Als U-Boot überlebt

Die Wiener Historikerin Brigitte Ungar-Klein legt nun mit Schattenexistenz ihre langjährige Forschung zum Überleben als U-Boot in der NS-Zeit in Buchform vor. Insgesamt haben an die 1.000 Jüdinnen und Juden im Verborgenen in Wien überlebt, sagte Ungar-Klein im Interview mit WINA.

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Brigitte Ungar-Klein: „Es ist der Wunsch, auch wenn die Vorzeichen sehr negativ sind, dass wir doch in eine positive Zeit gehen.“ ©Daniel Shaked

WINA: Was war Ihre Motivation, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen?
Brigitte Ungar-Klein: Es waren mehrere Zufälle. Der erste Zufall war, dass ich von Bekannten gehört habe, dass sie während des Krieges in einem Keller versteckt gelebt haben und dass sich ihre Lebenssituation danach sehr verändert hat, dass aus einem lebenslustigen Mann ein eher depressiver Mensch geworden ist, wo man nach 45 gemerkt hat, da war eine Zäsur und er konnte an das vorherige Leben nicht wirklich anschließen.

Wann haben Sie davon erfahren?
❙ Das war Anfang der 1980er-Jahre. Etwas später, als ich mit meinem Studium bereits fertig war, aber weiterforschen wollte, hat mich Erika Weinzierl gefragt, ob ich mich mit U-Booten beschäftigen will. Ich habe eigentlich sofort zugesagt, ohne dass ich mir vorstellen konnte, erstens wie lange ich brauchen werde – wobei natürlich ein ganzes Berufsleben zwischen dem Anfang und jetzt dem Buch steht. Aber ich wusste auch überhaupt nicht, wo ich Informationen herbekommen könnte. Und es war auch nicht so, dass ich mir einfach Literatur hernehmen konnte, das hat es zum damaligen Zeitpunkt nicht gegeben. Was es gegeben hat, war das Buch von Erika Weinzierl Zu wenig Gerechte und, als Einstieg in diese Forschung, Briefe, die sie bekommen hat, nachdem sie einen Aufruf in Zeitungen gemacht hat, wer hat Juden geholfen? So bin ich zu den ersten Namen gekommen.

Sie haben in der Folge mehrere Jahrzehnte an diesem Thema gearbeitet. Wie sah zu Beginn die Quellenlage aus, und haben sich über die Jahrzehnte auch neue Quellen aufgetan?
❙ Quellen hat es nur sehr beschränkt gegeben. Eben diese Briefe. Dann die bekannte Familie, die ich dazu befragt habe. Von einer Freundin der Familie habe ich erfahren, dass die Mutter bei der Schwester überlebt hat, diese hat in einer „privilegierten Mischehe“ in der Naglergasse gewohnt. Dann habe ich selbst in der jüdischen Gemeindezeitung ein Inserat geschalten, und da haben sich einige Personen gemeldet, teilweise auch Personen, die selbst nicht betroffen waren, aber über U-Boot-Geschichten Bescheid wussten. Da hat sich zum Beispiel auch die Zion-Schwester Hedwig gemeldet, eine Tochter des Ehepaars Wahle, das versteckt in Wien gelebt hat. Sie hat mir über ihre Eltern ein Interview gegeben.
Und so, step by step und zunächst einmal über oral history, also über narrative Lebensgeschichten, bin ich zu der Thematik gekommen. Dann haben mir meine Gesprächspartner auch erzählt, sie hätten sich bei Stellen gemeldet, es hat einen U-Boot-Verband gegeben, der hat Ausweise ausgestellt. Dem bin ich nachgegangen. So bin ich zur Information gekommen, dass es die „Zentralregistrierstelle für die Opfer des Naziterrors“ gegeben hat, wo man sich melden und angeben konnte, aus welchem Grund man verfolgt wurde, und da hat es eben auch schon ein Feld „U-Boot“ gegeben, das man ankreuzen konnte. Diese Karteikarten befinden sich im Wiener Stadt- und Landesarchiv.

