Der faule, feige junge Hitler

Die beiden Zeithistoriker Johannes Sachslehner und Oliver Rathkolb haben das Standardwerk Brigitte Hamanns, Hitlers Wien, komplett neu bearbeitet.

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Brigitte Hamann, Johannes Sachslehner, Oliver Rathkolb: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. Molden 2022, 512S., € 40

Lehrjahre eines Diktators präzisiert das Buch im Untertitel seine Zielrichtung. Wie hat das Wien knapp nach der Jahrhundertwende und vor dem Ersten Weltkrieg ausgeschaut? Was waren die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Determinanten? Und wo finden sich belegbare Berührungspunkte mit dem jungen Oberösterreicher Adolf Hitler, der auf der Suche nach seinem Glück hierher gezogen war, wo direkte oder indirekte Auswirkungen auf seine spätere politische Karriere?

Die Historikerin Brigitte Hamann, die 2016 gestorben ist, hat im Jahr 1996 mit Hitlers Wien ein Standardwerk vorgelegt, das nicht zu Unrecht als Klassiker bezeichnet wird. Und doch ging sie damals einen schwierigen Weg, über weite Strecken auf wackeligem Boden. Die Quellenlage war alles andere als eindeutig, manchmal dürr bis nicht vorhanden, allzu oft von Eigeninteressen bestimmt: Hitlers Buch Mein Kampf, das manche über Strecken als verlässliche Autobiografie deuteten (nicht Hamann), war natürlich politische Propaganda und zeichnete ein redigiertes Bild seiner Wiener Jahre. Sekundärquellen, seien sie Jugendfreunde, Bekannte aus dem Männerheim oder Geschäftspartner aus der Zeit, sind unterschiedlich zuverlässig. Die einen wollten sich in der NS-Zeit mit ihrer Nähe zum Führer wichtigmachen, echte oder gefälschte Bilder des Diktators teuer verkaufen, andere später mit fantasievoll angereicherten Biografien Cash machen.

 

„Hitler lernt unsystematisch, ohne Anleitung,
voller Hass auf Schulen und Universitäten,
ohne Einbindung in eine Burschenschaft,
einen Arbeiterverein oder Ähnliches.“
Aus Hitlers Wien

 

Der Professor für Zeitgeschichte an der Universität Wien, Oliver Rathkolb, begründet die Neuauflage unter anderem so: „In den letzten Jahren tauchten aber doch eine Reihe von neuen Primärquellen auf und nicht zuletzt durch die grandiose Volltextdigitalisierung von zahlreichen Zeitungen durch die Österreichische Nationalbibliothek […] konnten neue biografische Mosaiksteine gefunden werden.“ Die Absicht der Neubearbeitung sei „ein Buch, das verlässlich den neuesten Forschungsstand abbildet und die zentralen Fragen ausgewogen und differenziert anspricht. Die klare Gesamtbotschaft – die Wiener Jahre waren für Hitler von elementarer Bedeutung – werden überzeugend und mit spannenden neuen Details präsentiert.“ Der Historiker und Sachbuchautor Johannes Sachslehner hat etwa 15 Prozent des Texts neu verfasst und versucht die Untiefen der oft wenig glaubwürdigen Zeitzeugen „neu zu gewichten und zu interpretieren“, erläutert Rathkolb. „In wichtigen Bereichen hat er auch Brigitte Hamann korrigiert, ohne ihre Leistung zu schmälern.“

Worum geht es im Buch? Der 18-jährige Halbwaise Adolf Hitler kommt aus Oberösterreich mit dem Wunsch nach Wien, Künstler zu werden. Er bewirbt sich an der Kunstakademie, wird auch nach Vorlegen seiner Werksmappe zur Aufnahmsprüfung angenommen, fällt aber beim Zeichnen durch. Ein zweiter Versuch scheitert später bereits an der Qualität der vorgelegten Arbeiten.

Hitler bekommt sogar eine weitere Chance. Oberösterreichische Bekannte schreiben einen Empfehlungsbrief an Professor Alfred Roller, einen damals einflussreichen Bühnenbildner und Ausstatter an der Wiener Hofoper. Dieser zeigt sich bereit, ihn zu empfangen, Hitler traut sich aber nicht, ihn aufzusuchen.

Er lebt nun von einer kleinen Waisenrente, die er mit seiner Schwester in Linz teilen muss, und von gelegentlichen geschnorrten Darlehen einer Tante. Sein Vormund nach dem Tod der Mutter drängt ihn mehrmals, doch eine Arbeit aufzunehmen oder eine Lehre zu beginnen, vergeblich. Hitler wird zum Müßiggänger, imaginierten Künstler und Privatstudenten. Die Tage verbringt er mit dem Lesen von Zeitungen und Büchern, viele Abende auf dem Stehplatz der Hofoper bei Wagner-Aufführungen oder bei politischen Veranstaltungen unterschiedlicher Art.

