Sie verleugnet ihre jüdische Herkunft nicht, bezeichnet sich aber als Agnostikerin. Doch das ist weniger schlimm als das Faktum, dass Claudia Sheinbaum eine Blaupause unseres derzeitigen Präsidenten ist“, erregt sich Arturo Lisker, Immunologe aus Mexico-City, über die Kandidatin, die beste Chancen hat, als erste Frau und Jüdin am 2. Juni zur Präsidentin von Mexiko gewählt zu werden. Lisker, dessen ungarische Großeltern noch knapp vor der Shoah ins Land gekommen waren, hat eine weit verzweigte jüdische Familie und war zuletzt als forschender Epidemiologe während der Corona-Pandemie auch öffentlich präsent.
Obwohl auch Liskers Eltern nur ein traditionelles, aber nicht streng religiöses Haus geführt haben, ärgert es den Arzt ebenso wie seine Cousine Aida Bleier, dass Sheinbaum sich von allen jüdischen Gemeinden distanziert, weshalb sie dort unbeliebt ist. „Sie hat kein Wort zum Hamas-Massaker vom 7. Oktober in Israel gesagt; aber sie folgt religiös und ergeben der Parteilinie des linksgerichteten, populistischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) – und die ist eindeutig propalästinensisch“, konstatiert Aida Bleier, die Gymnasiallehrerin für Hebräisch.
Wer ist nun die 1962 in Mexiko-Stadt geborene Claudia Sheinbaum-Pardo? Die studierte Physikerin mit einem Doktorat in Energietechnik aus Berkeley, Kalifornien, forschte über die Entwicklung des mexikanischen Energieverbrauchs im Verkehrswesen und in Gebäuden. Sie wurde daraufhin an die Fakultät der Akademie der Wissenschaften berufen. Von Dezember 2000 bis Mai 2006 arbeitete sie als Umweltministerin von Mexiko-Stadt, danach holte sie Andrés Manuel López Obrador, damaliger Regierungschef von Mexiko-Stadt, in sein Kabinett. Am 1. Juli 2018 wurde Sheinbaum für eine sechsjährige Amtszeit zur Regierungschefin des Bundesdistrikts Mexiko-Stadt mit 22 Millionen Einwohnern gewählt – sie setzte sich damals gegen sechs andere Kandidaten durch.
[…] in einem Land, das mit Populismus, Ungleichheit und Kriminalität zu kämpfen hat, könnte die Wahl der ersten weiblichen Präsidentin einen politischen und gesellschaftlichen Wendepunkt markieren.
Die mexikanische Metropole ist nicht nur die größte Stadt des Landes, sondern auch die zweitgrößte Stadt Lateinamerikas. Ein Jahr später kündigte Sheinbaum einen neuen Sechs-Jahres-Umweltplan an. Dieser sah vor, die Luftverschmutzung um 30 Prozent zu reduzieren, 15 Millionen Bäume zu pflanzen, Einwegplastik zu verbieten, das Recycling zu fördern sowie wichtige Verkehrsprojekte zu starten: den Bau einer Metro und eine eigene Fahrspur für Busse.
Bereits 2014 war Sheinbaum ihrem Mentor López Obrador gefolgt, der die Partei Movimiento Regeneración Nacional (MORENA) gegründet und eine Dreierkoalition mit dem Namen Juntos Haremos Historia gebildet hatte. Kritiker, wie die jüdischen Bürgerlichen und der Mittelstand allgemein, vergleichen Obrador mit dem verstorbenen venezuelanischen Präsidenten Hugo Chávez und warnen, dass er Mexikos Wirtschaft schwächen werde, weil er Investoren abschrecke. Dennoch ist er sehr populär – und davon profitiert auch Sheinbaum: Sie lobt immer wieder seine Erfahrung in der Administration und seine fortschrittliche Politik, aber sie gibt auch zu, dass man sie „als Spiegelbild von ihm sieht“.
Am 6. September 2023 wurde die Wissenschaftlerin von der Regierungskoalition zur Spitzenkandidatin für die Präsidentenwahl ernannt. López Obrador darf nach sechs Amtsjahren nicht mehr kandidieren. Die Autorin von über 100 Artikeln und Büchern zu den Themen Energie, Umwelt und nachhaltige Entwicklung hat aschkenasische Großeltern aufseiten ihres Vaters, die in den 1920er-Jahren aus Litauen nach Mexiko-Stadt einwanderten; die sephardischen Eltern ihrer Mutter kamen Anfang der 1940er-Jahre aus Sofia, Bulgarien, um der Shoah zu entkommen. Beide Eltern sind Wissenschaftler: Carlos Sheinbaum Yoselevitz ist Chemieingenieur, Annie Pardo Cemo emeritierte Professorin für Naturwissenschaften.
Ich bin sicher, dass es viel größere antisemitische Diskussionen gäbe, hätte die Opposition sie aufgestellt.
