„Wir waren in Fauna und Flora unterwegs“

Die Wiener Historikerin, Expertin für NS-Strafjustiz und langjährige Leiterin des Archivs des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) Ursula Schwarz im WINA-Interview.

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Kurt und Ilse Mezei, 1944 (DÖW Foto 9443).

Mit ihrem Lexikon der Wiener Gemeindebauten haben DÖW-Archivarin Ursula Schwarz und Co-Autor Peter Autengruber bereits vor zehn Jahren ein vielgelesenes Standardwerk vorgestellt. Handlich und übersichtlich, mit einem umfangreichen Bildmaterial, das zu einem Großteil ebenfalls von den beiden Historiker:innen selbst zusammengestellt wurde, bildet das im Verlag Wundergarten Herbst 2023 bereits in dritter erweiterter Auflage erschienene Buch einen hilfreichen ersten Überblick über rund 400 benannte Gemeindebauten in Wien – eine eindrückliche Zahl, die noch weiter getoppt wird, erzählt Schwarz im Gespräch mit WINA, denn in Wien gibt es insgesamt weit über das Drei- bis Vierfache an Gemeindebauten, von denen jedoch nur 400 „Namen“ tragen – und um diese geht es im Lexikon der Wiener Gemeindebauten, um deren Namen, Größe, Lage, Architekt:innen, aber auch Künstler:innen, deren Werke im (halb)öffentlichen Raum oft heute kaum noch bekannt, geschweige denn auffindbar sind. Einen besonderen Schwerpunkt legten die beiden Autor:innen für ihre lang erwartete zweite Auflage, die im Frühjahr 2023 erschien – und bereits nach wenigen Wochen auch schon wieder vergriffen war – auf den Schwerpunkt jüdische Bewohner:innen der Wiener Gemeindebauten bis 1938. Doch wie hat eigentlich alles begonnen, vor welchen Schwierigkeiten stand das Autor:innen-Duo bei den mehrjährigen Recherchen, und wie viel Forschungsarbeit braucht eine umfassende Aufarbeitung jüdischer Gemeindebaubewohner:innen in den kommenden Jahren noch?

WINA: Ein „Lexikon“ der Wiener Gemeindebauten: Schon allein der Gedanke, ein solches zu erstellen, erscheint auf den ersten Blick eine schier unlösbare Aufgabe.

Ursula Schwarz: Das stimmt! Aber als Peter Autengruber vor fast zehn Jahren zu mir kam, um mir zu erzählen, dass es dieses „Lexikon“ zu schreiben plane – er hatte zuvor das Lexikon der Straßennamen herausgebracht –, habe ich gesagt: Nicht ohne mich! Denn ich hatte bereits meine Diplomarbeit und danach meine Dissertation zu den Wiener Gemeindebauten und deren Namensgebungen geschrieben.

Ursula Schwarz, Autorin

Sie haben nicht nur historische Gemeindebauten, vor allem aus der Zeit des „Roten Wien“, in Ihr Lexikon aufgenommen, sondern auch benannte Gemeindebauten der jüngeren Zeit.

| Genau. Wir haben alle Gemeindebauten bis 2004 – damals hat man mit dem Bau von Gemeinbauten aufgehört – erfasst, und dann wieder jene ab 2014: In diesem Jahr wurde mit dem „Gemeindebau neu“ erneut mit dem Bau von Gemeindebauten begonnen, zu diesen gehören heute etwa der „Barbara-Prammer-Hof“ oder der „Karlheinz-Hora-Hof“. Was die historischen Gemeindebauten betrifft, wurde mit deren Errichtung in der Ersten Republik begonnen, mit Pausen während des Austrofaschismus und der NS-Zeit – wobei es sehr wohl während des Zweiten Weltkrieges zu Bauvorhaben kam. So wollte die NS-Regierung 80.000 neue Wohnungen in Wien errichten, übriggeblieben sind dann die Siedlungen „Am Wienerfeld Ost“ und „Am Wienerfeld West“, erbaut 1939 bis 1942, von denen Letztere jedoch seit 2023 aufgrund ihres schlechten Zustands Stück für Stück abgebrochen und durch eine Neuanlage ersetzt wird. Meine Großmutter zum Beispiel ist kurz nach deren Errichtung mit ihren vier Kindern in die Siedlung Wienerfeld Ost eingezogen – aber wir Kinder wussten lange Zeit nichts davon, dass es eine der beiden Wiener Siedlungen war, die vom NS-Regime errichtet wurden. Meine persönliche intensive Auseinandersetzung mit den Wiener Gemeindebauten begann erst, als ich mir ein Thema für meine Diplomarbeit überlegen musste. Und tatsächlich gab es zum damaligen Zeitpunkt, Ende der 1990er-Jahre, nur das Buch Die Gemeindebauten des Roten Wien. Dass meine Recherchen soweit „ausufern“ würden und mich bis heute begleiten, konnte ich damals freilich noch nicht ahnen.

