„Wir lassen uns nicht einschüchtern“  

2021 wurden in Österreich 965 antisemitische Vorfälle registriert – eine Zunahme um 65 Prozent gegenüber dem Jahr davor. Diese traurige Bilanz zogen IKG-Präsident Oskar Deutsch und IKG-Generalsekretär Benjamin Nägele bei der Präsentation des Jahresberichts der Antisemitismus-Meldestelle der IKG Wien für das Jahr 2021. Deutsch betonte allerdings: Solch ein „Negativrekord“ sei natürlich erschreckend, „aber wir lassen uns nicht einschüchtern“. Die jüdische Gemeinde kämpfe vielmehr „mit jüdischem Leben, mit Kulturarbeit, mit Jugendarbeit“ dagegen an. (Fotos: IKG/Schmidl)

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„Eine Gruppe von an ihrer Kleidung als jüdisch erkennbaren Personen (hauptsächlich Frauen und Kinder) überqueren die Salztorbücke in Wien, als ein Mann und eine Frau von hinten an ihnen vorbeigehen. Eines der Kinder geht hinter seiner Mutter, als es plötzlich aufschreit; der Mann hatte den Jungen mit Gewalt gestoßen, und als die Mutter den Mann ansah, warf er ihr einen als ‚hasserfüllt‘ beschriebenen Blick entgegen und ging mit der Frau weiter.“

„Sechs junge Männer im Alter von ca. 16 bis 25 Jahren bewerfen eine zu dem Zeitpunkt in Betrieb stehende Synagoge im 20. Bezirk in Wien vom gegenüberliegenden Haus mit Steinen und anderen Gegenständen, schreien dabei ‚Allahu Akhbar!‘. Bei Eintreffen der herbeigerufenen Polizei versuchen die Täter zu fliehen; ein Sicherheitsmitarbeiter der IKG kann einen der Täter ordnungsgemäß an der Flucht hindern, die Polizei führt ihn ab.“

Das sind zwei in dem Bericht geschilderte tätliche Angriffe, die 2021 der Meldestelle bekannt gegeben wurden. Insgesamt setzen sich die 965 gemeldeten Vorfälle und Übergriffe folgendermaßen zusammen: Es kam zu zwölf Angriffen, 22 Bedrohungen, 95 Sachbeschädigungen, 261 Massenzuschriften sowie in 575 Fällen zu verletzendem Verhalten. Unter Massenzuschriften fallen alle Nachrichten, die sich an mindestens zwei Personen richten, das können Mails, Briefe, Publikationen, aber auch Blogs oder Social Media-Beiträge sein. Um verletzendes Verhalten handelt es sich wiederum bei einer antisemitischen Beschimpfung, die sich gegen eine spezifische Person oder Institution richtet, diese kann mündlich oder schriftlich, online oder in Papierform erfolgen.

Nägele gab allerdings zu bedenken, dass man seitens der Meldestelle „von einer weitaus höheren Dunkelziffer“ ausgehe. Der Bericht umfasse nur jene Vorfälle, die gemeldet würden, diese würden dann vom Team der Meldestelle verifiziert und katalogisiert, das aber auch eine weitere wichtige Aufgabe habe, nämlich Betroffene zu begleiten und zu unterstützen, einerseits wenn es um eine Anzeige bei der Polizei gehe, andererseits wenn es eine psychologische Betreuung durch ESRA brauche. Deutsch strich hervor: Hinter jeder Meldung stecke der Mut eines Betroffenen, sich zu wehren.

Sieht man sich die Vorfälle im Jahresverlauf an, kam es zu zwei Spitzen: im Mai sowie im November 2021. Die hohe Anzahl von gemeldeten Vorfällen im Mai (167) sei vor allem auf die Demonstrationen anlässlich der militärischen Eskalation zwischen palästinensischen Terrororganisationen in Gaza und dem Staat Israel zurückzuführen, so Nägele. Viele der 113 Vorfälle im November seien wiederum in einem Kontext mit den Protesten gegen Covid-Schutzmaßnahmen sowie mit der damaligen Ankündigung der Impfpflicht gestanden.

