Nach uralter jüdischer Tradition ist „Pidjon Schwujim“, das Auslösen von Gefangenen, eine moralische Pflicht. Im 12. Jahrhundert urteilte der weise Maimonides: „Du hast kein größeres Gebot als Pidjon Schwujim, denn der Gefangene ist hungrig und durstig und nackt, und sein Leben ist in Gefahr.“ Doch immer und überall war damit die Frage verknüpft, ob es für dieses Gebot auch Grenzen gibt. Für Maimonides gibt es sie: „Man löst die Gefangenen nicht über ihrem Wert aus, um der Weltordnung (‚Tikun Olam‘) willen.“ Gemeint ist damit, dass ein hohes Lösegeld der Anreiz für weitere Geiselnahmen sein kann und somit eine Bedrohung für das Kollektiv darstellt. Berühmt ist der Fall des Rabbi Meir von Rothenburg, der 1286 von König Rudolf I. eingekerkert wurde – Juden brachten für den verehrten Talmudgelehrten eine astronomische Geldsumme auf, doch Meir selbst entschied gegen die Zahlung, um keine anderen Rabbiner in Gefahr zu bringen, und starb sieben Jahre später in der Gefangenschaft.
Heute geht es nicht mehr um einzelne wehrlose Juden in winzigen Gemeinden im finsteren Mittelalter, sondern um die Bewohner eines modernen Zehn-MillionenStaates mit einer der stärksten Armeen der Welt. Aber das moralische Dilemma ist das gleiche. Seit schwerbewaffnete Hamas-Männer am 7. Oktober mehr als 250 Menschen aus Südisrael in den Gazastreifen verschleppt haben, sind „der Krieg“ und „die Geiseln“ in Israel gleichrangige Themen. In jedem seiner zahllosen Briefings betont Armeesprecher Daniel Hagari: „Wir tun weiterhin alles, um alle unsere Entführten zurückzuholen.“ Jede Entwicklung im Kriegsgeschehen wird in den Medien und am Familientisch ebenso leidenschaftlich analysiert wie jeder Hinweis über die Lage der Geiseln. Und schon vom ersten Moment an hatte Israels Führung offiziell zwei Kriegsziele vorgegeben: die Zerschlagung der Hamas und die Befreiung der Geiseln. Doch vom ersten Moment an war auch klar gewesen, dass diese ständig im gleichen Atemzug genannten beiden Ziele zueinander im Widerspruch stehen.
Mit dem Teufel verhandeln. Vor einigen Jahrzehnten stand Israel noch im Ruf, dass es Verhandlungen mit Terroristen konsequent ablehnt, und wurde diesem Ruf auch gerecht. Legendär ist der Blitzbesuch von Golda Meir am 2. Oktober 1973 bei Bruno Kreisky in Wien: Israels damalige Ministerpräsidentin war empört darüber, dass Österreichs damaliger Bundeskanzler die Forderungen der palästinensischen Geiselnehmer von Marchegg erfüllt hatte. Noch viel legendärer ist die komplizierte, abenteuerliche Operation, in der israelische Truppen im Juli 1976 auf dem fast 5.000 Kilometer entfernten Flughafen von Entebbe in Uganda mehr als 100 Geiseln befreiten. Aber 1985 willigte die Regierung unter Schimon Peres in den „Dschibril-Deal“ ein, bei dem drei israelische Soldaten im Tausch gegen 1.150 großteils palästinensische Sicherheitshäftlinge freikamen, unter ihnen der spätere Hamas-Mitbegründer Achmed Yassin. Noch schlechter für Israel war der „Wechselkurs“ im Oktober 2011 beim „Schalit-Deal“, als die Regierung unter Benjamin Netanjahu im Tausch gegen einen einzigen verschleppten Soldaten 1.027 palästinensische Sicherheitshäftlinge freigab, unter ihnen Yichye Sinwar, jetzt Hamas-Chef im Gazastreifen und Mastermind des Überfalls vom 7. Oktober.
Vom ersten Moment an war auch klar gewesen,
dass diese ständig im gleichen Atemzug genannten
beiden Ziele zueinander im Widerspruch stehen.
Seit Langem ist also klar, dass Israel bereit ist, „auch mit dem Teufel zu verhandeln“, um Soldaten heimzuholen. Umso mehr gilt das jetzt für den präzedenzlosen Fall der in großer Zahl aus dem israelischen Staatsgebiet verschleppten Zivilisten. Soldaten, so heißt es, sind selbst Organe des Staats, wissen um die Gefahren und können sich grundsätzlich selbst schützen, doch die Kibbutzniks in Südisrael haben darauf vertraut, dass der Staat sie schützt, und wurden am 7. Oktober vom Staat im Stich gelassen. Tatsächlich ist im November ein erstes „Geschäft“ – das ist das ekelhafte Wort, das da verwendet wird – zustande gekommen, bei dem Israel sich der Hamas gebeugt hat. 70 israelische (und rund 40 ausländische) Geiseln kamen frei im Tausch gegen eine einwöchige Feuerpause, 210 palästinensische Sicherheitshäftlinge und Hilfslieferungen, von denen auch die Hamas profitierte.
