Interview mit Vladimir Jurowski
WINA: Nach Ihrem erfolgreichen Hamlet in Glyndebourne im Juni debütierten Sie jetzt bei den Salzburger Festspielen mit Alban Bergs Wozzeck. Beide Produktionen und Ihre Dirigate wurden von der Kritik bejubelt. Wie kam es zur Einladung nach Salzburg?
Vladimir Jurowski: Die Einladung kam von Intendant Markus Hinterhäuser; er kannte mich bereits durch meine Arbeit und über seinen ständigen Liederabendpartner, den großartigen Bariton Matthias Goerne, der jetzt auch die Partie des Wozzeck gesungen hat.
Warum gerade Alban Bergs Wozzeck?
❙ Markus Hinterhäuser hatte mich beim Schnittke-Festival 2009 in London erlebt und wusste von meiner Vorliebe für die Musik des 20 Jahrhunderts. Alban Berg zählt für mich eigentlich schon zur Klassik, vergleichbar mit Mozart oder Beethoven. Er wusste auch, dass mir das Stück sehr vertraut war, auch wenn ich es schon länger nicht gemacht hatte. Die Aussicht, die Oper mit Matthias Goerne, William Kentridge und den Wiener Philharmonikern zu realisieren, war zu verlockend, um an meinen eisernen Prinzipien festzuhalten. Im konkreten Fall hieß das, unseren vierwöchigen Familienurlaub zu streichen. Das ist mir sehr wichtig, und das versuche ich durchzuhalten: komplett abschalten, keine Partituren mitnehmen. Dieses Jahr ging das nicht, stattdessen musste ich fünf Wochen Proben einschieben, daran war Wozzeck schuld!
Es gibt einige legendäre Interpretationen dieser Oper. Sie erwähnten einmal, dass Sie in der Sowjetunion auch Aufnahmen mit Karl Böhm gehört und sehr geschätzt haben. Wie trennt man künstlerisches Können vom politischen Verhalten eines Karl Böhm während der NS-Zeit?
❙ Das ist wirklich ein schwieriges Thema, ich versuche. soweit das möglich ist, einiges auseinanderzuhalten: Böhm war ja in kein NS-Verbrechen direkt verwickelt; dass er aber von der Situation profitierte und Karriere gemacht hat, ist eindeutig. Auch seine diversen Äußerungen waren ziemlich anstößig. Das muss für sein Gewissen problematisch gewesen sein. In der Zwischenzeit wird er das mit dem lieben Gott schon geklärt haben. Dennoch, Böhms Aufnahmen der Mozart-Opern habe ich sehr gemocht, vor allem bevor ich Nikolaus Harnoncourt kennengelernt habe. Mit Böhm war ein ehrlicher Musiker am Werk, sehr streng, oft lieblos, aber mich interessierte der Klang, und der war so durchsichtig und klar.
Und bei Herbert von Karajan?
❙ Der Musiker Karajan interessierte mich bei Weitem mehr als Böhm. Karajan ist da eine andere Dimension, er war ein richtiger Visionär, und dass er Karriere bei den Nazis gemacht hat, ist ein Faktum. Aber er hat so viel Gutes für die Musikwelt geleistet, dass man einen gewissen Abstand gewinnen und das als Jugendsünde einordnen kann. Sie haben alle für ihre Fehler bezahlt, die Entnazifizierung fand statt. Ich muss da immer auch an die Geschichte meines Landes, der Sowjetunion, denken, wie viele Parteimitglieder und Mitläufer es bei uns gegeben hat. Man kann den Menschen von damals ihre Blauäugigkeit, ihr Unwissen eher verzeihen, weil es den Nationalsozialismus vorher nie gab und man sich das Ausmaß dieser Verbrechen daher auch nicht vorstellen konnte.
Sie klingen ziemlich nachsichtig.
❙ Leider weiß ich aus der eigenen Familie, wie ahnungslos man damals war. Meine Großmutter wollte nicht aus Kiew weg, denn sie argumentierte, dass die Deutschen ein hochzivilisiertes Volk seien. Und das, obwohl mein Urgroßvater am 29. September 1941 beim größten einzelnen Massenmord der SS und der Wehrmacht in Babi Jar gemeinsam mit fast 34.000 Juden ermordet wurde. Als man dann Bescheid wusste, war es zu spät. Heute darf man weder nachsichtig noch apolitisch sein, denn wir haben eine gemeinsame Vergangenheit und wissen alle sehr wohl, was geschehen ist. Wir sehen die heutigen Gefahren und wissen, dass es böse enden kann. Daher müssen wir jetzt politisch wach bleiben und nicht wegschauen.