Ein Aspekt, wenn es um die Namen der Gemeindebauten geht, ist ja, ob diese 1934 bzw. dann 1938 umbenannt wurden – und ab 1945 wieder rückbenannt.

| Das stimmt. Wobei wir festgestellt haben, dass es gar nicht so viele Umbenennung gab, wie man vielleicht erwarten würde. Zum Beispiel wurde der „Karl-Marx-Hof“ nicht amtlich zuerst in „Biedermann-Hof“ umbenannt, um Karl Biedermann zu ehren, der im Zuge der Februarkämpfe als Hauptmann des Bundesheeres maßgeblich an Beschuss und Stürmung dieses Hofes beteiligt war. Bereits im selben Jahr, und dann bis 1945, hieß der Hof amtlich „Heiligenstädter Hof“, seit 1945 wieder Karl-Marx-Hof. Biedermann selbst wurde, da er, nun Major der Wehrmacht, an den Verhandlungen zur Übergabe Wiens an die Rote Armee beteiligt war, noch im April 1945 auf einem Laternenmast auf dem Floridsdorfer Spitz gehängt. Ein anderer, zwischen 1929 und 1931 erbauter Hof in Meidling wurde 1934, ebenfalls nicht amtlich, nach dem Wiener Heimwehrführer Emil Fey benannt. Er wurde aber von den Bewohner:innen aufgrund einer Statue auf dem Gelände „Indianer-Hof“ genannt, und das hat sich lange Zeit gehalten. Fey beging nach der Machtergreifung Hitlers am 15. März 1938 Suizid. Ein drittes Beispiel ist zum Beispiel noch der „Zürcher Hof“ in Favoriten, erbaut 1928 bis 1931, der von der Bevölkerung als „GÖC-Bau“ bezeichnet wurde, da sich darin die Firmenräume der „Genossenschaft Österreichischer Consumvereine“ befanden.

Ein Hof wie der „Heinehof“ wurde hingegen sofort nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten umbenannt. In diesem Falle hatte man schon während des austrofaschistischen Regimes 1937 die Gedenktafel entfernt, da Heine nicht nur jüdischer Dichter war, sondern auch eng verbunden mit der stark wachsenden Arbeiter:innen-Bewegung des 19. Jahrhunderts. Ein „Gegenbeispiel“ sei hier auch noch genannt: der „Otto-Planetta-Hof“ in Favoriten. Dieser war im Jahr 1938 so benannt worden, im Gedenken an den ehemaligen „Putschisten“, der im Juli 1934 Engelbert Dollfuß ermordet hatte und wenige Wochen später hingerichtet worden war. Erst 1949 wurde der Hof neuerlich umbenannt: in „Maria-und-Rudolf-Fischer-Hof“ – dieses Mal in Erinnerung an zwei einstige Bewohner:innen, die 1943 hingerichteten antifaschistischen Widerstandskämpfer:innen Maria und Rudolf Fischer, denen vor Ort heute auch eine Gedenktafel gewidmet ist. Unseren Recherchen nach hat es aber auch hier viele Jahre lang gedauert, bis man in der Bevölkerung aufgehört hat, den Hof nach dem Nationalsozialisten Planetta zu benennen.

Erbaut war der von Ihnen genannte „Zürcher Hof“ an der Laxenburger Straße von der Architektengemeinschaft von Emil Hoppe und Otto Schönthal, der während des NS-Regimes aufgrund seiner jüdischen Herkunft zur Emigration gezwungen wurde. Ab 1945 arbeiteten Schönthal und Hoppe wieder in Wien zusammen. Der „Heinehof“ wiederum war von einem der damals angesehensten Architekten Wiens, Otto Prutscher, erbaut worden. Prutscher wurde 1939 zwangspensioniert, nachdem er sich weigerte, sich von seiner jüdischen Ehefrau Helene, geborene Süßmandl, scheiden zu lassen. Die geplante Emigration scheiterte, Prutscher konnte durch seinen Schritt dennoch das Leben seiner Frau retten.