Eine Aufschlüsselung nach ideologischem Hintergrund der antisemitischen Vorfälle zeigt: 461 und damit 48 Prozent waren der politischen beziehungsweise der gesellschaftspolitischen Rechten, dem Rechtsextremismus oder dem (Neo-)Nazismus zuzuschreiben, 148 (15 Prozent) der politischen und gesellschaftspolitischen Linken sowie dem Linksextremismus (inklusive BDS-Bewegung, sie steht für „Boycott, Divestment, Sanctions“ und wendet sich gegen Israel) und 103 Vorfälle (elf Prozent) Personen oder Organisationen, „die weltanschaulich beziehungsweise religiös dem Islamismus zuzuordnen sind“. In 253 Vorfälle (26 Prozent) konnte die dahinterliegende Motivation nicht eruiert werden.

IKG-Generalsekretär Nägele betonte dazu, es allerdings „letztendlich egal“, woher der Antisemitismus komme. Wichtig sei dies jedoch für Präventionsarbeit im Vorfeld, damit man wisse, bei welchen Bevölkerungsgruppen man wie ansetzen müsse. Was aber auffalle: Das Gros der tätlichen Angriffe mit sieben von insgesamt zwölf seien von muslimischen Tätern begangen worden. Mehr als drei Viertel aller 204 antisemitischen Massenzuschriften sei wiederum politisch rechts zuordenbar gewesen.

Der Arbeit der Antisemitismus-Meldestelle liegt die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zu Grunde: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.“ Bei der Kategorisierung helfen zudem die von der IHRA ebenfalls erarbeiteten konkreten Beispiel, so Nägele. Der EU-Rat rief Ende 2018 die EU-Mitgliedstaaten dazu auf, diese Definition zu übernehmen, Österreich hat dies wie viele andere Länder inzwischen auch getan.

Die Antisemitismus-Meldestelle bemühe sich zudem in Kooperation etwa mit ähnlichen Einrichtungen in Großbritannien (CST) oder Deutschland (RIAS) um eine zunehmende Heterogenität in der Datenerfassung, um hier auch internationale Vergleiche anstellen zu können, so Nägele. Dieser Prozess laufe aber noch. Insofern könne man auch nicht sagen, dass Österreich ein Judenhass-Hotspot sei. Den 965 dokumentierten Vorfällen in Österreich im Jahr 2021 stehen beispielsweise 225 in Italien, 447 in Bayern und 2.255 im Vereinigten Königreich gegenüber. Massenzuschriften scheinen zum Beispiel in den Statistiken der drei genannten Länder kaum auf.

Dazu betonte IKG-Präsident Deutsch: „Die Mehrheitsgesellschaft in Österreich ist alles andere als antisemitisch.“ Und es sei seine Hoffnung, dass diese Mehrheitsgesellschaft immer stärker werde – und es damit immer weniger Judenhasser gebe. Der Antisemitismus in Österreich sei jedenfalls nicht stärker als in anderen Ländern, er steige leider weltweit an. Sowohl Nägele als auch Deutsch verwiesen hier zum Beispiel auf die USA. Noch vor einigen Jahren sei es als nicht nötig erachtet worden, dort Synagogen oder jüdische Schulen zu schützen. Immer öfter seien dort aber inzwischen ebenfalls Sicherheitskräfte eingesetzt.

Stichwort Sicherheit: Die Notwendigkeit für diese habe in Österreich weiter zugenommen und werde sowohl von der Polizei als auch den Sicherheitsmitarbeitern der IKG wahrgenommen. Gerne würde er die dafür benötigten Mittel für noch mehr Kultur- und Jugendarbeit ausgeben, so Deutsch. Aber die Sicherheit sei eben auch nötig, um jüdisches Leben zu ermöglichen. Von einem Journalisten nach den Warn-SMS-en an Gemeindemitglieder, etwa vor Demonstrationen, gefragt, betonte Deutsch, dieses Service gebe es weiterhin, man versuche damit „Gemeindemitgliedern die Augen zu öffnen“ und bitte sie, wachsam zu sein. Aber jüdisches Leben müsse stattfinden können. In diesem Sinn betonte auch Nägele: Bei den SMS-Informationen handle es sich um Sensibilisierungshinweise. „Das ist kein Aufruf, nicht auf die Straße zu gehen.“

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