Betroffen ist die ganze Welt

Rastlos taumelnd bewegen wir uns durch die gegenwärtigen Ambivalenzen und Unsicherheiten.

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Die letzten Wochen sind geprägt von einer täglichen Flut an Meldungen über neue Phasen des Gemetzels, unfassbare Kriegsverbrechen, Berichten über Einzelschicksale Geflohener, wiederkehrende Helden-Storys. Unerträgliche Bilder der Zerstörung und des Mordens prägen unseren Alltag. Prominente britische Musiker musizieren in provisorischen Schutzräumen im Kriegsgebiet, und die Farben der Nationalfahne des überfallenen Landes zieren Profilfotos auf Social-Media-Accounts wie Gebäude europäischer Institutionen; Solidaritätsbekundungen und Verurteilungen des russischen Aggressors sind Grundtenor. Führende Intellektuelle treten für Aufrüstung und gegen blinden Pazifismus ein, andere versuchen sich an differenzierteren Analysen einer durch und durch verworrenen Situation. Die Europäische Union sieht sich mit einem Weltzustand konfrontiert, dem aktuell mit vehementer Militarisierung begegnet wird, während der ukrainische Präsident zum Coverstar renommierter Magazine avanciert und ihn deutsche Medien gar zu einer Filmplakatikone stilisieren – als wäre der Krieg eine kinematografische Inszenierung à la Hollywood.

Gegenwärtig drohen Hungerkatastrophen, Versorgungsengpässe, Schieflagen in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Gefügen, die noch gar nicht absehbar sind. Betroffen ist die ganze Welt. So gibt es beispielsweise in Thailand Regionen, die nach dem Covid-Desaster nunmehr weiterhin touristenleer bleiben. Auf Phuket liegen ganze Orte brach; Hotels, Lokale und Läden sind verlassen – es fehlen die ukrainischen und russischen Touristen – und damit das Einkommen vieler Großfamilien. Im Zentrum Wiens wiederum wurde noch nie so viel ukrainisch und russisch gesprochen wie dieser Tage. Und wie man hört, hat der Zuzug aus dem Osten bereits Auswirkungen auf das Portfolio der großen Internetdatingplattformen und Partnerbörsen. Von der grausamen Realität des Human Trafficking ganz zu schweigen.

„We want to say that any form of evil and aggression makes people cry, that´s why U CRY NOW”
Betty, Miriam & Siona Endale aka FO SHO*

Neben jenen, die spenden oder sich zivilgesellschaftlich engagieren, die demonstrieren, Displaced Persons helfen, Wohnraum für Geflohene zur Verfügung stellen – auch hier blüht freilich ein grauer Markt, in dem Zwischenhändler vom Ausgeliefertsein und Leid profitieren –, ist aktuell nicht selten ein beschleunigtes „Business-as-usual“ zu beobachten. In unsicheren Zeiten scheint das getriebene Beschäftigtsein Halt zu geben: „Arbeiten bis zum Umfallen“ (Der Spiegel) als Versuch, der empfundenen Ohnmacht angesichts von postpandemischer Erschütterung, Klimaveränderungen, allgegenwärtigem militärischem Wahnsinn (der „Logik des Krieges“), menschlichem Leid und offensichtlich aus dem Lot geratener und bedrohter gewohnter Lebenswelten ein Stück weit Kontrollvermögen entgegenzuhalten? Rastlos taumelnd bewegen wir uns durch die gegenwärtigen Ambivalenzen und Unsicherheiten.

„Oy oy oy Belz, mayn shtetele Belz …“

Und dann begegnen wir unvermittelt zwei beeindruckenden jungen Menschen, die mit den ÖBB reisen. Ihr Ziel ist Venedig. Der eine trägt lange Haare, Hut, Strümpfe, Zizit und einen langen gestreiften Mantel, der andere eine weiße gestrickte Kippa, wie in einem 1970er-Kibbuz, und ein dunkles Sweatshirt mit dem aufgestickten Symbol einer lodernden Flamme über seinem Tallit, dazu Jeans. Sie haben ihre Gebetsbücher auf dem Tisch im Großraumwaggon platziert, sprechen einen Segensspruch, schneiden konzentriert den Brotlaib an, essen, trinken. Sie widmen sich innig dem Gebet, lachen und singen fröhlich laut. Dann folgt ein gemeinsames Backgammon-Spiel. Das Smartphone wird nur fürs gezielte Fotografieren der vorbeiziehenden Landschaften und für ein Telefonat mit der Mutter zur Hand genommen. „Mayn heymele, dort vo ikh hob mayne kindishe yorn farbrakht …“ Ein Jegliches hat seine Zeit, und die Aufmerksamkeit gilt jeweils ganz und gar einer Sache. Was von den beiden jungen Menschen ausgeht, sind Selbstbewusstsein, Präsenz und Lebensfreude – in einem Ordnungssystem, das ihnen Halt gibt.

Womöglich könnte dies auch im säkularen Leben hilfreich sein, gerade in Zeiten, in denen das Getöse des Weltgeschehens und die Komplexität des Wahnsinns zur täglichen Überforderung werden: den allgegenwärtigen kleinen Bildschirm, der uns scheinbar mit der Welt und allem und jedem verbindet, bisweilen wegzulegen, bewusst innezuhalten und den Fokus der Wahrnehmung auf jeweils eine Sache zu lenken, um dann gesammelt handlungsfähig zu sein.

*FO SHO ist ein ukrainisches Hip-Hop-Projekt von Betty, Miriam und Siona Endale, drei Schwestern mit äthiopisch-jüdischen Wurzeln, deren neuer Song U CRY NOW auf die Lage in der Ukraine aufmerksam machen will.

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