Der elfjährige Bub mit dem blonden Wuschelkopf steht neben seinem hochgewachsenen Vater und blickt auf einen grauweißen Gedenkstein vor dem Eingang in die Volksoper am Währinger Gürtel.
Dem in den USA geborenen Jungen wird die deutschsprachige Inschrift übersetzt: „Zukunft braucht Erinnerung: Zum Gedenken an die Mitglieder der Volksoper Wien, die zwischen 1938 und 1945 verfolgt, vertrieben und ermordet wurden. Ihr Schicksal bleibt unvergessen.“ Zu diesem Personenkreis und diesem Haus gehörten sein Großvater Heinrich (Henry) Krips und sein Großonkel Josef Krips, die beide als Dirigenten bis 1938 auch hier tätig waren.
Enkel Joseph, der mit seinen Eltern in Claremont, Kalifornien, lebt, kommt regelmäßig im Sommer nach Wien. Schuld daran ist sein Vater: „Ich verbringe mit meiner Familie im Schnitt drei Monate hier. Das mache ich schon seit etwa 20 Jahren, seit ich zum ersten Mal vom Ministerium für Wissenschaft und Verkehr zu einem Expertenkreis eingeladen wurde“, erzählt Henry Krips, der im australischen Exil seines gleichnamigen Vaters geboren wurde. Warum kehrt der Kulturwissenschaftler immer wieder in eine Stadt zurück, die seinen Vater entwurzelt und vertrieben hat? „Wahrscheinlich gibt es diesen ‚Wiener Virus‘, der wie ein Bumerang wirkt“, lacht der emeritierte Professor, Jahrgang 1945.
Sein Vater Heinrich Krips, 1912 in Wien geboren, dirigierte meistens Operetten. Am 29. Jänner 1938 debütiert er mit der Oper Der Barbier von Sevilla und erhält positive Kritiken. Am 18. März des gleichen Jahres ist in den Zeitungen zu lesen, dass er als Kapellmeister – bereits seit 1935 – seines Postens enthoben wurde. Für die Nazis ist er ein „Halbjude“: Sein Vater Josef Jakob Krips ist ein aus Ungarn stammender jüdischer Arzt, der in Döbling praktiziert. Der plötzlich Entlassene, Absolvent des Musikkonservatoriums der Universität Wien, heiratet im Herbst 1938 seine Schulfreundin Luise Pauline Deutsch, deren Vater ebenfalls Jude ist. Das junge Paar rettet sich nach Australien.
Das Bewusstsein, Flüchtlinge zu sein, wurde abgemildert, weil man sich in einem jüdischen Milieu bewegte und der Vater als Musiker schnell großes Ansehen gewann.
„Mein Vater kam mit 26 Jahren in dieses fremde Land, nach einigen Anlaufschwierigkeiten fand er aber Zugang zur lokalen Musikindustrie. Zuerst leitete er Chöre, komponierte viel Filmmusik und schrieb Musikstücke für das Radio. Später gewann das Dirigieren von großen Orchestern wieder die Oberhand.“ Das Bewusstsein, Flüchtlinge zu sein, wurde abgemildert, weil man sich in einem jüdischen Milieu bewegte und der Vater als Musiker schnell großes Ansehen gewann. „Damals war die mitteleuropäische Kultur nicht sehr präsent. Mein Vater leistete da echte Pionierarbeit: Der Schlager, die Operette waren unbekannte Felder der Musik. Mein Vater führte das Publikum von Sydney über Perth bis Adelaide in diese neue Welt ein.“ Heinrich, nun Henry, leitete gute Orchester, u. a. war er 23 Jahre lang Chefdirigent des Adelaide Symphony Orchestra. Er spielte als Erster die Werke Gustav Mahlers in Australien. Auch Schönberg, Berg und Stockhausen mutete er alsbald seinem Publikum zu.
„Die Eltern sprachen beide gut Englisch – und kein Wort Deutsch mehr. Sie wollten mit der Sprache Hitlers und der Nazis nichts zu tun haben“, erinnert sich der Sohn; daher funktionierte die Integration gut und schnell. Wenige australische Musiker hatten so gute internationale Kontakt wie Henry Krips, der bald nach dem Krieg in England und in den USA Gastauftritte hatte und berühmten Künstlern wie Alfred Brendel und Daniel Barenboim sein Haus öffnete. Ab 1954 machte er erste, ab 1967 regelmäßig Tourneen nach Großbritannien, u. a. als ständiger Gastdirigent der Sadler’s Wells Opera in London.
