Der 7. Oktober 2023, an dem die Hamas mehr als 1.100 Menschen in Israel ermordete und mehr als 200 Kinder und Erwachsene als Geiseln nahm und nach Gaza entführte, löste in der Folge weltweit einen massiven Anstieg von antisemitischen Vorfällen aus. Benjamin Steinitz, Direktor des Bundesverbands RIAS in Deutschland (Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus), präsentierte dazu am Dienstag schockierende Zahlen. Österreich: plus 500 Prozent, Deutschland: plus 320 Prozent, Frankreich: plus 1.000 Prozent, Niederland: plus 820 Prozent, Polen: plus 820 Prozent, Tschechien: plus 400 Prozent, Italien: plus 300 Prozent.
Diesen Werten zu Grunde lägen aber immer nur gemeldete Vorfälle – und hier komme es darauf an, welche Meldeinfrastruktur es in einem Land bereits gebe. Gleichzeitig wisse man aus der letzten Studie der Europäischen Agentur für Grundrechte (FRA), dass 79 Prozent der antisemitischen Vorfälle von Betroffenen gar nicht gemeldet würden, gab der RIAS-Direktor zu bedenken. Hier gelte es anzusetzen und es Betroffenen leichter zu machen, Antisemitismus zu melden. Dabei gehe es auch um jene Vorfälle, die strafrechtlich nicht relevant seien. Grundlage für die Einordnung, ob es sich um einen antisemitischen Vorfall handle, sei die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Diese Definition kann hier nachgelesen werden: https://holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-antisemitismus
Woran ENMA daher nun arbeitet: an der Implementierung einer Software bei allen Partnerorganisationen, die es Betroffenen leicht macht, via App oder im Netz einen Vorfall bekannt zu geben. Dabei soll das Computersystem gleichzeitig alle nötigen Informationen abfragen, um den Vorfall zu kategorisieren und so zu einer guten Datenbasis beizutragen, andererseits aber auch ausloten, inwiefern der Betroffene rechtliche oder psychologische Unterstützung brauchen könnte, so Steinitz. Damit werde dem Einzelnen in der Situation geholfen, gleichzeitig erhielten Entscheidungsträger die Informationen die sie bräuchten, um gegen Antisemitismus anzukämpfen.
RIAS ist eines der Mitglieder von ENMA. Weiters gehören dem Netzwerk auch die Fondazione Centro die Documentazione Ebraica Contemporanea, ein Forschungs- und Dokumentationszentrum in Italien, die Föderation Jüdischer Gemeinden in Tschechien (Federace židovských obcí v ČR), der Jüdische Verband Czulent in Polen und die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) in Wien an. IKG-Generalsekretär Benjamin Nägele unterstrich am Dienstag den Befund von Steinitz: Die Wiener jüdische Gemeinde sei im Gefolge der Ereignisse vom 7. Oktober 2023 in Israel mit einem massiven Anstieg von Antisemitismus konfrontiert. Hier liege auch die Hauptmotivation, Teil des Netzwerks zu sein. Antisemitismus sei ein globales Phänomen, daher brauche es daher auch grenzüberschreitende Bemühungen. Hier hakte auch Anna Zielinska von Czulent in Polen ein: es brauche ein vergleichbares Monitoring in den EU-Ländern und gemeinsame Strategien.
Katharina von Schnurbein, Antisemitismusbeauftragte der EU-Kommission, betonte, ein EU-weites Monitoring sei eine wichtige Grundlage, um Antisemitismus sichtbar zu machen und in weiterer Folge zu bekämpfen. Sie betonte aber auch, dass Antisemitismus à la longue nicht nur eine Gefahr für Juden und Jüdinnen darstellt, sondern in weiterer Folge auch die Demokratie und die Sicherheit gefährde. Das sei etwa der Fall, wenn auf den Straßen europäischer Städte der Überfall der Hamas auf Israel gefeiert werde. Was sich Schnurbein nun mit der Gründung von ENMA auch erhofft: dass sich einerseits hier bereits bestehende zivilgesellschaftliche Organisationen beteiligen, sich aber vielleicht auch in jenen Ländern, in denen es hier noch keine Organisationen gebe, die sich mit dem Thema befassen, auch neue gründen. Und auch sie betonte: es gehe nicht nur um strafrechtlich Relevantes. Es gehe um jede Form von Übergriff, der unter die IHRA-Definition falle und damit jüdisches Alltagsleben erschwere.
Die Finanzierung des neuen Netzwerks steht bis Ende dieses Jahres, von der EU kamen hier knapp 400.000 Euro, einen substanziellen Beitrag steuere laut Steinitz auch die Alfred Landecker Stiftung bei. Schnurbein sicherte hier in der Pressekonferenz am Dienstag aber auch weitere Unterstützung durch die EU zu.