„Heute darf man weder nachsichtig noch apolitisch sein, denn wir haben eine gemeinsame Vergangenheit und wissen alle sehr wohl, was geschehen ist.“
Sie kamen mit Ihrer Familie 1990, als 18-Jähriger, aus Moskau nach Berlin. Ihr Vater, der bereits im Westen ein bekannter Dirigent war, befürchtete, dass das „Tauwetter“ unter Gorbatschow nur kurz dauern könnte, und entschloss sich deshalb und auch wegen antisemitischer Erfahrungen zur Emigration. Welchen Stellenwert hatte Jüdischsein in Ihrer Jugend in Moskau?
❙ Wir lebten ja mit meiner Schwester und dem jüngeren Bruder noch in der Sowjetunion und nicht in Russland: Da war die religiöse Gesinnung keine Frage des Glaubens, sondern des Blutes, der Rasse. Wir waren leider nicht besser gestellt als Juden im Dritten Reich. Im Pass waren wir abgestempelt, da stand laut Paragraf 5 unsere Nationalität: jüdisch. Obwohl meine Mutter aus Kiew stammte, sprachen wir alle nur Russisch. Nur wenn unsere Großmutter nicht wollte, dass wir etwas verstehen, hat sie Jiddisch gesprochen. Bis zum Schulalter war das Jüdischsein gar kein Thema, erst im Klassenbuch war wieder die „Nationalität“ der Schüler aufgelistet. Ob man auf Grund dessen diskriminiert wurde, hing dann vom Lehrer ab. Ich habe nichts Negatives diesbezüglich erlebt, vielleicht hing das mit meinem Aussehen zusammen: Mich nannten sie Zigeuner – und das war kein Schimpfwort, denn es lebten so viele verschiedene Völker hier zusammen. Meinem Vater ist hingegen im Laufe seiner Karriere als jüdischer Dirigent schon einiges Negatives widerfahren.
Sie stammen aus einer weit verzweigten Musikerfamilie: Schon Ihr Urgroßvater David Bloch gründete das erste Filmorchester in Moskau; Ihr Großvater war Komponist, Ihre beiden Geschwister sind Musiker, und Sie treten jetzt in die Fußstapfen Ihres Vaters Michail: Er dirigierte sowohl an der Komischen Oper in Berlin als auch an der Semper Oper in Dresden. Zwischen 1998 und 2006 war er ständiger Gastdirigent beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, wo Sie mit der Saison 2017/18 als Chefdirigent und künstlerischer Leiter anfangen. Wollten Sie immer schon Musiker werden?
❙ Ich hatte ziemliche Zweifel und auch ein wenig Angst vor einer Musikerkarriere. Ich wuchs zwar in dieser Atmosphäre auf, aber das Theater reizte mich ebenso. Ich dachte zuerst an Schauspiel oder Regie, habe auch literarische Versuche unternommen.
Natürlich habe ich Klavier gespielt, aber nie gut genug, um ein Konzertpianist zu werden. Andererseits konnte ich Partituren sehr schnell lesen, meine Auffassungsgabe war sehr gut. Im Endeffekt haben die Musik und das Dirigieren gewonnen, als ich mit fünfzehn Jahren die sinfonische Musik von Dmitri Schostakowitsch und Gustav Mahler entdeckt habe. Doch mein Schlüsselerlebnis habe ich Leonard Bernstein zu verdanken: 1988 hörte ich ihn an vier Abenden mit dem Holsteinischen Jugendorchester, und da wusste ich, das will ich machen. Da meine Eltern schon mit dem Gedanken spielten, in den Westen zu gehen, war ich entschlossen, zu Bernstein nach Tanglewood zu gehen. Zwei Wochen nachdem wir in Berlin ankamen starb Bernstein.
Ab der Saison 2017/18 sind Sie in Berlin engagiert. Wird es von nun an weniger Zeit für Gastauftritte in Opernhäusern und bei Festivals geben?
