Reise in die jüdische Vergangenheit Wiens

Was können Objekte über das Leben von Juden und Jüdinnen in Wien erzählen? WINA bat Gabriele Kohlbauer-Fritz, Sammlungsleiterin und Kuratorin am Jüdischen Museum Wien (JMW), anhand von sechs Exponaten aus den Beständen des Museums Einblicke in die wechselvolle Geschichte von Jüdinnen und Juden in Wien zu geben. Sie war vom Mittelalter an geprägt von Koexistenz mit der christlichen Mehrheitsgesellschaft, immer wieder unterbrochen durch brutale Vertreibung und Vernichtung. Wohlhabende Juden waren allerdings auch in Phasen, in denen es keine offizielle jüdische Gemeinde geben durfte, als Hoffaktoren, die die Kriege, aber auch andere Projekte der Habsburger finanzierten, in der Stadt willkommen. Sobald sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts alle Bürger der Monarchie in Wien ansiedeln durften, zählte auch das Gros der jüdischen Gemeinde zur armen Bevölkerung. Davon zeugten die zahlreichen Stiftungen und Wohltätigkeitsorganisationen der wenigen, aber namhaften wohlhabenden jüdischen Familien, die sich ihrer in Ermangelung von staatlicher Unterstützung annahmen.

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FLIESE
MITTELALTER, 14. JAHRHUNDERT ODER FRÜHER
„Diese Fliese aus Ton stammt aus der mittelalterlichen Synagoge Wiens, die 1421 zerstört wurde. Deren Überreste wurden 1995 im Zug der Errichtung des Holocaust-Denkmals nach dem Entwurf von Rachel Whiteread bei Grabungen durch die Stadtarchäologie gefunden. Die Synagoge ist im Lauf der Zeit gewachsen, die Entstehungszeit dieser Bodenfliese wird auf das 14. Jahrhundert geschätzt, könnte aber noch weiter zurück datieren. Die mittelalterliche jüdische Gemeinde, eine sehr angesehene Gemeinde mit vielen Gelehrten, befand sich auf und um den heutigen Judenplatz. Hier haben Juden und Christen in guter Nachbarschaft Seite an Seite gelebt, was nicht hieß, dass es gar keine Konflikte gab. 1421 wurde diese Gemeinde auf Befehl Herzog Albrechts V. vertrieben beziehungsweise vernichtet. Juden und Jüdinnen, die sich einer Zwangstaufe verweigerten, wurden ermordet. Historiker sprechen hier von der Wiener Gesera.“

  „Juden und Jüdinnen, die sich einer Zwangstaufe verweigerten, wurden  
ermordet. Historiker sprechen hier von der Wiener Gesera.“  


Foto: Daniel Shaked

GRENZSTEIN
17. JAHRHUNDERT

„Grenzsteine wie dieser waren um die zweite jüdische Gemeinde im Unteren Werd platziert. Das ist die heutige Gegend um den Karmelitermarkt. Diese Gemeinde existierte von 1620 bis zur neuerlichen Vertreibung der Juden aus Wien 1670/1671 durch Kaiser Leopold I. Juden und Jüdinnen durften sich untertags in der Stadt aufhalten und zum Beispiel Handel treiben, abends mussten sie aber in das Ghetto zurückkehren. Dieses wurde bewacht, was auch zum Schutz der jüdischen Bevölkerung diente, denn es kam in dieser Zeit immer wieder zu Pogromen. Die antisemitischen Überfälle wurden meist von christlichen Studenten angefacht. Bei den Grenzsteinen waren Wachen aufgestellt. Die Synagoge dieser Gemeinde befand sich dort, wo heute die Leopoldskirche steht. Nach der Vertreibung der Juden wurde die Synagoge ab 1671 zunächst einfach als Kirche genutzt. Im Zug der Türkenbelagerung 1683 ist sie jedoch abgebrannt, und es wurde eine neue Kirche errichtet. Auf ihr sieht man bis heute einen lateinischen Bannspruch auf Juden. Heute ist dieser allerdings kommentiert. Es gab aber auch damals gute Kontakte zwischen Christen und Juden. Überliefert ist beispielsweise das Phänomen der christlichen Hebräisten. Einer von ihnen war Johann Christoph Wagenseil, der bei einem Rabbiner im Ghetto Hebräisch lernte.“

  „Überliefert ist beispielsweise das Phänomen der christlichen Hebräisten.      Einer von ihnen war Johann Christoph Wagenseil,  
  der bei einem Rabbiner im Ghetto Hebräisch lernte.“  

 


Foto: Daniel Shaked

THORA-SCHILD
FRÜHES 19. JAHRHUNDERT
Dieses silberne und teilweise vergoldete ThoraSchild, das kann man einer später erfolgten Widmungsinschrift entnehmen, wurde von den Familien Arnstein und Herz, zwei wichtigen tolerierten jüdischen Familien, gestiftet und kam mit Sicherheit schon in der Vorgängersynagoge des Stadttempels, dem Dempfingerhof, zum Einsatz. Möglicherweise wurde es aber bereits zuvor im privaten Betraum der Arnsteins verwendet. Eine offizielle Gemeinde durfte es zu dieser Zeit keine geben, aber die Hoffaktoren hatten auch immer private Gebeträume in ihren Häusern. Auf diese Zeit geht auch das Vorurteil zurück, dass die Wiener jüdische Gemeinde reich sei. Arme Juden durften damals aber schlicht nicht nach Wien zuziehen. Das Thora-Schild ist auch insofern interessant, als es sich hier um eine typische Wiener Arbeit handelt. Silberschmiede arbeiteten damals sowohl für christliche wie auch jüdische Auftraggeber, die meisten von ihnen waren selbst Christen. Typisch wienerisch ist das gewählte Dektor. Die Krone erinnert einerseits an Kirchenarchitektur aus der Zeit, die Ikonografie ist aber auch stark mit der Habsburger Zeit verbunden. Auch das Rosendekor ist etwas Typisches für Wien um 1800.