»Einige wenige haben das dann überlebt,
aber ein Großteil dieser Aufgegriffenen
ist genauso deportiert
und ermordet
worden.«

Wie schwer ist/war es, hier auf nachvollziehbare Zahlen von Menschen, die als U-Boot in Wien gelebt oder überlebt haben, zu kommen?
❙ Letztgültig ist bei diesen historischen Forschungen eigentlich gar nichts. Es kann sich immer wieder irgendetwas ergeben. Vorausschicken möchte ich, dass die Definition, welche Personengruppe ich in meinem Buch behandle, eine ganz spezielle ist. U-Boot heißt für mich nicht ausschließlich versteckt sein, es geht mir um das Leben im Verborgenen, darum habe ich das Buch ja auch Schattenexistenz genannt. Es waren Existenzen, die sich dahinter, im Schatten abgespielt haben. Es hat Personen gegeben, die sich eine illegale Identität verschafft haben. Es hat Personen gegeben, die versucht haben, ihre Einordnung im Rahmen der Nürnberger Rassegesetze zu verändern, also von einem „Volljuden“ zu einem „Mischling 1. Grades“ zu werden. Es hat Familien gegeben, wo die Frauen dann angeführt haben, dass der Vater gar nicht der Vater war, einfach um für die Kinder eine bessere Einordnung zu bekommen. Ich habe jüdische U-Boote in meiner Kartei aufgenommen beziehungsweise dann in den Statistiken behandelt, die hauptsächlich in Wien im Verborgenen gelebt haben, unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Ein prominenter Fall zum Beispiel waren Dorothea Neff und Lilli Wolff, sie waren beide deutsche Staatsbürgerinnen.

Buchtipp
Brigitte Ungar-Klein: Schattenexistenz. Jüdische U-Boote in Wien 1938−1945.
Picus Verlag 2019,
367 Seiten, € 28

Wie viele Menschen haben Sie gefunden, die in Wien als U-Boot gelebt haben, und wie viele Menschen haben das Kriegsende auch erlebt?
❙ Ich habe etwa 1.500 Personen, die in die Kategorie fallen, die ich behandelt habe, gefunden. Bei ungefähr einem Drittel ist es beim Versuch geblieben. Sie wurden aus den verschiedensten Gründen aufgegriffen, festgenommen und kamen dann eben in die Mühlen der NS-Behörden. Einige wenige haben das dann überlebt, aber ein Großteil dieser Aufgegriffenen ist genauso deportiert und ermordet worden wie viele andere auch.

Das heißt, ungefähr 1.000 Menschen haben als U-Boot oder mit einer falschen Identität in Wien überlebt.
❙ Ja. Es gibt unter diesen 1.000 Menschen, die überlebt haben, noch eine Gruppe von Personen, hauptsächlich Männer und hauptsächlich Personen, die entweder als „Geltungsjuden“ oder als „Mischlinge“ eingeordnet waren, die ab Herbst 1944 versucht haben, von der Bildfläche zu verschwinden. Das ging damit zusammen, dass ab diesem Zeitpunkt vor allem jüngere Männer rekrutiert wurden zum Schanzen Graben – im Burgenland zum Beispiel, in der Steiermark. Mein Vater war zum Beispiel beim so genannten Schanzenbau und war dann ein paar Monate dort zwangsverpflichtet. Der frühere Präsident der Kultusgemeinde, Paul Grosz, sollte sich auch melden und ist damals mit seinem Vater in die Castellezgasse zu dieser Meldestelle gegangen. Er hat aber dann mit seinem Vater einen Weg gefunden, wegzugehen von dort, und war dann von dem Zeitpunkt an versteckt.

»Die Betroffenen haben wirklich Jahre lang um Anerkennung ringen müssen, wie überhaupt Juden als Opfer spät anerkannt wurden.«

 

Sie haben Ihren Vater erwähnt – hat er auch in Wien überlebt?
❙ Mein Vater hat hier überlebt, aber eben nicht als U-Boot, er war so genannter „Mischling 1. Grades“, er war eine Zeit lang als Totengräber am Zentralfriedhof, dann war er als Kürschner zwangsverpflichtet und dann ein paar Monate beim so genannten Schanzen eingeteilt.

Ihr Vater war also bedroht, konnte aber offiziell hier überleben.
❙ So ist es, er war offiziell gemeldet. Es haben ja zwischen 5.000 und 5.500 Juden hier das Kriegsende erlebt, das waren zum Großteil Personen, die in „Mischehen“ gelebt haben, die eben einen Status als „Geltungsjuden“ gehabt haben, Arik Brauer war zum Beispiel ein so genannter „Geltungsjude“.

