„Das reiche Erbe der europäischen Kultur wird unterdrückt“

Bei einem Besuch im Leyvik-Haus, einer jiddischen Insel in Tel Aviv, gibt Hausherr Daniel Galay eine Toud’Horizon über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieses Zentrums und der jiddischen Kultur in Israel.

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Das Leyvik-Haus: ein Zuhause für JiddischFans, dessen Zukunft nicht mehr gesichert ist. © Konrad Holzer; Leyvik-Haus

Die Dov Hoz ist eine stille Gasse im Herzen Tel Avivs. Auf Hausnummer 30 weist nichts darauf hin, dass sich hier ein Zentrum jiddischer Kultur befindet, das sogenannte Leyvik-Haus. Als wir an der versteckten Eingangstür klingeln, öffnet niemand. Doch pünktlich zu unserem Termin steigt Daniel Galay mit seiner Frau Chana aus einem kleinen Auto und schließt uns auf. Ohne Hinweis von Berl Kotlerman, der uns im WINA-Interview (November 2022) auf diese Institution aufmerksam machte, wären wir nie hergekommen.

Im abgedunkelten Hauptraum des Hauses stapeln sich viele Sesseln entlang einiger an die Wand gerückter Tische. Unübersehbar kündet hier alles von mehr Vergangenheit als Gegenwart, von einer Zeit, als dieser Raum von lebhaften Gesprächen erfüllt gewesen sein muss, von einer Sprache, der dieser Ort seit 1970 gewidmet ist. Jiddisch.

Daniel Galay will sowohl die Jiddische Sprache wie auch ihre Kultur und Geschichte in Israel bekannt machen. © Konrad Holzer

Pionierarbeit. „Die Vereinigung jiddischer Schriftsteller gibt es bereits seit etwa 1927. Pioniere, die nach Israel kamen, Schriftsteller und Journalisten, gründeten eine Publikation, und daraus entwickelte sich diese Vereinigung. Erst als H. Leyvik 1963 starb, sammelte man Geld, um dieses Haus zu bauen und es nach ihm, der ein großer moderner jiddischer Schriftsteller und ein Sozialist war, zu benennen“, erzählt Daniel Galay, der hier seit 2001 den Vorsitz führt, und das mit der aktiven Mithilfe seiner Frau Chana, die sich als Rechtsanwältin auch um die finanziellen Agenden des Hauses kümmert.

Daniel Galay, der eigentlich Goldwasser hieß, wurde 1945 in Buenos Aires geboren, wohin seine Eltern bereits in den späten 1920er-Jahren aus Osteuropa eingewandert waren. Sein Vater war Schneider, aber auch leidenschaftlicher Schauspieler an einer jiddischen Bühne, von ihm will Daniel das Musische und Musikalische geerbt haben, und Jiddisch war ohnehin die Familiensprache. Spanisch lernte er in der Schule, und seit seiner Alija, die ihn 1965 nach Israel brachte, ist er auch im Hebräischen zuhause. Nach einiger Zeit im Kibbuz studierte er in Tel Aviv und später in Chicago Komposition.

Dov Hoz 30, 6341623 Tel Aviv, Israel
leyvikmail@gmail.com

„Als ich mit meiner Familie in den Achtzigerjahren nach Israel zurückkehrte, fragte ich mich: Was kann ich für mein Land tun? Mir war es wichtig, nicht nur meinen Kindern, sondern auch der Gesellschaft die jiddische Sprache, ihre Werte und Kultur weiterzugeben. Ich begann mit Versammlungen in privaten Häusern und entdeckte, dass es viele sehr enthusiastische Menschen gab, die es genossen, jiddisch zu hören und zu sprechen und traditionelles jüdisches Essen zu essen. Also erweiterten wir unsere Aktivitäten und brachten 1990 einen Gesetzesantrag ein, dass Jiddisch als Sprache in Israel anerkannt werden muss. Dieses Gesetz wurde 1996 angenommen: ein großartiger Schritt, um die Sprache zu erhalten und an die nächste Generation weiterzugeben.“

Mit dem Gesetz flossen auch Fördermittel für jiddischsprachige Institutionen, und so konnte auch das Leyvik-Haus als Zentrum für jiddische Autoren und Journalisten aufblühen. Neben dem intensiven klubartigen Vereinsleben gab es Aktivitäten für Jiddisch-Fans, eine Bibliothek, Vorträge und Konzerte.