  „Auf diese Zeit geht auch das Vorurteil zurück, dass die Wiener jüdische  
  Gemeinde reich sei. Arme Juden durften damals aber schlicht nicht
nach
Wien zuziehen.“  


Foto: Daniel Shaked

THORA-MANTEL
1846–1847
Der Thora-Mantel, in den Farben Braun und Beige mit grünen Blättern und auch etwas Rot gehalten, ist aus Seide, Seidensamt und Baumwolle gefertigt, eingearbeitet wurden auch Metall-, Samt- und Bouillonfäden sowie Metallperlen. Speziell ist hier aber gar nicht das Dekor, sondern die Versteifung durch eingenähte Pappendeckel, was ihn voluminöser macht als aschkenasische Thora-Mäntel aus derselben Zeit. Deshalb wissen wir, dass es sich um ein sephardisches Exemplar handelt. Er stammt schon aus der Zeit vor dem türkischen Tempel in der Zirkusgasse, der in den 1880er-Jahren erbaut wurde. Er wurde daher sicher bereits in der Vorgängersynagoge der türkisch-jüdischen Gemeinde auf der Weißgerber Lände verwendet, vielleicht zuvor auch schon in einem Bethaus im ersten Bezirk. Türkische Juden hatten auf Basis des Passarowitzer Friedens zwischen Österreich und dem Osmanischen Reich von 1718 die Möglichkeit, sich in Österreich und damit auch in Wien anzusiedeln, da im Vertrag festgehalten worden war, dass sich Untertanen des Habsburgerreiches im Osmanischen Reich aufhalten durften und umgekehrt, um Handel zu treiben. So bildete sich in Wien eine sephardisch-jüdische Gemeinde zu einer Zeit, in der sich Juden – außer ein paar privilegierte Hoffaktoren, die die Habsburger zur Finanzierung verschiedenster Projekte brauchten – noch gar nicht hier ansiedeln durften.

  „Türkische Juden hatten auf Basis des Passarowitzer Friedens  
  zwischen Österreich und dem Osmanischen Reich von 1718  
  die Möglichkeit, sich in Österreich und damit auch in Wien anzusiedeln.“  


Foto: Daniel Shaked

TEFILLIN-SACKERL MIT TEFILLIN UND TALLIT 1937
Dieses Tefillin-Sackerl führt von der jüdischen Zuwanderung aus Galizien Ende des 19. Jahrhunderts bis fast in Gegenwart. Es gehörte Ari Rath, dessen Familie um 1900 aus dem heutigen Polen nach Wien kam. Raths Großmutter Frimtsche, die fromm war, bestickte dieses samtene Sackerl für ihren Enkel zu dessen Bar Mitzwa. Neben Tefillin enthält es auch einen Tallit. Obwohl Rath selbst nicht religiös war, zeigen beide Gegenstände starke Gebrauchsspuren. Sie begleiteten ihn sein ganzes Leben lang. 1938 flüchtete er als 13-Jähriger mit seinem Bruder aus Wien in das damalige Palästina, wo er schließlich Journalist und später Herausgeber der Jerusalem Post wurde. Im Alter kehrte Ari Rath wieder nach Wien zurück, und mit ihm auch die Tefillim. 2012, fünf Jahre vor seinem Tod, schenkte er sie dem Jüdischen Museum Wien.

  „Es gehörte Ari Rath, dessen Familie um die Jahrhundertwende aus  
  dem heutigen Polen nach Wien kam. Raths Großmutter Frimtsche,  
  die fromm war, bestickte dieses samtene Sackerl für ihren Enkel  
  zu dessen Bar Mitzwa.“  


Foto: Daniel Shaked

ZEDAKA-SCHALE
ZWEITE HÄLFTE DES 19. JAHRHUNDERTS
Diese silberne Zedaka-Schale in Form eines Körbchens trägt die Inschrift „Für Arme und für arme Bräute“. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts war der Zuzug von Juden nicht mehr strikt verboten, mit dem Staatsgrundgesetz von 1867 wurden sie zu gleichberechtigten Staatsbürgern. Damit kamen aus allen Teilen der Monarchie Einwanderer, Juden wie Nichtjuden, nach Wien, viele von ihnen waren sehr arm. Wien war quasi das Tor zur großen Welt, man hat daher auf eine Verbesserung der Lebensumstände gehofft. Für jene, die dennoch in Not blieben oder im Lauf ihres Lebens gerieten, galt allerdings, dass sich die Stadt Wien hier nicht zuständig sah und sie auf den Geburtsort verwies. Betroffene waren daher auf private Fürsorge angewiesen. So entstanden die Stiftungen der wohlhabenden jüdischen Familien, allen voran der so genannten Ringstraßenfamilien. Mit Zedaka-Boxen oder -Schalen wurde bei den verschiedensten Anlässen für Armutsbetroffene gesammelt. Zu geben ist ja auch eine Mitzwa. Dabei schaute man auch darauf, Mädchen aus armen Verhältnissen eine Mitgift zu geben und so zu ermöglichen, dass sie heiraten konnten.

  „Zu geben ist ja auch eine Mitzwa. Dabei schaute man auch  
  darauf, Mädchen aus armen Verhältnissen eine Mitgift zu geben  
  und so zu ermöglichen, dass sie heiraten konnten.“  

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