Benny Gantz war von 2011 bis 2015 israelischer Generalstabschef und führte zwei Kriege gegen die Hamas im Gazastreifen an. Beim Rückzug aus dem Libanon im Mai 2000 war er der letzte israelische Offizier, der den libanesischen Boden verließ. Im Schrank in seinem Büro in Jaffo verwahrt er die Abschrift eines Dokuments des „SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamts“, in dem minutiös der Geldwert eines Juden in der Schoah ausgerechnet wird, inklusive Kosten der Verbrennung und Verwertung der Zähne und der Asche. Außerdem steht dort ein großes Foto von einem halbgefüllten Weinglas. Gantz hat das Bild von seiner Mutter, einer in Ungarn geborenen Schoah-Überlebenden, bekommen. „Schau immer auf die volle Hälfte“, hat sie ihm geraten.
Interview mit Benny Gantz
WINA: Ich erinnere mich an die Szene, als Sie in Uniform waren und gemeinsam mit Ihrer Mutter Malka ein Fernsehinterview gegeben haben. Es war beeindruckend: Der Chef der stolzen israelischen Armee neben der Mutter, die Zeiten durchlebt hat, in denen Juden schutzlos waren. Inwieweit hat das, was die Generation Ihrer Eltern durchgemacht hat, Ihre Motivation und Identität beeinflusst?
Benny Gantz: Während der Gazaoperation 2014, als israelische Städte mit Raketen beschossen wurden, habe ich meine Mutter gefragt, ob sie in den Schutzbunker geht. Sie hat gesagt: „Nein, ich gehe nicht in den Bunker, ich habe schlimmere Dinge überstanden – wenn die Rakete nicht trifft, ist das kein Problem, und wenn sie trifft, ist das kein Problem mehr.“ Und sie hat mir einen noch wichtigeren Satz gesagt: „Kämpft weiter, aber hört nicht auf, den Palästinensern Essen zu schicken!“ Das ist die moralische Lehre, die ich von ihr mitbekommen habe.
Die Schoah sitzt uns im Kopf, als schlimmste historische Referenz. Wir können sie nicht vergessen. Wir müssen sehr stolz sein auf den Weg, den wir seit damals zurückgelegt haben, obwohl wir hier noch sehr viel zu tun haben. Und ja, ich gehöre zu jenen, die denken, dass wir stark sein müssen. Wenn wir nicht stark sind, werden wir hier überhaupt nicht existieren. Aber das heißt nicht, dass uns alles erlaubt ist. Wir müssen unsere Stärke zügeln. Wenn jemand seine Stärke zügeln kann, dann zeigt das, dass er stark ist und seine Stärke dann einzusetzen weiß, wenn er sie braucht.
Die Israelis debattieren und jammern viel. Aber von Experten hört man immer wieder, dass Israels Sicherheitslage jetzt besser ist als jemals in der Geschichte.
Ich bin auch dieser Meinung, mit einem Warnschild. Es gibt zurzeit keine Bedrohung durch einen Staat, der imstande wäre, Israel zu besiegen. Der Terror ist keine existenzielle Bedrohung, aber er ist sehr störend. Halbstaatliche Bedrohungen von der Art der Hisbollah mit allen ihren Kapazitäten oder der Hamas – sie können uns wehtun, und die Kriege sind schwer. Aber es sind Kriege, bei denen ich weiß, wie sie ausgehen werden – wer in der Vergangenheit gesiegt hat, wird auch in der Zukunft siegen. Allerdings leiden wir unter einem Problem: Es gibt immer eine Verzögerung um eine Generation, bis wir verstehen, was uns passiert ist. Vor dem Krieg von 1973, zum Beispiel, haben wir militärisch falsch gedacht. Wir haben immer viele Jahre gebraucht, um unsere militärischen Antworten an die Realität anzupassen. Jetzt sind wir am Anfang einer Periode des Erstarkens einer radikalen Achse Iran-Irak-Syrien-Libanon mit sowjetischer Rückendeckung, was langfristige strategische Auswirkungen haben kann. Nicht solche, auf die wir keine Antwort haben werden, aber solche, die eine bedeutsame Sicherheitsherausforderung darstellen werden. Ich würde das nicht als existenzielle Bedrohung einstufen – das wäre nur der Fall, wenn Kernwaffen gebaut und wenn sie eingesetzt würden, und auch da hätten wir viele Antworten. Also: Im Sicherheitsbereich bin ich sehr optimistisch, auch wenn ich verstehe, dass es Herausforderungen gibt.
»Die, denen ich egal bin, sagen mir:
Geh in die Politik.
Die, denen ich nicht egal bin, sagen:
Geh nicht in die Politik.«
Benny Gantz
Im Süden hat Israel mit den verschiedenen Raketenabfangsystemen schon seit Längerem eine Antwort auf die Angriffe aus der Luft. Jetzt baut Israel einen Wall, der die unterirdischen Angriffstunnel aus dem Gazastreifen blockieren wird. Ist das Problem Hamas damit gelöst?