Sie haben in die Neuauflage Kürzestbiografien aller nachweisbaren Architekt:innen und Künstler:innen ebenso aufgenommen wie ein Kapitel über jüdische Bewohner:innen von Gemeindebauten.

| Ja, denn es war uns wichtig, in der erweiterten Ausgabe die Geschichten der Gebäude und Anlagen noch mehr in den Vordergrund zu rücken, neben den zahlreichen Zahlen und Fakten. Ein weiterer Wunsch war, auf den Umgang mit jüdischen, aber auch NS-Künstler:innen einzugehen, ein Aspekt, der in der ersten Auflage nicht thematisiert werden konnte. Ein Beispiel, das ich dazu nennen will, ist der „Arthur-Schnitzler-Hof“ in Döbling: Als man Ende der 1950er-Jahre mit der Suche nach einem Bauort begann, entschied man sich für eben jenen Platz, an dem das NS-Regime ab 1938 einen Teil des Jüdischen Friedhofs Währing zerstören ließ, um hier einen – nie realisierten – Löschteich zu errichten. An die 2.000 jüdische Gräber wurden damals abgetragen – und genau der Hof auf diesem Areal wurde 1962 in Arthur-Schnitzler-Hof im Gedenken an den großen jüdischen Dichter benannt.

Gibt es Zahlen, wie viele Gemeindebauten insgesamt im Laufe der Zeit nach jüdischen Personen benannt wurden?

| Tatsächlich gibt es dazu noch keine Forschungsergebnisse; neben den bereits genannten fallen mir spontan noch der „Viktor-Adler-Hof“, der „Dr.-Franz-Klein-Hof“ und der „Therese-Schlesinger-Hof“ ein. Das planen wir für die nächste Auflage. Was ich schade finde, ist, dass zum Beispiel die Fassade des „Theodor-Herzl-Hofes“ in der Leopoldstadt derzeit sehr heruntergekommen ist.

Was hingegen bereits statistisch erfasst wurde, ist die Anzahl an Gemeindebauten, die nach Männern bzw. Frauen benannt wurden, und hier liegt der prozentuelle Anteil bei 80:20. Das ist erschreckend, aber im Verhältnis zu anderen Namensgebungsdaten sogar ein relativ „hoher“ Prozentanteil – bei den Verkehrsflächen liegen wir derzeit bei rund 12 Prozent! Und  man ist aktuell auch daran, neue Gemeindebauten vermehrt nach Frauen zu benennen.

Peter Autengruber, Ursula Schwarz: Lexikon der Wiener Gemeindebauten. Namen – Denkmäler – Sehenswürdigkeiten Wien: Wundergarten  2013, 320 S., € 19,99

 

Der Erfassung der künstlerischen Arbeiten in den Gemeindehöfen widmen Sie ebenfalls ein besonderes Augenmerk und sind ja auch persönlich in alle Gemeindebauten gefahren, um diese zum Teil erstmals mit ausführlichem Bildmaterial zu dokumentieren.

| Das stimmt. Und hier haben wir sehr wohl auch auf jüdische Künstler:innen hingewiesen, wie auch auf das große Thema der NS-Kunst, denn viele der immer noch in den Gemeindebauanlagen zu findenden Objekte sind von NS-Künstler:innen geschaffen worden. Hier gibt es teilweise heute Zusatztafeln mit Informationen, aber bei Weitem nicht immer.

Ein zentraler Aspekt im Rahmen Ihrer Arbeit an der Neuauflage ist die Situation jüdischer Mieterinnen und Mieter ab 1938.

| Ja, dieser Aspekt war und ist uns extrem wichtig. Was ich sagen kann, ist, dass es insgesamt rund 2.000 jüdische Mieter:innen waren, die aus den Wiener Gemeindebauten vertrieben wurden. Ein Ballungszentrum war hier die Leopoldstadt, wobei man dazu sagen muss, dass auch so wichtige Gemeindebauten wie der „Goethehof“ in der Schüttaustraße mit seinen 50 Stiegen und der „Schüttauhof“ auf dem Kaisermühlendamm 1938 zum zweiten Bezirk gehört haben. Aber auch im Karl-Marx-Hof waren bis zu ihrem Hinauswurf 90 jüdische Mieter:innen nachweisbar. Eine Familiengeschichte aus diesem Hof, die mich besonders berührt hat und die wir nun auch in unserem Buch aufgenommen haben, ist jene der Familie Mezei: Margarete und Moritz Mezei wurden, gemeinsam mit ihren beiden Kindern, den Zwillingen Ilse und Kurt, am 31. Juli 1938 gekündigt. Moritz wurde 1944 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet, Ilse kam im Bunker der IKG bei einem Fliegerangriff um, und Kurt, der in der technischen Abteilung der IKG arbeitete, wurde noch am 12. April 1945 von der SS erschossen. Einzig Margarete Mezei überlebte, gebrochen, die Shoah.

