„Ich sehe unsere Aufgabe jetzt als noch wichtiger als vorher“

Martha Keil leitet das 1988 gegründete Institut für jüdische Geschichte Österreichs in St. Pölten (Injoest). Die Koalition zwischen ÖVP und FPÖ in Niederösterreich bereitet ihr Kopfzerbrechen, umso stärker fokussiert sie mit ihrem Team auf die Arbeit an Projekten, die sich mit der NS-Zeit beschäftigen.

1962
Martha Keil leitet seit 2004 das Institut für jüdische Geschichte Österreichs. © Daniel Shaked

MARTHA KEIL, geb. 1958 in Wien, studierte Geschichte und Judaistik in Wien und Berlin. Magisterium 1988, Promotion über die jüdische Geschichte Wiener Neustadts im Spätmittelalter 1998. Seit 1988 am Institut für jüdische Geschichte Österreichs tätig, von 1995 bis 2004 stellvertretende Direktorin, seit 2004 Direktorin des Instituts. 2007 Habilitation für österreichische Geschichte, von 2016 bis 2022 Senior Scientist am Institut für österreichische Geschichtsforschung der Universität Wien.

 

WINA: Das aktuelle Projekt des Injoest befasst sich mit „,NS-Volksgemeinschaft‘ und Lagern im Zentralraum Niederösterreich“. Wie viele solcher Lager gab es in Niederösterreich, wer war darin interniert, wie viel ist davon in der Bevölkerung noch bekannt, und was kann man daraus für Rückschlüsse ziehen, wie viel oder wie wenig die Menschen in der NS-Zeit über den Umgang der Nationalsozialisten mit Juden und Jüdinnen wussten?
Martha Keil: In diesen Lagern waren in erster Linie nicht jüdische Inhaftierte, etwa 144.000. Die ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die ganzen Familien, kamen erst ab Juni 1944 ins Land. Man kann also nicht direkt in Verbindung bringen, was man über Zwangsarbeiter wusste und was man über die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung wusste.

Als wir an dem Projekt zu arbeiten begonnen haben, hatte das Bundesdenkmalamt bereits Forschungen, vor allem auch archäologischer Art, durchgeführt, um die letzten materiellen Spuren zu sichern. Und da sieht man auf der vom Denkmalamt erstellten Landkarte in Niederösterreich ungefähr 370 Lager – das beinhaltet auch lagerähnliche Unterbringungen. Es handelte sich also nicht nur um große Lager wie Krems-Gneixendorf oder Melk, die man im Kopf hat, wenn man das Wort Lager hört – eine Ansammlung von Baracken, mit Wachtürmen und von Stacheldraht umgeben. Es gab unterschiedlich große Unterbringungen, auch mit einem unterschiedlich großen Bewegungsradius. Zwangsarbeiter, meistens Männer, aber auch Frauen, waren fast jedem Bauernhof zugeteilt. Die Zahl der ursprünglich 60 auf dieser Karte im Zentralraum Niederösterreich eingezeichneten Lager hat sich bereits verdoppelt, denn wir haben schon allein rund um Sankt Pölten 50 solcher Unterbringungen gefunden. Die Zwangsarbeiter waren entweder am Einsatzort stationiert, oder sie wurden von den größeren Lagern jeden Tag auf die Betriebe oder Höfe, denen sie zugeteilt waren, verbracht. Der Brückenbau, der Autobahnbau, aber auch die Landwirtschaft und Produktion wären ohne Zwangsarbeit nicht denkbar gewesen.

 

„Es gibt eine Menge Mordstätten in Niederösterreich,
von denen wir bisher in der Forschung nichts gewusst haben.“
Martha Keil

 

Wer war da interniert? In erster Linie aus Osteuropa rekrutierte beziehungsweise deportierte Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen und Häftlinge, darunter auch jüdische. In der Folge auch Kriegsgefangene in einer hierarchischen Abstufung. Jene der alliierten westlichen Staaten wurden besser behandelt. Mit den „Untermenschen“ aus den Ländern der Sowjetunion, aber auch aus Polen war der Umgang viel eingeschränkter, man durfte sich mit ihnen nicht anfreunden.

Was hat die Bevölkerung gewusst? Sie hat alles gewusst, weil sie ständig damit konfrontiert war. Aber wie bei allen Themen, die den Nationalsozialismus betreffen, herrschten Schweigen und Verdrängen. Und bis heute ist Angst zu spüren. Wir sind dazu bisher bereits mit etwa 70 Menschen in Kontakt, haben Interviews geführt, es gab Anrufe oder E-Mails, und oft wurde thematisiert, dass man genau wusste, wo die Nazis saßen. Der größte Nazi war meist der Bürgermeister. Und die, die nicht entfernt wurden, weil sie politisch unbotmäßig waren, haben sich geduckt und geschwiegen.

