Sigmund Freud führte bekanntlich eine spitze Feder. Schon früh musste er sich (und das lebenslang) – von 1897 bis 1910 war der antijüdische Volkstribun Karl Lueger ja Wiener Bürgermeister – eines Antisemitismus erwehren, der ihm brachial entgegenschlug. 1908 schrieb er ergrimmt nach Berlin an Karl Abraham: „Seien Sie versichert, wenn ich Oberhuber hieße, meine Neuerungen hätten weit geringeren Widerstand gefunden.“
Jahrzehnte später meinte der israelische Philosoph Jeschajahu Leibowitz despektierlich-zynisch: „Die Psychoanalyse ist hauptsächlich eine jüdische Möglichkeit, Geld zu verdienen; das ist ein schlechtes Zeichen für die Juden.“ Die übergroße Ironie der Historie: Leibowitz’ Enkel Yoram Yovell wurde ein überaus namhafter Psychoanalytiker, der seit 2019 auf HOT 8 mehrere therapeutische Programme moderiert hat.
Psychoanalyse, Judentum, Antisemitismus: eine wohl schier untrennbare, schier unendliche Trias. Vor 30 Jahren meinte Yosef Yerushalmi in seiner Studie über Freuds Moses-Studie, Freud, der Atheist, sei im tiefsten Herzen wohl überzeugt gewesen, die Psychoanalyse sei die mutmaßlich letzte verwandelte Ausprägung des Judentums, allerdings ohne einen G-tt. Hätte da der sich als Forscher, nicht als Religionstransformator definierende Analytiker nicht wortgewaltig widersprochen?
Zeit also für eine Relektüre. Das unternimmt der Tagungsband Judentum und Psychotherapie auf nicht ganz unakademische Weise. Das Interessante an diesem Band ist die Zusammensetzung der Beiträgerschaft, geisteswissenschaftliche Hochschulgelehrte plus ein praktizierender Psychoanalytiker, ein Rabbiner und Paarberater sowie Fachärzte für Psychiatrie. Es kommt einiges zur Sprache, so Chassidismus und Therapie, Hannah Arendt und die Ethik des Bösen – aktuell drängender denn seit vielen Jahren, und dies nicht nur infolge mehrerer Neuerscheinungen über die Philosophin –, Schrift und Mündlichkeit im psychoanalytischen Prozess, Zimzum und Martin Buber. Durchgehend betont wird die Rolle der Psychotherapie für Gegenwart und Zukunft.
Die vielen Brücken der Psychoanalyse. Über Therapiegeschichte im katastrophischen 20. Jahrhundert beugt sich Dagmar Herzog in Cold War Freud (Suhrkamp). Die amerikanische Theologentochter, die Geschichte an der City University in New York lehrt, macht gleich zu Beginn auf eine lange offen zu Tage tretende Spreizung der Psychoanalyse aufmerksam. Einerseits versuchten Scharen von Psychotherapeutinnen und Analytikern noch die entlegensten Winkel, Ecken und Ausbuchtungen der menschlichen Seele, die Fantasien und Körperfantasien der Menschen auszuleuchten und energetisch-kreativ zu deuten. Andererseits schlugen sie Brücken hinüber in die Areale Politik, Kultur und gesellschaftliches Miteinander, die dann sofort ideologisch affiziert wurden.
1949, vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der in beiden Diktaturen, der der Nazis wie der Stalins, auch ein Kampf gegen die Psychoanalyse war, und zehn Jahre nach dem Tod Freuds fand im neutralen Zürich der erste (der sechzehnte insgesamt) Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) statt. Der IPV-Vorsitzende, Kongressleiter, orthodox freudianische Psychoanalytiker und Freud-Biograf Ernest Jones rief damals auf, sich jeden politischen Anwehens zu entschlagen, ja ausschließlich über Binnen- und Fachwissenschaftliches wollte er diskutieren lassen.
22 Jahre später, beim IPV-Kongress in Wien, plädierte Alexander Mitscherlich aus dem unwirtlichen Frankfurt am Main, 1965 Autor von Die Unwirtlichkeit der Städte, dezidiert dafür, soziale Problemstellungen nicht auszublenden – es war die Zeit des Vietnamkriegs, die Zeit der Notstandsgesetzgebung in Westdeutschland, die Zeit des Kalten Kriegs. Eine jüngere, rebellische Generation von Psychotherapeut:innen probte erfolgreich den Aufstand, sie distanzierten sich, sezessionierten und läuteten, ohne dass es diesen hochpolitisierten Anti-Establishment-Rebellen bewusst war, ein zweites Goldenes Zeitalter der Psychoanalyse ein.
Nicht wenige Originaldokumente und in Archiven deponierte Wissenskonvolute wurden erst in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren überhaupt zugänglich, auch Dagmar Herzog.
