„Ich habe wirklich Glück gehabt, dass ich mein kleines Mädchen zurückbekommen habe“

Seit dem 7. Oktober durchlebt ganz Israel über die Medien ständig die Geschichten der Betroffenen und der Soldaten und ihrer Familien und bangt um die Schicksale der Geiseln. Und auch für jene, die aus Gaza freigekommen sind, ist das Leben noch lange nicht „normal“.

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Die kleinen Wunder des Krieges: Thomas Hand mit seiner Tochter Emily. © Flash 90

Stellen Sie sich einmal kurz vor, Ihre 23-jährige Tochter ruft von einer Party an und sagt: „Mami, ich bin angeschossen worden, alles ist voll Blut, ich glaube, ich muss sterben.“ Diesen Anruf bekam Merav Leshem Gonen am 7. Oktober von ihrer Tochter Romi. Das war vor über vier Monaten, bevor Romi mit über 250 anderen Geiseln nach Gaza verschleppt wurde. Seit damals kämpft Merav um die Freilassung ihre Tochter aus der Gefangenschaft der Hamas. Es gibt noch Videos, in denen man sieht, dass Romi an den Haaren aus einem Auto gezerrt wird. Was sie seit damals durchleben musste, wagt sich Merav nicht vorzustellen, sie versucht, stark zu bleiben. „Terror ist nicht nur das Problem Israels“, sagte sie kürzlich bei einem Gipfeltreffen vor 200 Israelis und Deutschen in Berlin. „Wir müssen alle gemeinsam gegen das Böse kämpfen. Gemeinsam ist unser Licht stärker.“

„Die Berichte darüber, was die Geiseln durchmachen, vergrößern diesen Albtraum und den Schmerz ständig. Ich habe wirklich Glück gehabt, dass ich mein kleines Mädchen zurückbekommen habe, sehr viel Glück …“, murmelt Thomas Hand unter Tränen. Seine damals achtjährige Tochter Emily war an jenem schwarzen Schabbat aus dem Kibbuz Be’eri entführt worden. Sie kam durch das Geiselabkommen Ende November frei. Die mittlerweile Neunjährige mit den rotblonden Locken und den blauen Augen wirkt wie ein völlig normales Mädchen. Sie ist nur blasser und schmäler als vor ihrer Entführung. Man muss darauf achten, dass sie noch nicht zu viel auf einmal isst, und sie hat noch immer ab und zu Panikattacken oder beginnt plötzlich zu flüstern oder nur völlig stimmlos die Lippen zu bewegen.

„Wenn ich aber an der Macht wäre und diese Entscheidung treffen müsste, dann würde ich sagen: ‚Man muss ein vertretbares Abkommen treffen. […].“
Thomas Hand

Emily erzählt nur wenig, wie ihr Vater berichtet. Und er hält sich an die Empfehlung der Psychologen und fragt nicht. Doch er weiß von ihr, dass sie von den Terroristen mit dem Messer bedroht wurde und dass man ihr sagte, sie müsste sterben, wenn sie nicht still ist. „Es ist eine schreckliche Vorstellung für einen Vater zu wissen, dass sein Kind so bedroht wurde“, sagt er kopfschüttelnd, so, als könnte er das alles noch immer nicht glauben.

Beim Fernsehinterview für den israelischen Sender N12 sollte Emily mit dabei sein, bekam aber im letzten Moment einen Panikanfall und blieb vorerst in ihrem Zimmer. Schließlich kam sie heraus, setzte sich aber jedoch nicht zu den anderen, sondern in ihren „sicheren Ort“, eine Art Haus oder Versteck, das sie sich aus Kissen und Decken im Raum aufgebaut hat. Es dauerte eine Weile, bis sie sich sicherer fühlte, vielleicht durch ihre Hunde. Sie läuft mit ihnen durch das Zimmer und erklärt: „Jonny war beim Schlafen immer mein ,Polster‘, und jetzt ist er es wieder.“

„Oliven“, „Käse“ und die „Box“. Aufgrund ihrer Liebe für Tiere wird Emily nach ihrer Gefangenschaft mit Hilfe von Tiertherapie behandelt, mit Hunden und mit den Pferden „Ananas“ und „Whisky“. Über all das zu sprechen, was ihr widerfahren ist, wäre im Moment noch zu viel für sie. Inzwischen weiß sie, dass Itay Sabirsky (38), mit dem sie während ihrer Gefangenschaft andauernd zusammen war, tot ist. „Das war ein schwerer Schlag für sie“, erzählt ihr Vater. Sie wollte es vorerst nicht glauben, weil „die Hamas immer lügt“, wie sie meinte.

„Wir müssen alle gemeinsam gegen das Böse
kämpfen. Gemeinsam ist unser Licht stärker.“
Merav Leshem Gonen

Auf die Frage des Interviewers, was er zu den Forderungen der Hamas für ein Geiselabkommen meint, hat Thomas Hand zwei Antworten: „Wenn Sie mich als Vater oder als Freund (von Menschen in Be’eri) fragen, muss ich sagen: ,Gebt ihnen alles, was sie verlangen, um diese Menschen alle herauszubekommen.‘ Wenn ich aber an der Macht wäre und diese Entscheidung treffen müsste, dann würde ich sagen: ‚Man muss ein vertretbares Abkommen treffen. Sie dürfen nicht glauben, dass sie alles verlangen können, was sie wollen.‘“

Emily wurde am 7. Oktober völlig allein, ohne ihre Eltern oder andere Verwandte, nach Gaza entführt. Ihre Stiefmutter Narkis, die für sie wie eine richtige Mutter war, wurde von den Terroristen in Be’eri ermordet. Ihre leibliche Mutter verlor Emily, als sie zwei Jahre alt war. Und während ihrer gesamten Zeit in der Gefangenschaft war sie sicher, dass auch ihr Vater tot oder verschleppt ist. „Ich dachte, du bist entführt worden?!“, war der erste Satz, den sie kaum hörbar flüsterte, nachdem sie nach ihrer Freilassung in seine Arme gelaufen war.

Thomas und Emily konnten noch nicht in ihren Kibbuz zurückkehren, sondern wohnen noch immer in einem Hotel am Toten Meer. „Hier in den Gängen triffst du Eltern ohne Kinder und Kinder ohne Eltern […], es ist verheerend“, beschreibt Thomas die Situation. „Wir trauern alle füreinander. Unser Haus ist zerstört, das Blut von Freunden noch auf dem Gras im Kibbuz. Aber wir wollen trotzdem zurück, wir müssen zurück, sonst haben sie gewonnen“, sagt er mit fester Stimme.

„Willst du zurück?“, fragt der Journalist Tamir Steinman Emily. Sie zögert mit der Antwort. „Einerseits ist es nahe an der ,Box‘, andererseits sind dort alle meine Freunde, also weiß ich nicht“, sagt sie schließlich zögerlich. Die „Box“ ist ihr Codewort für Gaza und ein Vokabel aus der von ihr kreierten Geheimsprache, in der sie alles, was sie nicht aussprechen will, mit einem anderen Wort ersetzt. Meist sind es Bezeichnungen von Nahrungsmitteln, die sie nicht ausstehen kann. Terroristen sind da „Oliven“, Diebe „Käse“, Arabisch heißt bei Emily „Bamba’it“ – nach einem israelischen Snack für Kinder.

Thomas sieht ihr liebevoll besorgt beim Spielen mit den Hunden zu, es ist offensichtlich, welche tiefe Beziehung die beiden verbindet. Sein Traum für Emily ist, dass sie einmal ein normales, zufriedenes Leben führen kann und sich wieder sicher fühlt.

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