwiegend auf Englisch, stellenweise mit deutschen und russischen Einsprengseln.

Zwei Wochen lang saß Daniel im Sommer 2019 in Wien mit Christian Krönes und Florian Weigensamer im Studio und redete. Aufrecht, konzentriert, eindringlich und nahezu unbewegt. Kennengelernt hatten ihn die Regisseure anlässlich der Präsentation ihres Dokumentarfilms A German Life. Erinnerungen von Goebbels Sekretärin in Jerusalem. Im Gegensatz zu vielen anderen im Publikum fand Chanoch diesen durchaus kontroversiellen Beitrag besonders wichtig, sprach die beiden Österreicher an und erzählte ihnen daraufhin eine Nacht lang seine Lebens- und Überlebensgeschichte. Für das Regie-Duo, das bereits mit dem noch wesentlich älteren Marko Feingold ein aufsehenerregendes Zeitzeugendokument gedreht hatte (Marko Feingold – Ein jüdisches Leben), war sofort klar, dass sie Chanochs Geschichte verfilmen müssen.

Einige Male besuchten sie Dani, wie sie ihn heute nennen, in Israel, wo er mit seiner Familie lebt, und bauten die für solche Interview-Dokus entscheidende Vertrauensbasis auf, spürbar in der Art, wie Chanoch sich vor ihrer Kamera öffnet.

Überlebensstrategien
Fast statisch, sachlich und schonungslos, „the truth is not traumatic“, so seine Überzeugung, berichtet er von seiner täglichen Arbeit an der Rampe, dem Transport von Leichen auf Rollwägen, von seinen Überlebensstrategien, zu denen es gehörte, keine Gefühle zu zeigen, ja offenbar nicht einmal welche zu haben, von Mengele, dem er so scheinbar angstfrei begegnen konnte. Rückblickend scheint er selbst darüber zu staunen, analysiert seine kindliche Psyche, erklärt sie als ein Schutzschild gegen das unglaublich Unmenschliche bis hin zum Kannibalismus, das er mitansehen und erleiden musste.
„Auschwitz war eine gute Schule“ und, so weiß er, ein Überlebender von Auschwitz wird für immer gezeichnet sein.

„Auschwitz war eine gute Schule.“
Daniel Chanoch

Nach dem Todesmarsch im kalten Januar 1945 erwartetet ihn in Mauthausen eine noch schrecklichere Hölle: „More murders, more brutal than in any other place.“

Auf Menschlichkeit ist er auch nach der Befreiung in Gusen bei der Zivilbevölkerung nicht gestoßen. „Die Österreicher sollten sich schämen“, ist er noch heute empört.

Seinen älteren Bruder Uri traf er mit Hilfe der Jüdischen Brigade nach dem Krieg in Italien wieder, Vater, Mutter und die Schwester waren umgekommen, und gemeinsam machten sich die Brüder auf den gefährlichen Weg nach „Eretz Israel“. Denn die Vision von Sonne, Orangen und freiem Leben unter Juden, von dem ihnen bereits der Vater, der vor dem Krieg Holz nach Palästina exportierte, vorgeschwärmt hatte, rettete Daniel in seinen dunkelsten Stunden vor der Verzweiflung.

Dramaturgisch unterbrochen werden die einzelnen Themenblöcke der chronologischen Erzählung Chanochs durch kurze Szenen aus einschlägigen Propaganda-Filmen, von NS- und sowjetischem Bildmaterial bis hin zu amerikanischen Filmen von der Befreiung der Lager mit den Schreckensszenarien der Leichenberge. In Österreich gebe es Kritik daran, solche Bilder heute zu zeigen, anderswo stoße diese Haltung, die einer „Geschichtsleugnung“ gleichkomme, auf völliges Unverständnis. „Österreich ist diese Wahrheit zumutbar“, ist Krönes überzeugt.

In zeitloses Schwarzweiß getaucht, ist A Boy’s Life viel mehr als die Geschichte von „Kind Nummer B 2826“. Daniel Chanoch gibt am Ende seines Lebens auch noch denen eine Stimme, die keine mehr haben. Von den 131 Buben aus Kaunas, die in den Lagern eine unerhört reife solidarische Schicksalsgemeinschaft bildeten, überlebten nur 27.

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