❙ Natürlich werde ich etwas mehr Zeit in Berlin verbringen, das freut mich auch, weil mein Sohn dort in die Schule geht. Daher plane ich rund vierzehn Konzerte mit meinem Berliner Orchester, aber ich bleibe bis 2020 Chefdirigent des London Philharmonic Orchestra. Eine Opernproduktion pro Jahr möchte ich jedenfalls machen. Ich leite das Staatliche Akademische Russische Symphonieorchester in Moskau weiter und bleibe auch dem Orchstra of the Age of Enlightment treu. Und auch auf die Dirigate in den USA, unter anderem mit den Boston Philhamonic, werde ich nicht verzichten.
Wie politisch ist der Posten in Moskau?
❙ Nur insofern, als das Orchester vom Kulturministerium finanziert wird. Es gibt keine programmatischen, sehr wohl aber finanzielle Einschränkungen. Man denkt natürlich an Rücktritt, wenn Künstlerkollegen verhaftet oder unter Hausarrest gestellt werden. Aber dann überlege ich, wem tue ich damit am meisten weh? Wahrscheinlich den hundert Musikern, für die ich Verantwortung trage, und dem Publikum. So nehme ich mir ein Beispiel an Iván Fischer, der auch nicht mit der derzeitigen Politik Ungarns einverstanden ist, aber weiter dirigiert, solange er keine Einmischung erfährt. Wir versuchen beide, solange wie möglich Licht in das Dunkel zu bringen.
Nach Ihrem großen Erfolg wird Sie Intendant Hinterhäuser sicher wieder nach Salzburg einladen. Gibt es schon konkrete Pläne?
❙ Wir bleiben natürlich in Kontakt. Aber für die nächsten zwei bis drei Jahre möchte ich nicht wieder auf meinen Sommerurlaub mit der Familie verzichten. Wir werden sehen, aber am liebsten käme ich mit einem meiner eigenen Orchester nach Salzburg, z. B. dem London Philharmonic Orchestra oder dem Moskauer Orchester.
Sie haben sich auch mit den Wiener Philharmonikern in Salzburg sehr gut verstanden. Wann hört und sieht man Sie in Wien?
❙ Ich habe mit den Wiener Symphonikern schon in den letzten Jahren ziemlich viel gemacht. Jetzt muss ich mich auf das Jahr 2018 konzentrieren, da bereite ich in Paris Boris Godunow mit Ildar Abdrazakov vor. Mit dem aufregenden Regisseur Barry Kosky, der heuer in Bayreuth so erfolgreich war, arbeite ich an ein paar Projekten in München und Berlin, u. a. an Moses und Aron. Aber ich komme sicher wieder nach Wien, zum Beispiel schon am 3. April 2018 mit dem Gustav Mahler Jugendorchester und der Geigerin Lisa Batiashvili in den Wiener Musikverein.
Vladimir Jurowski
wurde 1972 in Moskau geboren und studierte zunächst am dortigen Konservatorium. 1990 zog er mit seiner Familie nach Deutschland und setzte seine Ausbildung an den Musikhochschulen in Dresden und Berlin fort.
1996 debütierte er auf internationaler Ebene beim Wexford Festival und im selben Jahr am Royal Opera House Covent Garden. Anschließend war er u. a. Erster Kapellmeister der Komischen Oper Berlin (1997–2001) und Musikdirektor der Glyndebourne Festival Opera (2001–2013).
2003 wurde Vladimir Jurowski zum Ersten Gastdirigenten des London Philharmonic Orchestra ernannt und ist seit 2007 dessen Principal Conductor. Darüber hinaus ist er künstlerischer Leiter des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters „Jewgeni Swetlanow“ der Russischen Föderation.
Jurowski ist zu Gast bei führenden Orchestern Europas und Nordamerikas wie den Berliner und Wiener Philharmonikern, dem Concertgebouw Amsterdam, den Philadelphia und Cleveland Orchestras, der New York Phiharmonic, den Symphonieorchestern von Boston und Chicago u. v. a. m. Als leidenschaftlicher Operndirigent gab er 1999 mit Rigoletto sein Debüt an der Metropolitan Opera, heute dirigiert er u. a. an der Mailänder Scala, der Pariser Oper und der Semperoper Dresden.