Eine andere Familientragödie, über die wir im Buch erzählen, trug sich in Verbindung mit dem Gemeindebau in der Gersthofer Straße 75–77 zu, und auch die „Wohnsiedlung Lockerwiese“, eine der wichtigsten Wiener Gartenstadtmodelle, erinnert heute an die rund 40 jüdischen Bewohner:innen, die von hier vertrieben wurden.

Wie ging man 1938 an die „Arisierung“ der Gemeindewohnungen heran?

| Dazu ist zu sagen, dass wir zu diesem Aspekt bereits auf eine Datenbank mit allen jüdischen Bewohner:innen zurückgreifen können, und bereits Mitte der 1990er-Jahre ist die Studie Kündigungsgrund Nichtarier. Die Vertreibung jüdischer Mieter aus den Wiener Gemeindebauten in den Jahren 1938/39 von Herbert Exenberger, Johann Koß und Brigitte Ungar-Klein erschienen, auf die wir uns ebenfalls beziehen. 1938 konnte man sich relativ leicht auf die Volkszählungslisten berufen, in denen zu diesem Zeitpunkt noch die Religion angeführt werden musste; darüber hinaus gab es die Unterlagen der IKG im Wiener Stadttempel, die man auch für die Kündigungen herangezogen hat. Jüdinnen und Juden in Gemeindebauten haben dann ein Schreiben erhalten, in dem es ohne Gründe hieß, diese oder jener müsse bis zu einem gewissen Datum die Wohnung räumen, wobei es meistens zu Monatsanfang war. Manche haben sich bemüht, um Aufschub anzusuchen, was nahezu nie genehmigt wurde; manche haben versucht, die Wohnung auf den:die arische:n Partner:in umschreiben zu lassen, aber auch das war schwierig – die meisten kamen von ihren bisherigen Wohnungen direkt in Sammelwohnungen.

Wie sah die Situation nach Kriegsende 1945 aus?

| Angesichts der Wohnungsnot damals war es für Juden und Jüdinnen überaus schwer, ihre Wohnungen wieder zurückzubekommen, wobei man nachweisen kann, dass rückkehrende Jüdinnen und Juden zumindest bei Wohnungen, aus denen deklarierte Nationalsozialisten ausgewiesen wurden, bevorzugt wurden. Auf perfide Weise erhielt man bei der Rückkehr aus Konzentrationslagern dann eine höhere „Punkteanzahl“ bei der Antragstellung. Wenn ich das jetzt so erzähle, klingt das trocken und distanziert, aber ich muss gestehen, dass wir bei der Recherche oft auch Pausen einlegen mussten, um all diese Daten und Fakten zu „verdauen“.

Was gilt es aktuell noch zu tun?

| Was uns bei der Recherche aufgefallen ist, ist, dass es Gemeindebauten gibt, zum Beispiel einige im 11. Bezirk, an denen Tafeln im Gedenken an die vertriebenen und ermordeten einstigen jüdischen Bewohner:innen zu finden sind – in vielen anderen Gemeindebauten fehlen diese Gedenktafeln. Eine Frage, die sich bislang nicht klären ließ, war weiters, wie viele Menschen in den nachweisbar jüdischen Wohnungen gelebt haben.

Was wir dazu anbieten, sind Lesungen mit anschließenden Gesprächen. Und dabei merken wir immer wieder, dass die Zuhörer:innen am Ende doch sehr erschüttert sind und viele Fragen stellen.

Ich kann abschließend festhalten, dass wir immer wieder Neues entdecken und sich Querverbindungen nachweisen lassen, von denen wir vorher gar nichts wussten. Hier helfen auch die eben erwähnten Lesetouren, die wir gerne anbieten und von denen wir ebenfalls jedes Mal wieder viel neues Material und persönliche Geschichten mitnehmen. Und sogar einige Stadtführer:innen haben sich unser Buch vorgenommen und bieten heute Touren durch die Wiener Gemeindebauten an. Das finde ich sehr schön.

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