Das Grauen ist unfassbar. Was Rousset hier in einer lyrischen Sprache beschreibt, wirkt gerade deshalb roh und schockierend: Wo jede Menschlichkeit abhandenkam, schien Rousset, dieser Eindruck beschleicht einen jedenfalls beim Lesen, mit seiner wortgewaltigen Beschreibung dessen, was er beobachtet hat, einen kräftigen Kontrapunkt zu setzen. Mit Worten als Skalpell seziert er Mithäftlinge, Kapos, SS. Er zeigt auf, wie in den KZs Solidarität kaum mehr zu finden war und Menschen nur mehr schauten, wie sie irgendwie den nächsten Tag überlebten.
Über die Verbrechen und Juden und Jüdinnen ist in Roussets Aufzeichnungen nicht viel zu lesen – wohl deshalb, da er als politischer Gefangener einer anderen Häftlingsgruppe angehörte. Er spart sie aber auch nicht gänzlich aus. Rousset wurde 1943, damals engagierte er sich für eine trotzkistische Partei in Frankreich, von den Nazis in Paris verhaftet, kam zunächst in das Gefängnis von Fresnes und wurde dann in das KZ Buchenwald deportiert. Vom KZ Neuengamme musste er, als die alliierten Truppen sich näherten, an einem Todesmarsch Richtung KZ Wöbbelin teilnehmen, den er überlebte. Bereits im August 1945 schrieb er L’Univers Concentrationnaire. Damit ist das Buch eine der ersten Darstellungen des Systems der deutschen Konzentrationslager in ihrem Aufbau, ihren inneren und äußeren Hierarchien und Funktionsweisen.
Persönliches, Emotionales ist in diesem Buch nicht zu finden. Gleichzeitig lassen die schonungslosen, wortgewaltigen Beschreibungen dessen, was da passiert ist, den Leser voller Emotionen zurück. Rousset ließ sein eigenes Schicksal nahezu außen vor. Ihm ging es hier um eine Analyse der Gruppen von Mithäftlingen, der Hierarchien, eben des KZ-Systems an sich. Interessant ist im Rückblick seine Wortwahl: Er spricht manchmal von Häftlingen, wesentlich öfter aber von „KZ-Menschen“. Und fügt man all das, was er über das Dahinvegetieren in den Konzentrationslagern berichtet, zusammen, ergibt sich auch der Eindruck, als ob die KZs aus Menschen andere Wesen gemacht hätten. Später wird man das als Entmenschlichung beschreiben.
„KZ-Menschen“ waren offenbar zu vielem fähig, das heute schwer vorstellbar ist, im Rückblick in der Rezeption teils auch tabuisiert scheint. Bei Rousset gibt es kein Schwarz und Weiß, keine klaren Opfer und Täter. Bei Rousset finden sich auch unter den Opfern viele Täter, die Mitgefangene quälen, um sich irgendwie in diesem sadistischen System ihren eigenen Platz und damit das längerfristige Überleben zu sichern. Oder einander sogar töten. „Für zehn Gramm Brot, für ein bisschen Platz bringen die Häftlinge sich in den Nächten gegenseitig um“, berichtet er vom Todesmarsch. „Am Morgen liegen Leichen in den Straßengräben, übersät mit Blutergüssen. In Wöbbelin müssen Wachen mit Knüppeln bei den Toten aufgestellt werden: Wer das kümmerliche, stinkende Fleisch der Leichen isst, wird erschlagen.“
Entkoppelt. Menschenfleisch hat wohl der eine oder andere Häftling aber auch, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein, in einem KZ gegessen. Rousset berichtet, dass ein KZ-Insasse eines Tages ein menschliches Gebiss in seiner Suppe fand. Der Fund wurde gemeldet und untersucht. Dabei kam heraus, dass der Küchenkapo und der Kapo des Krematoriums gemeinsame Sache gemacht hatten. „Das Fleisch aus der Küche wurde an die Zivilen verkauft, den KZ-Menschen Menschenfleisch serviert. Das Geschäft war zu aller Vorteil. Die beiden Kumpane, die das Fleisch verschwinden ließen, profitierten erheblich; und da die Gefangenen ohnehin von dem echten Fleisch unter keinen Umständen etwas abbekommen hätten, war es ein Akt seltener Barmherzigkeit, ihnen immerhin Kadaver vorzusetzen. Fleisch ist Fleisch, auch wenn es vom Menschen stammt. Die beiden Kapos wurden auf dem Appellplatz von Neuengamme gehängt.“
Die „KZ-Menschen“ entkoppelten sich quasi von ihrem früheren Sein. „Die gesellschaftliche Position, die einer im zivilen Leben eingenommen hatte, spielte im Lager keine Rolle“, schreibt Rousset. „Sie hörte auf zu existieren, ja, sie schien wie eine lächerliche Karikatur, die sich in keinerlei Bezug zu dem KZ-Menschen setzen ließ. Eines Morgens […] brachte ein Franzose einen Gefährten zu mir. […] Der Mann war nur noch Haut und Knochen, eine verschrumpelte, kümmerliche Gestalt. Er war in der Nacht furchtbar verprügelt worden und hatte blaue und schwarze Flecken und Prellungen im Gesicht und am ganzen Körper. Seine blau gestreifte Jacke war schmutzig und zerrissen, von seiner Hose blieb nur das obere Viertel, das ihm in Fetzen um die Knie hing. Er ging barfuß. Er sah mich flehend an, und am Grund seines Blicks lag dieselbe irre Angst wie bei allen. Als er mir sagte, er komme aus Toulouse und sei Rechtsanwalt, hatte ich Mühe, nicht laut loszulachen: Es war schlichtweg unmöglich, sich diesen Unglücklichen in der Rolle eines Anwalts vorzustellen. Der Versuch, beide Bilder zusammenzubringen, erzeugte einen unwiderstehlichen komischen Effekt. Und dasselbe galt für uns alle: Im KZ löste der Mensch sich Stück für Stück auf.“
Rousset überlebte und kehrte nach Paris zurück. In nur drei Wochen diktierte er seiner Frau Das KZ-Universum. Der Text erschien in drei Teilen in der Zeitschrift La Revue internationale. Sein Lagerbericht wurde im damaligen Paris als eines der bedeutendsten Zeugnisse über den KZ-Terror der Nazis wahrgenommen – fand aber eben nicht den Weg auf den deutschsprachigen Büchermarkt. 1947 veröffentlichte er dann seinen Debütroman Die Tage unseres Todes, der sich ebenfalls mit dem KZ-Leben befasste und etwa auch von Hannah Arendt in ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zitiert wurde.
Jeremy Adler, emeritierter Professor für Deutsche Sprache und Senior Research Fellow am Kings College London, hält in seinem Nachwort zu der nun erschienenen deutschen Ausgabe, Das KZ-Universum, fest, dass Arendt Rousset sogar ihr Verständnis des „radikal Bösen“ verdankt, „die Erfahrung des permanenten Sterbens, das in dem ‚Untergang des Menschen’ ein Ende nimmt.“ Damit, so Adlers Fazit, fanden Roussets Einsichten, auch wenn man ihn nicht direkt kannte, ihren Eingang „in die große Debatte um den Krieg“.