„Das Herz ist ganz im Dunklen“

Eine fulminante Leseentdeckung und eine großartige Edition: Rahel Varnhagens 196 Jahre nach ihrem Tod erstmals publizierte Denk- und Tagebücher sind ein Ereignis.

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Rahel Levin Varnhagen: Tagebücher und Aufzeichnungen. Hg. v. Ursula Isselstein. Wallstein Verlag 2019, 1.068 S., € 100,80

„Mein Leben soll zu Briefen werden!“, war eine der zahlreichen geistvollen Bemerkungen Rahel Levin Varnhagens (1771-1833). Geschätzte 8.000 bis 10.000 Briefe soll sie geschrieben haben. Zumindest zu Lebzeiten aber erschien nicht ein einziger Band, der ihren Namen trug. Berühmt wurde sie ohne ein zu Lebzeiten gedrucktes Werk, vielmehr durch Konversation und Korrespondenz. Das Besondere an ihr, einer der bedeutendsten intellektuellen Frauen der deutschen Geistesgeschichte, ist gerade dieses ganzheitliche Kunst-Lebens-Briefwerk in ihrer Zeit.
Das Medium des Briefs war für Rahel Levin Varnhagen von Ense Sehnsucht und Lebensinhalt. Ihre Briefkunst war nicht auf das Monologisieren angelegt, sondern auf das intensive, geistreiche und lebendige Gespräch mit Empfängerin und Empfänger. Zum Ziel ihrer zahlreichen Korrespondenzen erklärte die Berlinerin, „Gespräche zu schreiben, wie sie lebendig Menschen vorgehn“.

Ab 1790 bis zu Preußens Zusammenbruch 1806 betrieb die Tochter eines wohlhabenden Berliner Juden, ihr Leben lang ihre Rolle beklagend als Außenseiterin in Deutschland – Jüdin, hochintelligent, gebildet, Frau, lange unverheiratet und so vom älteren Bruder finanziell abhängig –, in ihrer „Dachstube“ im Elternhaus in der Jägerstraße im Zentrum von Berlin einen literarisch-intellektuellen Salon. An diesem Ort trafen einander aufstrebende Junggrößen der Zeit, die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt, Prinz Louis Ferdinand und – Rahels beste Freundin – dessen lebenslustige Geliebte Pauline Wiesel, Romantiker wie Friedrich Schlegel und dessen Bruder Wilhelm, Jean Paul und Heinrich von Kleist. Mit all diesen konnte Rahel Levin auf Augenhöhe disputieren und lachen und sie beeindrucken. Für sie alle war die schnell sprechende und witzig formulierende Gastgeberin eine „Seelenentflammerin“. Dieser Salon war etwas Besonderes: eine neue Art der Geselligkeitskultur inmitten einer Zeitenwende.
Nach unglücklichen Liebesbeziehungen und der Heirat mit dem um vierzehn Jahre jüngeren Karl Varnhagen sowie einem Abstecher nach Karlsruhe kehrten sie 1819 nach Berlin zurück. Ein zweiter Salon entstand. Wiederum verkehrten glänzende Geister bei ihr, Heinrich Heine und Hermann Fürst von Pückler-Muskau, die Mendelssohns, der Journalist Ludwig Börne oder Bettina von Brentano.
Unablässig produzierte Rahel Levin Varnhagen Definitionen, um ihr Leben und Schreiben zu bestimmen. Aber währenddessen gingen die beiden Sphären ineinander über. Sie lebte als Schreibende, fast nur als Schreibende. Das Geschriebene war nicht Werk im traditionellen Sinn, sondern „ihr eigenes Leben als Form“. Ihre Schreibarbeit bestand darin, die von ihr behaupteten „Defizite“ ihres Lebens in eine ästhetische Haltung umzuwerten, die eine ethische war. So entstand „das Ich Rahel“.
Rahel Levin Varnhagen versicherte sich ihres Brief-Ichs durch kontinuierliche Dauer und die Unverwechselbarkeit ihrer Briefwechsel. Sie kreierte Freundschaften, umwarb Menschen und bezirzte ihre Schreibpartner.
„Wenn ich Sie verlöre, verlör’ ich einen großen Teil von mir selbst. Denn eine Seite kennen Sie in mir, die niemand kennt, außer Sie – nennen kann ich sie nicht, nicht einmal bezeichnen in diesem Augenblick – und die muß erkannt werden, sonst ist sie tot.“
Rahel Varnhagen geizte nicht mit humanistischen Ratschlägen: „Vergessen Sie ja nicht zu leben. Grade den Tag, wie er vor uns steht; er auch wird eine ehrwürdige Vergangenheit.“ Genauso wenig geizte sie mit witzigen Repliken. Dem eitlen deutsch-schwedischen Diplomaten und Dichter Karl Gustav von Brinckmann, der über Zahnweh geklagt hatte, antwortete sie: „Man kann auch essen ohne Zähne, starke Bouillons, Weinsuppen, Kompotts u. s. w.“
In den letzten Jahren ihres Lebens entwickelte Rahel Levin Varnhagen eine Haltung des Zusehens, das genussvolle Passivität mit einem aktiven Kern war: „Was machen Sie? Nichts. Ich lasse das Leben auf mich regnen.“ Das Ergebnis war: „Anschauungsgewinn“.
Wer heute Rahel Varnhagen lesen will, braucht ein extra verstärktes Bücherregal. Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde, 2011 erstmals in der unveröffentlichten Fassung gedruckt, umfasst sechs Bände und 3.310 Seiten. Ihre Familienbriefe hatten 1.548 Seiten und der Briefwechsel mit Ludwig Robert 1.014 Seiten. Ihr Briefwechsel mit Pauline Wiesel kam auf 768 Seiten. Und die heute nur noch antiquarisch zu findenden Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens von Ehemann Karl August Varnhagen von Ense bestanden aus fünf Einzelbänden.
Eine großartige geistesprickelnde Immer-wieder-Lektüre sind ihre eminent edierten Tagebücher (mit 300 Seiten klugem Kommentar). Man sieht der Fast-immer-Schreibenden gleichsam über die Schulter, auch weil ihre Schreibweise erhalten blieb. Vieles will man sich herausschreiben und memorieren. „Ich hab’ Unrecht, denn ich kann nicht beweisen, daß ich recht habe. Und das ist ja sehr Unrecht.“ Oder: „Ihre guten Eigenschaften sind nur die schlechten, die sie nicht hat.“ Und auch: „Es kann uns nie in Verlegenheit setzen, wenn wir nur wir seyn sollen; aber wohl, wenn wir unsre Maske vorstellen müßen!“

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