Wer fiel denn in die Kategorie „Mischling“, wer in die Kategorie „Geltungsjude“?
❙ „Mischling 1. Grades“ war jemand, der einen jüdischen und einen nicht-jüdischen Elternteil hatte und nicht in der Kultusgemeinde eingeschrieben war, das heißt, kein Glaubensjude war, und zwar zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Nürnberger Rassegesetze 1935, was natürlich für die österreichische jüdische Bevölkerung sehr prekär war, denn wie sollten die 1935 schon wissen, was auf sie zukommt. Bei meinen Großeltern und bei meinem Vater war der Fall so gelagert, dass sie – ich nehme an, aus politischen Gründen – etwa 1927 aus der Kultusgemeinde ausgetreten sind, und daher war mein Vater so genannter „Mischling 1. Grades“. „Geltungsjuden“ sind hingegen in der Kultusgemeinde eingeschrieben gewesen.

Menschen überlebten Jahre ohne medizinische Versorgung, ohne regelmäßiges Essen, in Angst, teilweise ohne fixes Dach über dem Kopf, ohne Heizung, ohne Sanitäranlagen. Doch nach dem Krieg wurde ihnen abgesprochen, Opfer zu sein. Wie lange hat es gedauert, bis auch die U-Boote als Opfer, die es zu entschädigen gilt, anerkannt wurden?
❙ Erst mit der 12. Novelle des Opferfürsorgegesetzes wurden U-Boote 1961 finanziell entschädigt. Der behördliche Terminus ist Leben im Verborgenen. Dieses musste in menschenunwürdigen Bedingungen vonstattengegangen sein. Die Betroffenen haben wirklich Jahre lang um Anerkennung ringen müssen, wie überhaupt Juden als Opfer spät anerkannt wurden. Das Opferfürsorgegesetz hat es ja schon relativ bald nach Kriegsende gegeben, und Juden waren gar nicht berücksichtigt, weil es darum gegangen ist, dass man für ein freies, demokratisches, unabhängiges Österreich gekämpft haben musste. Auch eine der bekanntesten Helferinnen, Dr. Ella Lingens, musste über viele Jahre kämpfen, um eine Entschädigung für ihren Aufenthalt in Auschwitz und in anderen Lagern zu bekommen.

Brigitte Ungar-Klein, 1953 in Wien geboren, Lehramtsstudium an der Universität Wien (Deutsch und Geschichte), anschließend Unterricht an einer Wiener AHS. Daneben historische Projekte am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), schließlich von 1996 bis 2013 Leiterin des Jüdischen Instituts für Erwachsenenbildung (JIFE) der Wiener Volkshochschulen. Co-Autorin des Buches Kündigungsgrund Nichtarier sowie Herausgeberin des Bandes Jüdische Gemeinden in Europa. Eben erschien ihre Studie Schattenexistenz. Ungar-Klein ist verheiratet, Mutter zweier erwachsener Söhne sowie sechsfache Großmutter. Sie lebt in Wien. ©Daniel Shaked

1961 kam es also zu dieser Novellierung. Wurden dann alle U-Boote entschädigt?
❙ Wenn man für die Opferfürsorge eingereicht hat, musste man eine Art Erlebnisbericht verfassen, man musste Zeugen beibringen, je mehr Zeugen umso besser. Wenn man sich nach 1945 schon bei diversen Opferverbänden gemeldet und dort einen Fragebogen ausgefüllt hatte, war das schon mal gut. Dann war dokumentiert, dass man im Verborgenen als U-Boot gelebt hatte, aber es musste dann auch von Zeugen bestätigt werden. Schwierig hatten es Personen, die von „arischen“ Familienmitgliedern betreut worden waren, und auch Personen, die beim späteren Lebensgefährten, späteren Ehegatten, bei der späteren Ehegattin versteckt waren.

Wurde das nicht als Leben im Verborgenen anerkannt?
❙ Es wurde nicht als menschenunwürdig anerkannt, weil bei der Familie zu leben oder beim späteren Lebenspartner kann doch nicht menschenunwürdig sein.