Doch das Geld reicht hinten und vorne nicht, anders, als er in seiner späteren geschönten Rückschau vorgibt, hat er nicht oder bloß extrem kurz auf dem Bau als Hilfsarbeiter gearbeitet, dazu ist er körperlich zu schwach. Das sollte sich auch bei einer späteren Musterung für die österreichische Armee in Salzburg bestätigen, er wurde für untauglich erklärt.

 

Ein mit „A. Hitler“ signiertes und mit „3“ nummeriertes Aquarell zeigt eine Salzburger Berglandschaft.

Der Geldmangel spitzt sich zu, Hitler muss die ohnehin bescheidenen Unterkünfte wechseln, es kommt sogar zum Absturz ins Obdachlosenasyl in Meidling. Stabilität erlangt er wieder im – für die damalige Zeit recht modernen – Männerwohnheim in der Brigittenauer Meldemannstraße. Dort gibt es kleine Einzelzimmer mit elektrischem Licht, Bäder und leistbares warmes Essen. Gemeinsam mit einem Mitbewohner entwickelt er ein einigermaßen einträgliches Geschäftsmodell. Er malt Wiener Ansichten nach Vorlagen, sein Kollege oder auch er selbst verkaufen diese in der Stadt, etwa bei Antiquariaten oder Rahmenmachern. Das hält beide über Wasser. Neben dem Malen schwadroniert Hitler bereits öfter vor anderen Männern im Heim über politische Themen und zieht vor allem gegen die Juden her, selbst wenn unter seinen Kunden der Aquarelle auch jüdische Kaufleute waren.

Als Hitler mit dem 24. Geburtstag sein väterliches Erbe aus Oberösterreich antreten kann, legt er seine schäbige Kleidung ab, staffiert sich neu aus und zieht nach München, zunächst für ein angestrebtes Architekturstudium. Dort soll dann allerdings seine politische Karriere beginnen.

Biografie und Lebensumfeld. Hamann/ Sachslehner/Rathkolb verknüpfen diese recht unspektakuläre Biografie eines verschrobenen „Sonderlings“ mit dem bunten, vielfältigen, ökonomisch brutalen Hintergrund der Kaiserstadt. Ob Krankheiten oder Wohnungsnot, Hungerrevolten oder Prostitution, Nationalitätenstreit oder antisemitisch aufgeladene Diskussionen um die Führung der Hofoper und die richtige Praxis von Wagner-Aufführungen: All das wird als breites Panorama aufbereitet und, wo es geht, die jeweils mögliche Schnittstelle zum jungen Hitler dokumentiert.

Auch wenn man nicht genau weiß, was er gelesen hat, kristallisieren sich doch bestimmte Medien heraus, vor allem jene der Deutschnationalen. Manche Formulierungen aus ihnen tauchen Jahre später fast wortident in Hitlers Reden oder Schriften wieder auf. Er soll zwar keinen wissenschaftlichen Zugang, keine Strategie des Lernens entwickelt haben, verfügte aber angeblich über ein gutes Gedächtnis, das er mit seinen wiederholten manischen Reden noch schärfer auf seine Themen fokussierte. „Hitler lernt unsystematisch, ohne Anleitung, voller Hass auf Schulen und Universitäten, ohne Einbindung in eine Burschenschaft, einen Arbeiterverein oder Ähnliches. Er lernt aus Büchern der Leihbüchereien und aus billigen Broschüren, die die Partien und politischen Vereine herausbringen. Vor allem lernt er aus Zeitungen, von denen er nie genug bekommt.“

Als politisch prägend bezeichnet das Buch – neben einigen obskuren, damals populären Autoren – vor allem den Landadeligen und Deutschnationalen Georg Ritter von Schönerer sowie den regierenden Bürgermeister von Wien, den Christlichsozialen Karl Lueger. Obwohl diese in konkurrierenden Lagern verortet waren, schwärmte Hitler von beiden, studierte das populistische Talent Luegers genau, auch wenn er dessen Nähe zum Kaiser und zur Kirche ablehnte. Den Antisemitismus beider Politiker sog er auf. Aus deutschnationaler Sicht galt sein Hass überdies schon früh auch den anderen Volksgruppen in der Donaumonarchie, vor allem den Slawen. Die Ablehnung des Parlamentarismus dürfte er ebenfalls in Wien entwickelt haben, als er bei chaotischen, von unterschiedlichen Nationalismen befeuerten Sitzungen mit endlosen FilibusterReden zuhörte.

Über seine Ankunft in München schrieb Hitler später in Mein Kampf: „Eine deutsche Stadt! Welch ein Unterschied gegen Wien! Mir wurde schlecht, wenn ich an dieses Rassenbabylon auch nur zurückdachte.“ Als Hitler Anfang der 1920er-Jahre schon im Auftrag der deutschen NSDAP als Wahlkampfredner nach Wien kam und mehrmals in vollen Sälen sprach, in Hernals und im Prater, gehörten die antisemitischen Standards bereits zum Kern seiner politischen Polemik. Vor dort war es freilich noch ein weiter Weg zum Reichskanzler, zum Führer und zum millionenfachen Mörder.

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