Max Reinhardts letzter Jedermann

In der US-Emigration dachte Max Reinhardt das in Salzburg beinahe unverändert zelebrierte Stück radikal neu: Sein amerikanischer Everyman sollte in New Orleans spielen und Schwarzen eine Bühne für ihre von Reinhardt hoch geschätzte Musikalität, vielseitige Schauspielkunst, Komik, aber auch Tragik und schließlich auch „für ihren Glauben und Aberglauben“ bieten.

840
Reinhardt bei seiner letzten Ankunft in Amerika, 1937. © Wienbibliothek im Rathaus

Es ist Montag, der 25. Mai 1942. Die amerikanische Gesellschaft ist seit dem Kriegseintritt der USA Ende 1941 verunsichert, befindet sich im Umbruch. Das trifft auch die vielen Tausenden, die vor dem Nationalsozialismus in die USA flüchten hatten können. Einer von ihnen ist Max Reinhardt (1873–1943). Er sitzt an diesem Tag in dem bei Emigranten beliebten, da günstigen New Yorker Hotel „Gladstone“ und schreibt: „Man kann wahrscheinlich hier noch härter verzweifelt sein, wenn alles schiefgeht – und sich von einem oberen Stockwerk in das steinerne Meer stürzen – aber man kann gewiss nicht so leicht versinken in eine weiche, schläfrige Hoffnungslosigkeit, die in Hollywood alle Arme nach einem ausstreckt.“

Tourneen hatten den gefeierten Theatermagier davor immer wieder auch in die USA geführt. In der Hollywood Bowl in Los Angeles etwa hatten Zigtausende seiner Inszenierung des Sommernachtstraum zugejubelt. Das war 1934. Im Jahr darauf hatte ihm New Yorks Bürgermeister bei einem Galadinner versprochen: „Sie haben Europa genug gegeben, und Europa hat Ihnen nichts mehr zu geben. Amerika alles. Amerika braucht und erwartet Sie.“

Im Herbst 1937 reiste Reinhardt wieder in die USA, nicht ahnend, dass er damit seiner Verfolgung durch die Nazis entgehen und Europa nie mehr betreten sollte. In Hollywood, seiner ersten Station, wurde er nicht heimisch, er wollte in New York inszenieren, ein ständiges Theater gründen. Hier schrieb er auch nach dem Novemberpogrom 1938 seine Verzweiflung nieder: „Mein Herz ist schwer. […] Millionen stehen und starren. Millionen werden gewiss den Kopf abwenden. Aber sie schütteln ihn nur.“ Ohne Datum wird er später hier seine Autobiografie mit den Worten beginnen: „I. b. e. J. [Ich bin ein Jude, Anm. ] Damit ist vieles gesagt. Ich schicke das voraus, ist das Stolzeste gesagt, was ich über mich sagen kann.“ Und später wird er seiner Frau Helene Thimig (1889–1974) eingestehen, dass er in seinem Exilland nicht angekommen ist: „Die Fremdheit bleibt doch größer, als man glaubt.“ Und doch. Gerade in der für den Theatermacher so schwierigen Lage entwickelt er die Idee der radikalen Adaption des Jedermann an die amerikanischen Verhältnisse: den „Everyman mit Negern“, wie es Max Reinhardt selbst formuliert. Wie intensiv er an seinem neuen Jedermann gearbeitet hat, geht aus den zahllosen Briefen zwischen ihm und Thimig hervor, die nun zum 150. Geburtstag des in eine jüdische Familie in Baden bei Wien geborenen Impresarios unter dem Titel Briefe im Exil im Residenz Verlag erschienen sind.

„Mein Herz ist schwer.
[…] Millionen stehen
und starren.
Millionen
werden gewiss den Kopf abwenden.“

Max Reinhardt

 

Der umfangreiche Band öffnet den Blick in die von Hoffnungen wie Unsicherheiten und Enttäuschungen geprägte amerikanische Kunstszene der Zeit und in das Ringen und die Kreativität zweier Menschen mitten drinnen.

Eiertanz zwischen Hollywood und New York. „In Chicago angekommen mit Jack Warner, Walt Disney, überfüllter Zug, kleines Abteil, furchtbar“, telegrafiert Reinhardt an seine Frau von der Umzugsreise nach New York. Die erste Briefsendung ist an ist vierzehn Seiten lang und allein Stoff für eine brillante, brisante historische Sitcom. Über Jack Warner, den Mitbegründer der Warner Bros. Studios, etwa schreibt Reinhardt, er sei im Zug in Uniform aufgetreten, habe ihm eine Zigarre angeboten, von seinen fantastischen Geschäften erzählt, aber nicht, warum er das ReinhardtSchauspielstudio in Hollywood nicht sponsern wollte: „Ich hatte Mühe […] zwischen den vielen faulen Eiern, die zwischen uns lagen, herumzutanzen, ohne anzustoßen.“ Walt Disney, ebenfalls im Abteil, sei dagegen sympathisch. Reinhardts Briefe schwirren von Namen Prominenter und deren prägnanten Einschätzungen. „Hat sich Thornton Wilder gerührt? […] Oder hat auch er die amerikanische Manie, sich einfach in Vergessenheit zu bringen? Diese prominente Formel lautet: Wenn Du nichts brauchst und nicht gebraucht werden willst, stelle dich tot.“ Und dazwischen eingestreut: „Geld habe ich noch keines.“ Der bei ihm logierende Diener Paul kaufte Lebensmittel in der Umgebung, „wir nehmen nichts vom Restaurant“.