Wie äußert sich diese Angst in den Interviews heute?
I Dass man ganz klar sagt, darüber rede ich nicht. Wobei ich auch an der körperlichen Reaktion merke, da wird eine Abwehrhaltung eingenommen. Oft habe ich gehört, es gibt ja heute noch Nachfahren von dieser Familie, und die haben heute noch Macht im Dorf, da sage ich lieber nichts dazu. Und wenn ich dann vorschlage, wir können ja anonym sprechen, hieß es mehrmals: Bei uns gibt es keine Anonymität. Man ist dort gläsern. Das politische Verhalten ist gläsern, das Wahlverhalten ist völlig transparent.

Im Umgang mit den Zwangsarbeitern und -arbeiterinnen hat sich übrigens auch oft gezeigt, wie die Haltung zum Regime war. Hat man sie trotz der Ideologie und Propaganda und auch trotz der Bedrohung als Menschen betrachtet, oder hat man sie miserabel behandelt? Das wurde dann auch wichtig, als die Sowjetarmee vorgerückt ist und die Zwangsarbeiter befreit hat. Wenn diese dann ausgesagt haben, dass sie gut behandelt worden waren, konnte das für die Arbeitgeber lebensrettend sein. Was wir zudem herausgefunden haben, ist, dass es in den letzten Kriegstagen nicht nur Massaker der SS an ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiterfamilien gab, sondern auch an sowjetischen Kriegsgefangenen. Es gibt eine Menge Mordstätten in Niederösterreich, von denen wir bisher in der Forschung nichts gewusst haben. Die Bevölkerung aber weiß davon, von ihr bekommen wir nun diese Informationen.

Das Projekt widmet sich auch dem Thema Erinnerung. Sind diese Mordstätten heute als solche markiert und sichtbar?
I Das ist sehr unterschiedlich. Die Tatorte selbst sind meist nicht markiert. Aber wo es große Massaker gab, gibt es zum Beispiel einen Hinweis auf dem Friedhof. Durch das Projekt haben sich aber schon einige Gemeinden an uns gewandt und um Beratung gebeten, wie ein Gedächtnisort gestaltet werden kann. Das ist dann ein Prozess, der Zeit braucht, denn das Anliegen muss von der Gemeinde kommen, sie muss das tragen. Ich muss aber auch sagen, das ist nun keine allgemeine Entwicklung. Manche Gemeinden engagieren sich, wir bekommen auch immer wieder Anfragen, wie Gedenktafeln für Shoah-Opfer oder für Vertriebene gestaltet werden könnten. Dieses „Wir wollen wissen, was hier war“ nimmt in der nächsten Generation zu.

 

„Man spielt gefährdete Gruppen gegeneinander
aus und nützt diese Angst aus, um Leute auf seine Seite zu ziehen und Hetze noch weiter zu befeuern.“
Martha Keil

 

Im Titel des Projekts findet sich auch der Begriff „Volksgemeinschaft“. Aktuell gibt es mit Herbert Kickl einen FPÖ-Chef, der „Volkskanzler“ sein möchte. Was ist das Problematische an solchen Begriffen?
I „Volksgemeinschaft“ ist ein Begriff der Nationalsozialisten, der es ihnen ermöglicht hat, genau zu definieren, wer in diese Gemeinschaft gehört und wer nicht. Und die Zugehörigkeit war eine Frage von Leben und Tod. Da gibt es nichts zu beschönigen. Wenn Kickl nun mit diesem Begriff spielt, weiß er das, und dann wird er bestimmen, von welchem Volk er der Kanzler ist. Wir wissen natürlich genug über die nationalsozialistische

Ideologie, um zu wissen, dass „rassisch“ definiert wurde, wer dazugehört und wer nicht. Aber was wir im Zug des Projekts auch gelernt haben, ist, dass diese „Volksgemeinschaft“ fluide war. Durch eine geistige Behinderung, sogar in Folge einer Kriegsverletzung, war man aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Durch unbotmäßiges Verhalten konnte man ebenfalls die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft verlieren und inhaftiert werden oder sogar mit dem Tod bestraft werden, aber man konnte bei „Besserung“ auch wieder dazugehören. Und diese fluiden Grenzen konnten immer wieder adjustiert werden. Das ist eine gefährliche Sache. Denn so konnte sich niemand sicher sein, einen dauerhaften Platz in dieser „Volksgemeinschaft“ zu haben. Und damit hat das Regime Macht ausgeübt. So errichtet man ein Angst-und-Terror-Regime. Damit kann man auch in der Gegenwart manipulieren, man kann ständig an den Schrauben drehen, man kann ständig Kriterien verändern und auch die Maßnahmen der Bestrafung.