 

„Es gibt Tausende, die sich in Social
Media organisieren und mit Jiddisch befassen.“

 

„Hier konnten alle frei sprechen, denn es war ihr Haus. Aber unsere Mitglieder waren größtenteils noch in Europa geboren, und es war klar, dass wir neue und jüngere Generationen anziehen mussten. Meine Frau erreichte als Anwältin schließlich Zuwendungen vom Bildungsministerium, ohne die wir nicht existieren könnten. In den Achtzigern starteten wir auch einen Verlag für zeitgenössische, neue jiddische Literatur.“

Wie aufs Stichwort erscheint ein Bote und liefert einen Stapel druckfrischer Exemplare ab. Daniel strahlt und öffnet sofort ein Paket. „Das ist immer ein Festtag, wenn ein neues Buch bei uns erscheint! Unsere Bücher verbreiten wir auch via Internet in verschiedenen Länder.“

„Renaissance“. Lebendiges Jiddisch muss aber auch gehört und gesprochen werden, und daher unterrichtet Daniel jiddische Intonation, also die Melodie der Sprache, was ihm als Musiker besonders nahe liegt. Seit der Corona-Zeit halten er und drei andere Lehrpersonen den Kursbetrieb vermehrt auch via Zoom ab. Da werden auch Stücke gelesen, einige davon hat Daniel selbst geschrieben. Dass sich in Israel keine Bühne für sie findet, weil es nur ein jiddisches Theater gibt und dieses „kein besonders hohes Niveau hat“, schmerzt ihn natürlich.

Miriam Tisch wünscht sich eine akademische Beachtung der jiddischen Literatur
in Israel. © Konrad Holzer

„Aber ich bin sehr glücklich, dass vier meiner Kammeropern, drei davon auf Jiddisch, aufgeführt wurden. Eine in Dresden bei einem Festival für jüdische Kultur. Zwei Sänger sangen jiddisch, zwei Schauspieler sprachen Deutsch. Es war fantastisch.“ Die Rolle der Sprache aus dem Schtetl in der israelischen Gesellschaft sieht Galay ambivalent. Einerseits stellt er im Gegensatz zu manchen anderen eine Renaissance der Sprache fest, ausgelöst vor allem durch den Nobelpreis für Isaak Bashevis Singer im Jahr 1978, der Jiddisch ein neues Prestige verliehen habe. „Und seit auch in Israel Sepharden und Misrachim auf ihre Identität stolz sind, gibt es Tausende mit europäischen Wurzeln, die sich in Social Media organisieren und mit Jiddisch befassen. Sich von Jiddisch zu lösen, bedeutet, sich von unserer Geschichte abzulösen. Und das passiert leider in Israel. Für viele Politiker und Medien bedeutet jüdische Geschichte der Holocaust. Aber am Schicksal des jüdischen Volkes sind sie nicht interessiert. Das führt zu einer Art von Nationalismus ohne menschliche Werte, ohne Kultur und Kunst. Das ethnische Erbe von Aschkenasi, Sepharden, Misrachim, das ist unsere Jüdischkeit. Das ist nicht nur Religion, sondern tägliches Leben, wie es sich in den verschiedenen Sprachen wie zum Beispiel auch Ladino, spiegelt. Wenn man alle Mittel in neue Siedlungen und religiöse Erziehung steckt, gibt es keine für diese anderen Aspekte des Jüdischen. Zurzeit wird das reiche aschkenasische Erbe der europäischen Kultur unterdrückt.“