„Mein Herz ist schwer.“ (1938) In zahlreichen seiner Briefe aus dem New Yorker Exil gab Max Reinhardt gegen Ende seines Lebens seiner Trauer Ausdruck. © Walter Dick / AP / picturedesk.com; akg-images

Unterstützt wird der 68-Jährige in New York von seinem Sohn Gottfried. Gottfried war Regieassistent von Ernst Lubitsch gewesen, hatte bei MGM gearbeitet und war nun in der US-Armee. Reinhardt notierte, im Gespräch mit seinem Sohn „kam mir die Idee, den Jedermann mit Negern [!] hier zu machen“. Afroamerikaner so zu bezeichnen, war damals gängige Praxis, dementsprechend entwickelte Reinhardt seine Ideen im Brief vom 25. Mai 1942 mit folgenden zeittypischen Ausführungen weiter: „[…] Neger sind augenblicklich sehr en vogue. Porgy und Bess ist in seiner dritten Auferstehung hier der größte und stürmischste Theatererfolg der diesjährigen Saison. Die Negermusik ist die stärkste, vielleicht die einzige Musik dieses Landes. Und welche Gelegenheit für die hinreißenden Tänze der Neger, für Solo und Chorgesang, für die Spirituals […], aber auch für die […] großartige Schauspielerei der Schwarzen, für ihre Kraft zur Stilisierung, für ihre Komik und Tragik, für ihren Glauben und Aberglauben.“

Als Dramaturgen für seinen neuen Jedermann konnte Reinhardt in der Folge keinen Geringeren als Paul Eliot Green (1894– 1981) gewinnen. Bereits Greens erstes Stück In Abraham’s Bosom hatte Rassismus angeprangert und Einblicke in das Leben von Afroamerikanern gegeben. Green bekam dafür 1927 den Pulitzer-Preis. Edda Fuhrich, die weltweit wohl renommierteste Reinhardt-Expertin und eine der beiden Herausgeberinnen der Briefe im Exil, erzählt dazu im Gespräch mit WINA: „Den Jedermann zum damaligen Zeitpunkt mit People of Color zu besetzen, war eine hoch spannende Idee Reinhardts, die heute leider nur sehr wenigen bekannt ist.“

Laut Fuhrich sollte der neu gedachte Jedermann in der einzigartigen Atmosphäre von New Orleans spielen und das Lebens- und Todesverständnis der afroamerikanischen Bevölkerung der Stadt am Mississippi zum Thema haben. Wie weit Reinhardt die Situation New Orleans in den 1940er-Jahren kannte, wissen wir nicht. Stephen Ambrose zeichnete das Bild einer Stadt, die den Rassismus Hitlers anprangerte und gleichzeitig ein rigides System der Segregation aufrecht hielt. Schwarze durften die Restaurants Weißer nicht betreten, in Bussen hatten sie hinten zu sitzen. Dennoch sei es, so der umstrittene US-Historiker, eine „wunderbare“ Zeit gewesen. Viele Schwarze bekamen, als zigtausende Boote für die Landung der US-Armee in Frankreich gebaut wurden, erstmals in ihrem Leben Arbeit. Soldaten der nahen Militärcamps bevölkerten die Bars und Bordelle. Damals soll die „Liebesaffäre“ der Amerikaner mit New Orleans begonnen haben, bis heute gibt es hier eine „Wartime Piano Happy Hour“. Nach Hurrikan „Katrina“ 2005 wurde zuallererst im berühmten French Quarter wieder aufgeräumt und gefeiert. Freilich: Die Stadt ist nun „weißer“ als zuvor, denn viele Schwarze hatten kein Geld, um ihre zerstörten Häuser wieder aufzubauen, und sind weggezogen. Was Max Reinhardts amerikanisches Stück vom Leben und Sterben des reichen Mannes heute in dieser Stadt zu sagen hätte? Der afroamerikanische Jedermann blieb jedenfalls bis zuletzt Reinhardts Herzensprojekt. Im Sommer 1943 galt ihm das Werk als „vielfach vorbereitet“; realisieren konnte er es nicht mehr. „Mich selbst regt die Idee sehr auf“, schrieb er noch in einem seiner spätesten Briefe an Helene Thimig. Nach mehreren Schlaganfällen starb Max Reinhardt im Oktober 1943 in seinem New Yorker Hotelzimmer. Seine Söhne Wolfgang und Gottfried hielten den besorgniserregenden Zustand aus Angst vor der Reaktion der Theaterwelt und Presse lange geheim. Helene Thimig borgte Geld für die viertägige Zugfahrt nach New York, kam jedoch erst an, als ihr Mann nicht mehr sprechen konnte. Am 31. Oktober 1943 vermerkte Gottfried: „Gegen ein Uhr früh letztes Atmen.“

Nach der Trauerfeier in der Synagoge sollte der Zauber des Theatermachers alle noch einmal versammeln. Gottfried Reinhardt erinnerte sich später: „Als wir drei das Gotteshaus verließen […], war die Straße vom Central Park bis zur Columbus Avenue schwarz von Menschen. Die gesamte Emigration schien auf den Beinen zu sein. Es war ein überwältigender, erschütternder Anblick.“

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here