Dieses Spielen mit Symbolik und Kriterien erinnert mich an den früheren FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache, der eine Brojanica, ein serbisches Armband, trug, um damit christliche Serben und Serbinnen anzusprechen. Gleichzeitig wetterte er gegen muslimische Zuwanderer.
I Ja, zu dieser Taktik gehört auch das Auseinanderdividieren. Man spielt gefährdete Gruppen gegeneinander aus und nützt diese Angst aus, um Leute auf seine Seite zu ziehen und Hetze noch weiter zu befeuern. Es wird ein noch Schwächerer definiert, der dann als Feindbild die anderen eint. Das sind unmenschliche und wirklich grausame Gedanken gänge. Wenn man die in einem realistischen politischen Gedankengang zu Ende denkt, dann haben wir eine grauenhafte Diktatur. Wie es derzeit aussieht, richtet sich diese gefährliche Tendenz nicht gegen Juden, weil die jüdische Gemeinde einerseits stark dezimiert und andererseits von der Verfassungsministerin, dem Parlamentspräsidenten und auch der niederösterreichischen Landeshauptfrau unter Schutz genommen ist. Damit wird eine gewisse Beruhigung signalisiert, wir sind nicht antisemitisch, wir beschützen „unsere Juden“, wir beschützen „unser jüdisches Kulturerbe“. Gegenüber dieser eventuellen Vereinnahmung muss man aufmerksam sein. Aber jetzt geht es um andere Gruppen. Es geht um Flüchtlinge, um Menschen mit Migrationshintergrund, die zwar oft schon viele Jahre hier leben, aber immer noch kein Wahlrecht haben. Das ist zutiefst undemokratisch.

Martha Keil: Um nicht von der Politik vereinnahmt zu werden, ist eine permanente Selbstreflexion notwendig. © Daniel Shaked

Nichtsdestotrotz koaliert in Niederösterreich Johanna Mikl-Leitner mit der FPÖ. Das Injoest hat anlässlich der Angelobung dieser Regierung sehr klare Worte gefunden, was es von dieser Zusammenarbeit hält. Gab es darauf eine Reaktion der Politik? Und wie geht es einem als Einrichtung, die in Sachen Finanzierung von der Politik abhängig ist?
I Das ist unser Dilemma. Für mich, für unser Institut ist diese Koalition unsäglich. Es muss eine Grenze geben, mit welchen Anhängern welcher Geisteshaltung man gemeinsame Sache macht. Es ist doch ein Ins-Boot-Holen von Menschen, deren Ideologie auch durchaus die Frau Landeshauptfrau ablehnt. Das weiß ich, aber ich kann ihr keine Ratschläge geben. Ich habe von Anfang an die Gefahr gesehen, dass sie das nicht in der Hand haben wird, dass sie benützt wird. Die Frage ist, ob sie eine MittePosition halten kann oder, wie das in solchen Koalitionen meist passiert, auch selbst langsam nach rechts driftet.

Die Reaktion der Politik beziehungsweise in diesem Fall der ÖVP Niederösterreich auf unsere Kritik war aber sehr offen. Die Landeshauptfrau hat zum Beispiel alle Leiter und Leiterinnen aus dem Kulturbereich eingeladen, Stellung zu beziehen. Und sie ist seit ihrer neuerlichen Angelobung auch zu unseren Veranstaltungen gekommen. Das ist für uns zweischneidig, weil sie damit einerseits ein Statement setzt und uns dafür als Mittel zum Zweck gebraucht. Andererseits muss sie nicht persönlich kommen, sie kann eine Vertretung schicken, solange diese nicht von der FPÖ ist. Sie hat aber allen Kulturbetrieben versprochen, dass sie das niemals tun wird. Sie weiß, dass sie bei solchen Veranstaltungen mit Kritik konfrontiert wird, und sie setzt sich dem trotzdem aus, das erkenne ich an.

Ich muss aber zugeben, das alles beschäftigt mich sehr und beschäftigt die ganze Wissenschafts- und Kunstszene in Niederösterreich sehr. Wir alle sind abhängig von Fördergeldern, und die Frage ist, wie lange wir uns in der derzeitigen Situation von dieser Politik bezahlen lassen – für eine Arbeit, die wir gleichzeitig so wichtig finden? Wer wird sie denn machen, wenn wir sie nicht machen? Ich habe außerdem auch eine Verantwortung für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In allerletzter Konsequenz müsste ich sagen, ich sperre das Institut, bis diese Koalition beendet ist.