Sie schreibt über Psychoanalyse und organisierte Religion ab 1950, über Homosexualitätsdiskurse, über Traumata des Holocausts und deren langsame soziopolitische Anerkennung, über intergenerationelle Konflikte sowie über Psychoanalyse und Kolonialismus respektive Postkolonialismus.
Das ist meistens anregend, es ist auch auffällig elegant geschrieben. Hie und da fallen einige Verdikte ob einer spezifischen, da nordamerikanisch verengten Perspektive leicht schief aus. So kann angesichts einer großen neuen Werkausgabe Paul Parins im Wiener Mandelbaum Verlag keine Rede sein, dass dieser wider den Stachel löckende Analytiker vergessen sei. Ihr gelingt es oft erhellend, den politischen Kontext psychoanalytischer Debatten und Spaltungen, der Revisionen, Abspaltungen und „Exkommunikationen“ – seit Anbeginn an, seit Freud, Adler und Jung, ein immerwährendes Phänomen der zeitgenössischen Seelenkunde – zu erhellen. Nicht wenigen Vertreterinnen und Therapeuten wird sie klug gerecht, die im tradierten Kanon viel zu voreilig als „abtrünnig“ rubriziert und quasi weggeschlossen werden, so Karen Horney, Gilles Deleuze oder Fritz Morgenthaler. Doch nicht um eine eigene Revision geht es ihr, nicht um eine Re-Inthronisierung verfemter, vor einer Generation oder vor einem Halbjahrhundert angefeindeter Thesen, Theoreme und buchlanger Hypothesen – auch wenn sie eine Interpretation von Deleuzes und Guattaris Anti-Ödipus vorlegt, des in den 1970er-Jahren vielgelesenen Opus Maximum der Antipsychiatrie, die im ambivalenten Wortsinn aufregend ist. Sie legt die Geschichte der Psychoanalyse selbst auf die Couch und interessiert sich dezidiert für das Verdrängte in ihren Strömungen. Dabei entpuppen sich einstige Novitäten wie etwa die medizinische Kreation der Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)“, die auf die Jahre des Vietnamkriegs zurückgeht, als erstaunlich gegenwärtig, ja überzeitlich.
Der Analytiker als Bestsellerautor. Nur wenige Therapeuten sind in den vergangenen vierzig Jahren, seit dem Zeitpunkt, an dem Herzogs Buch ans Ende kommt, so bekannt geworden wie Irvin D. Yalom, nicht als Analytiker, sondern als Bestsellerautor. Im deutschsprachigen Raum dürfte mutmaßlich kaum ein Psychotherapeut bekannter sein als der 1931 geborene US-Amerikaner, der seit 65 Jahren in Kalifornien lebt, an der Stanford University lehrte und die Romane Und Nietzsche weinte, Die SchopenhauerKur und Das Spinoza-Problem verfasste.
Psychoanalyse, Judentum, Antisemitismus: eine wohl schier untrennbare, schier unendliche Trias.
Nun legt der US-amerikanische Literaturprofessor Jeffrey Berman mit Der Therapeut als Erzähler (btb) die erste Monografie über Yalom als Autor vor. Im Original hieß das Buch Writing the Talking Cure, verwies also zentral auf die literarisch durchgeformte Fallgeschichte, der Psychoanalyse von Freud von Anfang an buchstäblich eingeschrieben.
Berman beschreibt in etwas naiver, kontextbefreiter Manier in dreizehn Kapiteln dreizehn Buchveröffentlichungen, vom Fachbuch Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie bis Unzertrennlich, das Yalom mit seiner todkranken Frau Marilyn schrieb. Es sind ausgreifende, detaillierte Inhaltsnacherzählungen, die als Einführung für jene hilfreich sind, die das eine oder andere Yalom-Buch nicht kennen. Was Berman scheut, sind Abstraktionen, sind bei den drei „alternativen“ Romanhistorien Überlegungen zur Postmoderne und besonders zum Genre des historischen Romans. Spät werden Namen wie Philip Roth und Saul Bellow erwähnt, noch viel später taucht Oliver Sacks auf, der britisch-amerikanische Autor psychologischer Fallgeschichten.
Auch dass Berman oft Yalom als „genial“ bezeichnet, tut dem Buch nur überschaubar gut. Eine solche Perspektive führt zu blinden Flecken. Vor allem, was die literarische Qualität des Schriftstellers Yalom angeht, ist Berman herausfordernd einseitig. In der deutschen Presse hieß es etwa über Yaloms Das Spinoza-Problem, das Buch sei nicht wirklich gelungen, aber gut zu lesen, inhaltlich ein mehr als strittiges Opus, das jedoch Impulse gebe für Diskussionen über Judentum, Religionskritik, Sexismus, Antisemitismus sowie Psychoanalyse auch – und vielleicht erst recht – als politische.