Die Wissenschaftlerin. Natürlich kann man Jiddisch an den Universitäten studieren, doch für die Absolventen gäbe es im Land kaum Jobaussichten. Eine, die es trotzdem wagt, hat zufällig gerade den Raum betreten. Miriam Tisch, eine junge rothaarige Frau aus Köln. Vor 20 Jahren ist sie nach Israel gekommen, weil es für sie „der aufregendste Ort der Welt“ war. Nach einer Technikausbildung wechselte sie zu einem Literaturstudium.

„Hier im Leyvik-Haus bereite ich jetzt eine Anthologie mit Texten vor, die mit dem Holocaust zu tun haben, von überlebenden Schriftstellern, die bereits im Leyvik-Haus publiziert hatten.“ Einem davon, dem eher unbekannten Dichter Leiser Eichenrand (1911–1985), der in Zürich lebte, ist ihre Masterarbeit an der Universität Tel Aviv gewidmet.

 

„Für die Zukunft ist es nicht genug zu sagen,
Jiddisch ist eine schöne Sprache.“

 

„In meiner Arbeit beleuchte ich Eichenrands Beziehung zu Abraham Sutzkewer, der ein guter Freund von ihm war, und vergleiche die Texte auch mit Celan, der ihm formal am ähnlichsten ist. Ich glaube, ich kann mit diesen Aspekten auch ein Publikum erreichen. Natürlich ist in der Lehre die Luft ein bisschen dünn, aber ich würde mir da schon eine Zukunft wünschen.“ Dass man jiddische Kultur vereinzelt doch auch beruflich erfolgreich leben kann, dafür ist die Familie Galay selbst ein Beispiel, wie Chana, Daniels Ehefrau, stolz verrät. Sohn Asaf Galay hat sich als Filmer jiddisch-literarischen Themen zugewandt und unter anderem einen Streifen über Isaak Bashevis Singer gedreht. Asafs Frau, Chana Pollin-Galay, hat den Lehrstuhl für Yiddish Studies an der Tel Aviv University inne, und Tochter Racheli Galay, eine Cellistin und Musiklehrerin für angehende Lehrer, begleitete und unterstützte ihren Vater bei dessen Aufführungen und Tourneen.

Ausblick. Für die Zukunft des Zentrums sieht Daniel Galay aber „ein großes Fragezeichen. Man könnte Kandidaten für meine Nachfolge finden, aber meine Frau und ich arbeiten ehrenamtlich, Jüngere können das nicht. Wenn man keine Mittel zur Erhaltung und ehrenamtliche Mitarbeiter für die kulturelle Aufgaben findet, könnte das Leyvik-Haus ganz leicht verschwinden.“

Die chassidischen Gemeinden, die Jiddisch als Alltagssprache verwenden und damit eine starke Basis der Sprache schaffen, seien an moderner Literatur nicht interessiert, vereinzelt verirren sich „orientierungslose Aussteiger“ aus diesen Gruppen her, aber ökonomisch könnte ihnen da nichts angeboten werden, bedauert Galay.

300 Mitglieder gab es hier früher, jetzt hat die Vereinigung nur noch 30, wovon nur zwei noch der älteren Generation angehören. Man bemühe sich jetzt auch um Übersetzer und Wissenschaftler, seit aber Covid zugeschlagen hat, ist der physische Kontakt erschwert. Doch Daniel Galay gibt nicht auf. „Die Atmosphäre im Land verändert sich, und ich hoffe auf mehr Unterstützung. Das Haus gehört ja uns, und wir vermieten Teile davon zur Erhaltung. Für die Zukunft ist es aber nicht genug zu sagen, Jiddisch ist eine schöne Sprache. Man muss ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln. Ohne dieses wäre das Leyvik-Haus schon vor zwanzig Jahren verschwunden.“

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