 

„Und ich muss heute leider sagen, das viel zitierte aus
der Geschichte Lernen funktioniert nicht – denn
dann wüsste man, wie man mit demokratiefeindlichen Tendenzen umgeht.“
Martha Keil

 

Damit ginge aber auch wichtige Forschungs- und Aufklärungsarbeit verloren.
I Ja. Und es gingen damit alternatives Wissen und eine Gegenrede verloren, weil auch die Gedenkarbeit, die nun aufsprießt, ohne Forschung hohl wäre. Gedenken braucht Forschung, sonst spielt man wieder jenen Menschen in die Hände, die sagen, das hat alles nicht stattgefunden. Ich sehe unsere Aufgabe daher jetzt als noch wichtiger als vorher. Wir müssen dranbleiben.

In der Zwischenzeit stieß aber auch die Landeshauptfrau selbst eine schwierige Debatte an, und zwar über die „normal denkende Mehrheit“. Wie ist denn das aus Ihrer Sicht als Historikerin zu bewerten?
I Ich verstehe nicht, wie man so einen Begriff ungefragt, unhinterfragt und unkritisch verwenden kann. Er war ja nicht im Kaffeehaus so dahingesagt, das war ein öffentliches Statement. Gerade in unserem aktuellen Projekt zu Mauer-Öhling geht es darum, bist du „normal“, darfst du leben, bist du „abnormal“, dann bist du zum Tod verurteilt. Bei vielen Opfern der NS-Euthanasie gab es Diagnosen, die falsch waren, oder es handelte sich um behandelbare Krankheiten. „Normalität“ war als Nützlichkeit für die „Volksgemeinschaft“ definiert. Ein gefährlicher Begriff, das weiß inzwischen auch die Medizin, bei Laborbefunden benutzt man heute nicht mehr Normwerte, sondern Referenzbereiche. Man kann das Wort nicht als soziale Kategorie verwenden. Sie ist Politikerin und hat eine Verantwortung für ihre Sprache.

Sie arbeiten seit seiner Gründung 1988 für das Injoest und leiten es seit 2004. Was hat sich in dieser langen Zeit in Bezug auf den Umgang mit der NS-Zeit doch verbessert?
I Es hat sich viel verbessert. Zu Beginn unserer Arbeit war die Archivlage eine schlechtere, es gab noch viele Archivsperren. Wir sind an viele Quellen überhaupt nicht herangekommen. Das lag allerdings auch am Widerstand. In den Gemeinden hieß es oft, bei uns ist nichts zu finden, hier war nichts. Die Verleugnung war größer, auch das Schweigen. Da hat sich inzwischen viel getan. Es gibt auch eine viel größere Bereitschaft, solche Projekte zu fördern.

Auch die Forderung nach dem „Schlussstrich“ habe ich schon länger nicht mehr gehört. Die Kehrseite ist, dass Einrichtungen wie dem Injoest eine gewisse Alibifunktion zukommt. Die Politik finanziert unsere Arbeit und entlastet sich damit. Wie weit diese Entlastung mit einer inneren Erkenntnis oder einer Reflexion der eigenen Haltung einhergeht, bleibt offen. Und ich muss heute leider sagen, das viel zitierte aus der Geschichte Lernen funktioniert nicht – denn dann wüsste man, wie man mit demokratiefeindlichen Tendenzen umgeht. Man wüsste, wie man mit gefährdeten Menschen umgeht.

Wie ist dieses Dilemma aufzulösen? Wie kann man sicherstellen, dass Einrichtungen wie das Injoest, aber auch jüdische Gemeinden nicht in eine Feigenblatt-Rolle rutschen? Wie gelingt da die Abgrenzung?
I Das ist sehr schwierig. Ich hinterfrage uns daher ständig. Es gibt hier, fürchte ich, keine klare Antwort. Vielleicht hilft es aber, trotz des Risikos, Förderungen zu gefährden, die Grenzen festzustecken, brisante Themen anzugehen und Akteure einzubeziehen, die die Ergebnisse auch in der Gegenwart umsetzen können. Wir beginnen demnächst zum Beispiel ein Projekt zu den jüdischen Mitgliedern der Freiwilligen Feuerwehren in Niederösterreich vor 1938. Das Ergebnis könnte ein Best-Practice-Beispiel für die Integration von muslimischen Jugendlichen heute sein. Das bietet eine Möglichkeit zu sagen, wir verwenden eure Förderungen, um euch gangbare Wege zu zeigen, bitte nehmt sie auch an. Aber sonst? Wenn ich ein politisches Rezept hätte, um dieses Land vor einem Rechtsruck zu retten, würde ich es sofort anwenden.

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