Mit welchen physischen, aber auch psychischen Folgen hatten Menschen, die als U-Boot überlebt haben, zu kämpfen? Und zu welchen Brüchen in Lebensgeschichten führte das Leben im Verborgenen?
❙ Ich glaube, dass es bei allen Menschen, die unter Verfolgung leiden mussten, Brüche gegeben hat. Die Familien wurden auseinandergerissen, Familienmitglieder ermordet, da kann man nicht zur Normalität übergehen. Ich habe in meinen Gesprächen gehört, dass man nicht imstande ist, in einem Lift zu fahren, in einem engen Raum zu sein. Elfriede Gerstl hat zum Beispiel Kleidungsstücke gesammelt, und das war sicher eine Kompensation dafür, dass sie als Kind keine oder nur sehr begrenzt Kleidungsstücke hatte. Die wenigsten konnten wieder in ihre Berufe einsteigen. Es hat zum Beispiel eine Opernsängerin versteckt gelebt, sie musste flüstern und hat dadurch ihre Singstimme verloren. Ich habe bereits das Ehepaar Wahle erwähnt: In diesem Fall konnten dann beide wieder in ihren Berufen arbeiten, er war später auch Präsident des Obersten Gerichtshofs. Aber das waren Ausnahmen. Es hing sicherlich vom Alter ab, ob es junge Erwachsene waren, die erst vor oder in einer Ausbildung waren, oder ältere Menschen, die dann einfach nicht mehr anschließen konnten.

Auch Helferinnen und Helfer waren von Repressionen bis hin zu KZ-Internierung und Tod betroffen. Wie mutig müssen Menschen sein, um dennoch für andere einzustehen?
❙ In meinen Gesprächen habe ich wenig von Mut gehört. Ich habe mehr davon gehört, dass es einfach selbstverständlich war zu helfen, dass man ein Gegner des Regimes war. Das Ehepaar Lingens war eindeutig gegen das NS-Regime eingestellt und hat in ihrem Kreis durchaus auch diskutiert, was man tun kann. Die wenigsten haben über Konsequenzen nachgedacht, es war vermutlich auch gar nicht die Zeit, über Konsequenzen nachzudenken. Erst wenn es so weit war, man diese Entscheidung getroffen hat, kam einem vielleicht das Bewusstsein.

Hat das auch damit zu tun, dass die Konsequenzen nicht klar waren? Es war ja auch vielen Juden nicht klar, was sie nach einer Deportation erwartet, was ein KZ ist.
❙ Vor allem diese Endgültigkeit der Konzentrationslager. Das war sicherlich nicht so bekannt, obwohl es selbstverständlich Verordnungen gegeben hat, das hat schon jeder gewusst: Man darf nicht mit Juden verkehren, und es ist auch verboten, Juden zu beherbergen. Das waren ganz dezidierte Gesetzmäßigkeiten.

Hat man gedacht, wenn man erwischt wird, kommt man in ein herkömmliches Gefängnis – oder was hat man gedacht, was dann passiert?
❙ Ich glaube, man hat in der Sekunde nicht gedacht. Und wie man dann schon in der Situation war, war es zu spät.

Wie geht es einem, wenn man selbst Jüdin ist, wenn man hier mit Familiengeschichten von Freunden und Bekannten konfrontiert ist? Wie erschwert diese emotionale Betroffenheit die Arbeit an einem solchen Forschungsprojekt? Oder schafft sie einen leichteren Zugang?
❙ Dadurch, dass ich als Historikerin seit Jahrzehnten im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes bei Projekten tätig bin, die sich hauptsächlich mit dieser Thematik beschäftigen, ist es wohl beides. Einerseits hat man einen, ich will nicht sagen: Schutzmantel – den hat man nicht. Aber man nimmt die Akten, wie sie sind, schreibt den Namen auf, schreibt das Geburtsdatum auf, schreibt die Zeugen auf, schreibt vielleicht, „hat in einem Grab, hat in einer Gruft überlebt“. Das nimmt man so zur Kenntnis. Bei den Gesprächen ist das wieder ein bisschen anders. Wenn ich einen Gesprächspartner habe, der plötzlich zu weinen beginnt, dann tue ich mir bis heute schwer damit. Das rührt einen, da kann man nicht sagen, ich bin Historikerin, ich arbeite.

Sie haben mehrere Enkel, denen Sie auch das Buch gewidmet haben – welche Botschaft möchten Sie Ihnen als Fazit aus Ihrer Forschung mit auf den Weg geben?
❙ Es war mir wichtig, das Buch einerseits meinen Enkelkindern zu widmen, andererseits den Personen, die geholfen haben. Warum habe ich das für meine Enkelkinder gemacht? Man weiß nie, was kommt. Man muss hellhörig sein. Man muss aufpassen. Man soll und darf sich auch nicht verkriechen. Man muss selbstbewusst durch das Leben gehen und nach Möglichkeit auch die Identität nicht verleugnen. Es ist der Wunsch, auch wenn die Vorzeichen sehr negativ sind, dass wir doch in eine positive Zeit gehen.

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