Es sei die „verdammte Pflicht eines Landes, das so viel Mitverantwortung an diesem epochalen Unrecht“ der Vertreibung und Verjagung jüdischer Autoren und Autorinnen habe, an diese und deren Werk zu erinnern, mahnte Rudolf Scholten in seinem Festvortrag. Seiner Initiative als Kunstminister verdankt die Österreichische Exilbibliothek (ÖEB) ihre Gründung 1993. Vorangegangen war ihr 1992 die Ausstellung Die Zeit gibt die Bilder mit großformatigen Fotos exilierter österreichischer Schriftsteller:innen, konzipiert von der Germanistin Ursula Seeber. Alle von der Fotografin Alisa Douer Porträtierten, insgesamt über 70, waren damals noch am Leben, viele von ihnen kamen aus diesem Anlass das erste Mal wieder zurück nach Wien. Offiziell eingeladen waren sie davor nie gewesen.
Heute sind es fast durchwegs deren Nachkommen aus der zweiten und dritten Generation, mit denen die ÖEB weltweit Kontakte pflegt. Denn zuerst kamen die Bücher, die Nachlässe, also das Material, aus dem das mittlerweile riesige Archiv der großen Spezialbibliothek mit über 9.000 Bänden erwuchs; doch schon recht bald kamen im Gefolge auch die damit irgendwie befassten und daran beteiligten Menschen. Diese auf Vertrauen gegründeten Beziehungen aufzubauen und zu erhalten, gehört seit Anbeginn zu den vornehmsten Aufgaben der ÖEB.
„Es erfordert einen respektvollen Umgang mit den Brüchen, Verletzungen und Zumutungen eines Lebens im Exil.“
Veronika Zwerger
„Das erfordert einen respektvollen Umgang mit den Brüchen, Verletzungen und Zumutungen eines Lebens im Exil“, weiß Veronika Zwerger, die in der Nachfolge von Ursula Seeber die international bestens vernetzte Institution leitet und auch die laufende Schau kuratiert hat.
Sprechende Dinge. Neben herkömmlichem Archivmaterial wie Dokumenten, Briefen und Manuskripten zu über 150 Personen aus Exilländern von Südamerika, Asien, den USA bis Palästina sind, gleichsam als Strandgut, auch primär unliterarische Objekte in der Wiener Seidengasse gelandet: von Mimi Grossbergs rotem Filzhut (die in New York verstorbene Schriftstellerin war hauptberuflich Modistin), einem Schiffsbillet, gehäkelten Bettsocken und einer Schreibmaschine samt eingespanntem Blatt bis zu einer exquisiten Silberbrosche, im englischen Exil gefertigt vom Autor Jesse Thor, mit Fotos bedruckten Stoffservietten und mehr.
Sinnfällig zum 30. Geburtstag wurden 30 Personen, unter ihnen Erich Hackl, Doron Rabinovici, Rudolf Scholten und Barbara Staudinger, eingeladen, sich ein Ding aus dieser kuriosen Sammlung auszusuchen und es mit eigenen Worten „zum Sprechen zu bringen“. Aus den sehr diversen Exponaten und den dazu assoziierten Texten besteht nun die kleine, feine Ausstellung.
In einem Video der Schau erinnert Judith Weinmann-Stern an die Pionierarbeit ihres Vater Desider Stern, ein bücherbegeisterter Privatmann, der bereits 20 Jahre nach der Shoah in Wien begann, brieflich Kontakt zu emigrierten und exilierten Schreibenden aufzunehmen. Daraus entstand 1967 die erste wegweisende Biobibliografie Bücher von Autoren jüdischer Herkunft in deutscher Sprache, in einer Zeit, in der noch das große Schweigen eine bleierne Decke über diese Szene gelegt hatte, wie seine Tochter bei der Eröffnung ausführte.
Wie sehr die Exilerfahrung auch noch die Erben über Generationen prägen kann, zeigen beispielhaft die Schicksale der Mitglieder der Familie Markstein – das Deckblatt eines Einakters des nach Bolivien emigrierten Heinz Markstein veranlasste Enkelin Ruth Bendl zu ihren Erinnerungen – oder die Geschichte der in England zu Grenville mutierten Familie Grünfeld. Beiden ursprünglich Wiener Familien ist jeweils ein eigener Abend im Rahmen des Jubiläumprogramms gewidmet.