Nein, es gibt nie eine hundertprozentige Lösung. Und ich meine, wir werden dort in gewissen Zeitabständen immer wieder Kampfrunden durchmachen müssen. Das ist immer noch besser, als den Gazastreifen besetzt zu halten. Wenn das eine Kosten-Nutzen-Rechnung ist, dann ist es mir lieber, heraußen zu sein und Kampfrunden durchzumachen, als drinnen zu sitzen, mit allem, was das erfordert.
Im Norden hat der syrische Präsident Assad den Bürgerkrieg überstanden. Jetzt werden proiranische Kräfte, vielleicht sogar iranische Soldaten auf dem Golan unmittelbar vor der Nase der Israelis sitzen. Andererseits: Die Familie Assad beherrscht Syrien seit 47 Jahren, und die Grenze war fast immer ruhig.
Es ist sehr gut möglich, dass es weiter ruhig bleiben wird. Die Hisbollah, Assad, der Iran, Russland haben staatliche Interessen, auch wenn sie nichtstaatliche Instrumente einsetzen. Aber operativ wird es hier eine große Herausforderung geben. In ihren ersten 20, 30 Jahren hat die Hisbollah sich unter dem israelischen Druck geformt. Also hat sie nicht Panzerdivisionen gebaut, die wir in drei Minuten vernichten können. Sie hat zivile Häuser hergerichtet – dort gibt es ein Wohnzimmer und ein Raketenzimmer, und wie sollen wir das unterscheiden? Die Hisbollah hat die modernste Luftwaffe der Welt, weil sie keinen einzigen Piloten hat, nur Drohnen. Operativ unterschätze ich das nicht. Aber um alle zu beruhigen: Wir sind stärker und wir werden sie windelweich prügeln, wenn sie uns wieder angreifen.
Das 2015 geschlossene Nuklearabkommen mit dem Iran wurde in Israel von der Regierung und von großen Teilen der Opposition als „schlechtes Abkommen“ abgelehnt. Wie sehen Sie das mit der Distanz von zweieinhalb Jahren?
Das ist kein schlechtes Abkommen, aber es ist weit vom besten Abkommen entfernt, das möglich gewesen wäre. Noch als ich Uniform getragen habe, habe ich gesagt: Der Iran ist ein Weltproblem, ein regionales Problem und auch ein israelisches Problem, in dieser Reihenfolge. Wir müssen nicht als Erste aufspringen und rufen: Wir, wir, wir! Das ist ein Problem der Welt und hat mehr Auswirkungen auf den Jemen als auf uns. Der Iran hat kein Problem mit uns, unser Konflikt mit den Palästinensern ist ein strategischer Vorwand für ihn. Der Iran hat uns benützt, um Kapazitäten aufzubauen, die aus ihm eine Regionalmacht machen. Allerdings hatten die USA die besseren Karten und hätten nicht so einen Kompromiss eingehen sollen. In diesem Sinn hätte man mehr herausholen müssen. Den Iranern ging die Luft aus, auf dem Basar in Teheran haben sie über den Preis von Hühnerfleisch gestritten – und da machen die USA einen Kompromiss? Sie hätten mehr Forderungen stellen und Druck ausüben müssen. Trotzdem: Dieses Abkommen hält die Iraner für zehn bis 15 Jahre von Kernwaffen fern, und das ist mehr, als mit einer Militäraktion hätte erreicht werden können. Daher ist das für mich weniger eine Frage eines guten oder schlechten Abkommens – es ist ein abgeschlossenes Abkommen.
»Ich glaube, dass ich nicht den amerikanischen Präsidenten brauche, um Jerusalem zu unserer Hauptstadt zu erklären. Und es ist nicht nötig,
dass die UNO das bestätigt
oder sich dagegen ausspricht.«
Benny Gantz
Braucht Israel die Bestätigung des US-Präsidenten dafür, dass Jerusalem die Hauptstadt Israels ist? Oder hat Donald Trump mit seiner Erklärung unnötigen Schaden angerichtet?
Ich bin froh darüber, dass ein amerikanischer Präsident erklärt, dass Jerusalem unsere Hauptstadt ist und dass er die Botschaft verlegen wird, und ich bin froh zu sehen, dass auch Guatemala die Botschaft verlegt. Aber ich glaube, dass ich nicht den amerikanischen Präsidenten brauche, um Jerusalem zu unserer Hauptstadt zu erklären. Und es ist nicht nötig, dass die UNO das bestätigt oder sich dagegen ausspricht. Jerusalem war immer unsere Hauptstadt, wir haben für sie gekämpft und Blut vergossen, und wir werden sie verteidigen, wann immer das nötig sein wird.