Arturo Lisker
Ein Wahlkampf und zwei starke Frauen. Das Jahr 2024 leitet eine der wichtigsten Wahlen in der jüngsten Geschichte Mexikos ein (siehe auch Kasten rechts), denn in einem Land wie Mexiko, das mit Populismus, Ungleichheit und Kriminalität zu kämpfen hat, könnte die Wahl der ersten weiblichen Präsidentin einen politischen und gesellschaftlichen Wendepunkt markieren. Noch dazu, weil das zentristische Oppositionsbündnis FAM – Frente Amplio por México (Breite Front für Mexiko) überraschend ebenfalls eine Frau nominiert hat: die Senatorin und Computeringenieurin Xóchitl Galvez. „Von den beiden führenden Kandidatinnen ist Galvez bei Weitem die charismatischere, denn ihr Werdegang, aus einer eher armen indigenen Familie stammend, Ingenieurin zu werden und dann ein erfolgreiches Unternehmen aufzubauen, ist eine sehr überzeugende Lebensgeschichte“, heißt es in einem Bericht der Friedrich Naumann Stiftung in Potsdam.
Unbestätigt ist die Vermutung einiger Kritiker, dass Claudia Sheinbaum, die niemals den Aussagen von AMLO widersprochen hat, von ihm wegen ihrer Loyalität und Beeinflussbarkeit bevorzugt wurde – in der Hoffnung, dass sie sein Erbe fortsetzt. Fakt ist, dass Sheinbaum über mehr Regierungserfahrung verfügt, sie hat die Kriminalität in Mexiko-Stadt effektiv bekämpft – im krassen Gegensatz zur nationalen Entwicklung – und konnte auch andere Punkte ihres langfristig angelegten Planes verwirklichen.
Sheinbaum hat ihre Herkunft nie versteckt. Welchen Stellenwert hat daher die Tatsache, dass sie Jüdin ist, in der mexikanischen Öffentlichkeit im angelaufenen Intensivwahlkampf? „Von offiziellen Stellen hört man nichts, ab und zu gibt es antisemitische Bemerkungen in den Medien“, weiß Raquel Aronowitz, die seit vielen Jahren für das größte jüdische Sportzentrum mit etwa 20.000 Klubmitgliedern arbeitet, und das bei einer jüdischen Bevölkerung von rund 45.000 Personen. Beim Arzt Arturo Lisker fällt die Antwort wesentlich schärfer aus: „Man hört wenige Angriffe in diese Richtung, aber man muss wissen, dass Sheinbaum Kandidatin einer sehr populären Partei ist. Ich bin sicher, dass es viel größere antisemitische Diskussionen gäbe, hätte die Opposition sie aufgestellt.“
Seit wann leben Juden in Mexiko?
Die ersten Juden kamen mit Hernando Cortez nach Mexiko, der es 1521 im Auftrag Spaniens eroberte. Damals mussten sie wegen der Inquisition ihre Identität noch verbergen. 70 Prozent der Bewohner waren zwangskonvertierte Juden. In der neuen Welt konnten sie sich wieder zu ihrem Glauben bekennen. Mexiko wurde 1821 von Spanien unabhängig und offiziell katholisch. Obwohl die Inquisition abgeschafft war, lebten wenig Juden dort. Erst als Maximilian II. von Österreich 1864 in Mexiko eintraf, folgten ihm Juden aus Österreich, Belgien und Frankreich und praktizierten ihren Glauben offen und frei. Nach Maximilians Tod und dem Ende des mexikanischen Imperiums kehrten fast alle diese Juden nach Europa zurück. Ab 1857 sicherte die erste Verfassung die religiöse Freiheit ab. Als Folge wuchs die jüdische Bevölkerung stark an: Ab 1881 kamen viele russische Juden in das Land, die nach der Ermordung von Zar Alexander II. geflohen waren. Im 20. Jahrhundert erlebte Mexiko eine Flut an jüdischen Einwanderern aus dem Osmanischen Reich, die sich vor den politischen Unruhen in Sicherheit brachten: Sephardische Juden aus der heutigen Türkei, Syrien, dem Libanon und Balkan konnten sich relativ einfach in die lokale Bevölkerung integrieren. Ab den 1930er-Jahren etablierte sich das kulturelle jüdische Leben, zahlreiche jüdische Gemeinden entstanden ebenso wie zionistische Organisationen. Die Große Depression vor dem Zweiten Weltkrieg ließ sowohl den Antisemitismus wie auch den Fremdenhass stark ansteigen: Mexiko erließ 1936 ein striktes Einwanderungsgesetz, dass vor allem Quotas für Staaten mit großer jüdischer Bevölkerung, also Polen, Russland sowie Deutschland und Österreich vorschrieb. Daher konnten nur 1.850 Flüchtlinge vor den Nazis hier Schutz finden. Mexikos Juden kann man heute als traditionalistisch charakterisieren, die Bandbreite reicht von orthodox bis konservativ; zahlreiche jüdische Einrichtungen werden von aschkenasischen, sephardischen und levantinischen Juden betrieben, die alle sehr umtriebig sind. Aber auch in der mexikanischen Gesellschaft und auf hohen Regierungsposten findet man jüdische Persönlichkeiten, u. a. war Jorge Castañeda Gutman von 2000 bis 2003 Außenminister, Victor Lichtinger zeitgleich Umweltminister, und von 2000 bis 2006 hieß der Gesundheitsminister Julio Frenk.