Kollektive Einsamkeit

Aus der Wahrnehmung vieler Menschen in Österreich ist der 7. Oktober 2023 in Israel bereits wieder aus dem Blickwinkel verschwunden. Es ist halt der Nahostkonflikt erneut aufgeflammt. Krieg, weit weg. Der 7. Oktober fällt aus meiner Sicht aber in eine Kategorie mit 9/11 – nur dass in Israel von Angesicht zu Angesicht sadistisch vergewaltigt, gefoltert, gebrandschatzt und gemordet wurde. Und entführt – auch Kinder.

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Ein neues Jahr hat begonnen – da sind Ereignisse, die Monate zurückliegen, nicht in der unmittelbaren Umgebung stattgefunden haben und keine Auswirkung auf den eigenen Alltag haben, rasch vergessen. Das Attentat der Hamas mit mehr als 1.200 Toten, noch mehr Verletzten und Traumatisierten und mehr als 200 entführten Geiseln? Ach ja, der Nahostkonflikt. Geht ja seit Jahren so. Dieses Mal war das Attentat ein bisschen schlimmer, aber: Das, was danach losging – naja. Was kann denn die Bevölkerung von Gaza dafür? Und ist ja auch irgendwie verständlich: die Besatzung. Das „Freiluftgefängnis“. Irgendwann läuft das Fass dann über.

Es sind schwierige Gespräche in diesen Wochen. Sie sind schwierig, weil es viel Kraft kostet, die Fassung zu bewahren. Sie sind aber auch schwierig, weil von Mal zu Mal klarer wird, dass Teil des Problems auch die Kluft des Informationsstandes ist.

Österreichische Medien vertiefen sich nachvollziehbarerweise nicht in jedes Detail. Israelische Medien wiederum werden hier zu Lande hauptsächlich von Juden und Jüdinnen gelesen. Letztere fieberten an den Tagen, an denen Geiseln freigelassen wurden, mit: Kommt die kleine Abigail endlich frei? Und lebt Baby Kfir noch? Die Kinder waren jenen, die hier nicht ständig online i24, Times of Israel, Haaretz, Jerusalem Post oder andere israelische Medien verfolgten, kein Begriff.

Diaspora-Juden und -Jüdinnen hat der 7. Oktober 2023 und alles, was danach passierte, in eine Art
kollektive Einsamkeit katapultiert.

Also erzähle ich immer und immer wieder, was am 7. Oktober passiert ist. Dass es da nicht nur um das Töten von Menschen ging, sondern auch darum, Angst zu verbreiten. Menschen wurden vor ihrer Ermordung noch gequält und gefoltert, teils dadurch, dass Familienmitglieder – Kinder genauso wie Eltern – vor ihren Augen abgeschlachtet wurden. Babys wurden ebenso getötet und verstümmelt wie junge Frauen auf einem Festival – nachdem die Hamas-Terroristen sie brutal vergewaltigt hatten. Von all dem wurden Videos aufgenommen, ins Netz gestellt, aber auch über die Smartphones der Ermordeten an Verwandte verschickt.

Das führt zu Betroffenheit. Nein, diese Details seien nicht bekannt gewesen. Ja, das sei schon schlimm. Aber man müsse doch den Kontext sehen, da gebe es ja eine Vorgeschichte. Und inzwischen seien viel mehr Frauen und Kinder in Gaza gestorben als in Israel. Israel verfüge mit der IDF über eine moderne, technisch bestausgerüsteten Armee. Da gebe es ein Ungleichgewicht.

Und dann versuche ich zu erklären, dass das eine der perfidesten Waffe der Hamas überhaupt ist: die eigene Bevölkerung nicht nur zur Disposition zu stellen, sondern sie auch noch quasi am Silbertablett zum Abschuss freizugeben. Indem die Hamas auch aus Krankenhäusern operiert. Indem sie einen Abstieg zum Tunnelsystem in einem Kindergarten anlegt. Und ich sage, dass die Toten in Gaza ebenso Opfer der Hamas sind wie die Toten in Israel.

Und dann merke ich, wie ich in der Wahrnehmung meines Gegenübers klinge wie eine Militaristin (die ich nicht bin), dass ich als radikal wahrgenommen werde (auch hier ist die Selbsteinschätzung eine andere), dass ich mich sehr allein fühle. Wenn ich dann mit anderen Gemeindemitgliedern spreche, merke ich: Es geht ihnen ähnlich. Diaspora-Juden und -Jüdinnen hat der 7. Oktober 2023 und alles, was danach passierte, in eine Art kollektive Einsamkeit katapultiert.

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