In einem Vortrag haben Sie kürzlich gesagt: Es gibt keine Aussicht auf Frieden mit den Palästinensern, aber wir müssen es weiter versuchen. Ist das nicht ein Widerspruch?
Nein. Ein Friedensabkommen ist etwas, von dem wir immer geträumt haben. Ein Traum, mit dem wir aufgewachsen sind. Und ich empfehle, dass wir auf diesen Traum nicht verzichten. Da wir einen Partner auf der anderen Seite brauchen, und da dieser Partner im Moment aus seinen eigenen Erwägungen heraus etwas zurückzubleiben scheint, empfehle ich, nicht in der Geiselhaft dieser Situation zu bleiben. Deshalb braucht es eine politische und zwischenstaatliche Anstrengung, die bilaterale Arrangements, aber wenn nötig auch einseitige Arrangements einleitet, beschränkte, kontrollierte, vorsichtige Schritte, ohne Verzicht auf Sicherheitserfordernisse. Dadurch können wir aus der Situation herausfinden, in der die Welt uns sagt, dass wir Besatzer sind, in der wir selbst uns sagen, dass wir Besatzer sind, in der die Palästinenser uns als Besatzer empfinden, und eine Realität herbeiführen, die für uns ein bisschen vernünftiger wäre. Ich glaube, dass das möglich ist. Und wir müssen das im israelischen Interesse machen, nicht im palästinensischen Interesse.
In Israel hört man regelmäßig die Warnung, die schlimmste Bedrohung käme nicht von den äußeren Feinden, sondern von den inneren Problemen: die soziale Kluft, die Vernachlässigung der Peripherie, die Not der Mittelklasse, die teuren Wohnungen.
Die innere Widerstandskraft der israelischen Gesellschaft stellt die vielleicht größere Herausforderung dar. In Israel gibt es eine starke Korrelation zwischen politischer und persönlicher Identität – die Menschen identifizieren sich als Linke, Rechte, Religiöse, Araber. Sie sagen nicht: Ich bin Israeli. Und die Personen, die an der Macht sind, verstärken diese Kluft noch, statt sie zu verkleinern. Wir müssen einander besser kennenlernen, der Kibbuznik muss einen Dialog mit dem Siedler führen. Und wir müssen gewaltige Anstrengungen in den Bereichen Erziehung, Infrastruktur, Verbrechensbekämpfung unternehmen, damit weniger Menschen Sozialleistungen brauchen.
1991 waren Sie ein Kommandant der Operation Salomon, mit der binnen 36 Stunden mehr als 14.000 äthiopische Juden nach Israel geflogen wurden. Die Aufnahme der äthiopischen Juden ist ein wichtiges Argument gegen den Vorwurf, Israel sei rassistisch. Auf der anderen Seite sagen viele aus Äthiopien stammende Israelis bis heute, dass sie sich benachteiligt fühlen. Was sind im Rückblick die nüchternen Schlüsse aus diesem sagenhaften Unternehmen?
Als die Operation losging, haben wir Kommandanten einander gefragt: Ist es gut, einen Traum zu verwirklichen? Die Alten haben von Jerusalem geträumt, sie werden nach Jerusalem kommen und dort sterben, ihr Traum erfüllt sich. Die mittlere Generation opfert sich, denn in vier Stunden kommen sie von einem Kontinent in einen anderen, aus einem Millennium in ein anderes, aus einer Kultur in eine andere – die haben nicht die geringste Chance, sich hier einzugliedern, und sie wissen das. Aber sie opfern sich dafür, dass es für die Kinder Hoffnung gibt. Heute, 27 Jahre danach, meine ich, dass sich für diese Kinder von damals die Hoffnung noch nicht erfüllt hat. Und deshalb gab es die Proteste auf der Straße. Es gibt einzelne, die Erfolg haben, aber die meisten tun sich schwer. Trotzdem darf man nicht auf die Hoffnung verzichten. Es wird keine schnelle, dramatische Lösung geben, aber eine stetige Verbesserung.
Apropos Hoffnung: Israel braucht frische, integre Führungspersönlichkeiten. Als Ihre militärische Karriere zu Ende ging, hieß es, Benny Gantz ist eine der politischen Hoffnungen. 2018 läuft die „Abkühlungsperiode“ aus, nach der Sie ein politisches Amt annehmen könnten. Haben Sie eine Entscheidung getroffen?
Einerseits schauen Sie, was ich hier für ein schönes Büro habe – also warum sollte ich? Ich habe dem Land schon fast 40 Jahre gedient. Andererseits liegt mir viel an unserem Land. Die, denen ich egal bin, sagen mir: Geh in die Politik. Die, denen ich nicht egal bin, sagen mir: Geh nicht in die Politik. Ich bin da in einem Dilemma. Aber ich schließe die Möglichkeit nicht aus.