Nach 1945 wollte Krips gerne nach Wien zurückkehren, aber ein Kurzbesuch auf dem Weg nach London hielt ihn vorerst davon ab. „Er spürte, dass der Antisemitismus noch präsent war. Ich erlebte diesen ja noch Jahrzehnte später, als ein Taxifahrer, mit dem ich Deutsch sprach, plötzlich ausrief: ‚Oh, Sie haben aber einen jüdischen Akzent.‘ “ Erst 1955 mit dem Engagement an die Wiener Staatsoper kam er mit Familie auf knapp zwei Jahre nach Wien. „Ich war acht Jahre alt und ging in Döbling in die Volksschule, daher steckt mein Deutsch teilweise in den Kinderschuhen, aber fluchen habe ich gut gelernt“, lacht Sohn Henry, der am Saarplatz 5 zuhause war, wo heute eine Tafel an das Elternhaus der berühmten Dirigentenbrüder Krips erinnert.
Apropos Brüder: Wie war das Verhältnis zwischen den beiden? „Josef war um zwölf Jahre älter als mein Vater und hatte seine Karriere schon erfolgreich gestartet. Er wurde zum Mozart-Spezialisten weltweit, während mein Vater eben Mahlers Beliebtheit erhöhte.“ Von 1918 bis 1921 war Josef Violinist an der Wiener Volksoper, bald danach wechselte er das Fach und wurde Dirigent, arbeitete an diversen Häusern in Deutschland.
1933 kehrte er nach Wien zurück, wo er Hausdirigent an der Wiener Staatsoper wurde. Nach dem „Anschluss“ zog Krips nach Belgrad, wo er ein Jahr als Gastdirigent arbeitete. Ab 1939 wurde er in Wien mit Berufsverbot belegt und musste Arbeitsdienst leisten. Aber er musizierte heimlich mit anderen von öffentlichen Auftritten ausgeschlossenen Musikern weiter. 1943 erhielt er durch einen Freund eine Stelle in einer Lebensmittelfirma und wurde deshalb nicht zur Wehrmacht eingezogen.
Wiederaufbau. Nach dem Krieg war Josef Krips der einzige österreichische Dirigent, der als unbelastet galt, sofort wieder arbeiten durfte und zu einem sehr gefragten Dirigenten wurde: Ab 1945 trat er wieder an der Staatsoper auf, zuvor schon in der Volksoper und am Theater an der Wien. Er konzertierte mit den Wiener Philharmonikern und war wesentlich am Wiederaufbau des Wiener Musiklebens beteiligt. 1946 eröffnete er auch die Salzburger Festspiele wieder. „Einmal waren beide gleichzeitig bei den Festspielen in Salzburg engagiert. Da meinte mein Vater: ‚Ich habe alle Feinde Josefs geerbt, aber keinen seiner Freunde!‘ Josef starb 1974 in Genf, mein Vater 1987 in Adelaide.“
Sohn Henry promovierte in Mathematik und Quantenphysik und war im Lauf seiner wissenschaftlichen Karriere an renommierten Universitäten und Instituten tätig, u. a. an der Tel Aviv University, am Max-Planck-Institut in Berlin und an der CEU in Budapest. Erst kürzlich war er Senior Fellow am Institut seines österreichischen Kollegen Anton Zeilinger. Wieso blieb er bei dieser familiären Vorbelastung beruflich der Musik fern? „Ich hatte leider kein gutes Gehör, so war es besser, ganz auszuscheren. Bald nach meinem Studium bekam ich ein Angebot an die University of Pittsburgh.“ Dort verbrachte Krips junior rund 18 Jahre, bevor er nach Claremont, Kalifornien, zog, wo er einen Lehrstuhl für Geisteswissenschaften innehatte und seine Frau Jennifer Friedlander eine Professur für Medienwissenschaft. Fühlt er sich deshalb als Amerikaner? Nein, er sei Australier und Europäer, versichert Krips, der derzeit auch mit seinem österreichischen Kollegen, dem Philosophen Robert Pfaller, an einem Projekt arbeitet.
Sind die jährlichen Wien-Aufenthalte ein Zeichen der nostalgischen Erinnerung an seine Familie väterlicherseits? „Vielleicht auch, aber ich habe die Unsicherheit meines Vaters nicht. Als zweite Generation leide ich nicht unter den traumatischen Effekten des Krieges – und mein Sohn Joseph wird noch weniger davon betroffen sein. Wir mögen die Stadt sehr, und vielleicht sind die Taxifahrer von damals auch schon ausgestorben?“