Zum Zeitpunkt, da diese Zeilen geschrieben werden, war der 30. November der bislang letzte Tag, an dem die Hamas Geiseln freigelassen hat. Schon seit mehr als vier Monaten sitzen also verschleppte Israelinnen und Israelis im Gazastreifen in der Hölle, darunter auch Kleinkinder, alte Menschen und Kranke. Offiziell spricht man von 134 Geiseln. Aber von mehr als 30 weiß man schon sicher, dass sie tot sind; hier geht es nur noch darum, die Leichen herauszubekommen. Bei den restlichen wird davon ausgegangen, dass sie am Leben sind. Aber sicher ist das nicht. Nach einem langen Stillstand bemühen sich derzeit katarische, ägyptische und amerikanische Vermittler um ein zweites „Geschäft“ mit der Hamas. Und die Dilemmas, die für Israel damit verbunden sind, sind die gleichen wie beim ersten Mal, bloß noch schärfer –, weil die Terrororganisation noch härtere Bedingungen stellt – und weil die Geiseln keine Zeit mehr haben.
Ein Abkommen „Jetzt!“ oder Krieg bis zum Sieg? Der Großteil der Angehörigen der Entführten verlangt ein Abkommen mit der Hamas, und zwar „Jetzt!“ („Achschav!)“ – so die Parole bei den Demonstrationen. „Es geht hier nicht nur um uns persönlich“, argumentiert Inbar Moses Auerbach, Tochter von Margalit und Gadi Moses. Ihre Mutter kam im November frei, ihr Vater wird noch irgendwo im Gazastreifen festgehalten. „Wir können als humaner Staat nicht überleben ohne die Gewissheit, dass es die Verpflichtung des Staates gibt, für uns alle einzustehen, und dass jedes Menschenleben wichtig ist. Das sind die Werte des jüdischen Volkes, die Werte, nach denen wir unsere Kinder erziehen.“
Die Hamas möchte nur eines: den Krieg irgendwie als Organisation überleben. Ihre Ausgangsforderung war, dass der Krieg augenblicklich beendet wird, Israel seine Truppen vollständig abzieht und die „Belagerung“ des Gazastreifens aufhört. Das ist für Israel indiskutabel. Doch irgendwann wird die Hamas vielleicht etwas realistischere Forderungen stellen: eine möglichst lange Feuerpause (man spricht von sechs Wochen) und die Freigabe von Dutzenden palästinensischen Sicherheitshäftlingen für jede israelische Geisel. Wenn eine derart lange Feuerpause eingehalten wird, besteht für Israel die Gefahr, dass es den Krieg danach nicht so einfach wieder hochfahren kann – wegen des internationalen Drucks und aus militärischen Gründen, denn eine Armee hat keine StartStopp-Taste. Und wenn Israel für tausende Sicherheitshäftlinge die Gefängnistore öffnet, werden zwangsläufig viele ganz üble Terroristen darunter sein, auch solche, die wegen mehrfacher Morde verurteilt wurden, und sogar einige oder alle der Ungeheuer, die am 7. Oktober gewütet haben!
Es ist ein höllisches Preiskalkül. Einerseits: Das Leben der Geiseln ist gerettet. Andererseits: Wenn Massen von Terroristen frei herumlaufen, dann ist das Leben von vielen anderen Menschen gefährdet. Und wenn Israel wegen der langen Feuerpause die Hamas nicht ausschalten kann und den Krieg nicht gewinnt, ist vielleicht der ganze Staat gefährdet. Noch komplizierter wird es, wenn sich die Frage stellt, ob man wieder auf ein „Geschäft“ eingehen soll, bei dem nur ein Teil der Geiseln freikommt. Jede gerettete Geisel ist ein humanitärer Gewinn – aber solange nicht alle Geiseln freikommen, hat Israel taktisch nichts gewonnen. Denn auch wenn die Hamas statt 134 nur mehr 50 Geiseln hat, ist Israel ja noch genau so erpressbar wie zuvor, und die Hamas kann das ewig so weiterziehen, indem sie Geiseln immer nur in kleinen Tranchen herausgibt.
Angesichts der absurden Forderungen der Hamas hat sich in Israel vorläufig ein anderer Zugang durchgesetzt. Demnach würde die Fortsetzung der Offensive die Geiseln nicht gefährden, sondern im Gegenteil ihre Chancen verbessern. Erst „das Messer am Hals“ könnte Hamas-Chef Sinwar vielleicht dazu bringen, vernünftige Vorschläge zu machen. „Unser militärischer Druck ist das beste Mittel, um unsere Geiseln zu befreien“, sagte Außenminister Israel Katz bei der Sicherheitskonferenz in München. Sicher ist: Es wird in Israel keine Siegesfeiern geben können, wenn aus dem Gasastreifen 134 Särge zurückkommen.
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