Vom Überleben als „Onderduikers“

Im großartigen Band Unsichtbare Jahre zeichnet Daphne Geismar die vielstimmige Geschichte ihrer niederländischen Familie während der NS-Zeit an Hand von Originaldokumenten nach.

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Daphne Geismar: Unsichtbare Jahre. Die Geschichte einer niederländischen Familie während des Holocaust. Übersetzt von Irene Eisenhut. btb 2022, 256 S., € 26,80 © Jewish Book Council

Sommer 1942. Hadassah ist neun, Judith zehn und Mirjam elf Jahre alt. Die Deportationen holländischer Juden nach Auschwitz haben bereits begonnen. Chaim de Zoete und seine Frau Fifi fassen einen Entschluss. Die Familie muss untertauchen, aber nicht gemeinsam. „An einem Morgen im August schickten wir die Kinder auf ihren Rollern weg. Wir wiesen sie an, ihre Pullover mit den gelben Sternen auf einem einsamen Weg in der Nähe eines Kanals auszuziehen und dann zu einer bestimmten Adresse in Rijswik weiterzufahren. Von dort wurden sie zu ihren endgültigen Adressen gebracht.“ Ob sie ihre Töchter je wiedersehen würden, wissen sie nicht.

Untergetaucht. Für die bis dahin liebevollst umsorgten Schwestern beginnt ein Leben als „Onderduikers“, als Untergetauchte. Drei Jahre werden sie voneinander getrennt in oftmals wechselnden Verstecken verbringen, bei Familien besser oder schlechter untergebracht sein. Besser oder schlechter ernährt, schlafen sie in sauberen Betten oder auf Matratzen in verborgenen Kellerräumen, ohne Nachricht voneinander, ausgeliefert dem Wohlwollen ihrer Retter. Chaim und Fifi verstecken sich ein halbes Jahr an verschiedenen Orten, die sie aus Angst vor Hausdurchsuchungen der Gestapo immer wieder fluchtartig verlassen müssen. Als sie wieder einmal ohne Übernachtungsmöglichkeit dastehen, findet ein protestantischer Pfarrer, Gerrit Brillenburg Wurth, einen Unterschlupf für sie. Auf dem Dachboden über der Orgel seiner Kirche. Als er den Küster ins Vertrauen zieht, stellt sich heraus, dass dieser bereits vier Juden unter dem Kirchendach versteckt hat. Auf der anderen Seite des Kirchendachs baut er schnell ein Balkenwerk aus Brettern für das Paar. Für „etwa zehn Tage“ würden sie es an diesem furchtbaren Ort schon aushalten, meint der Pfarrer. Zwei Jahre werden sie dort verbringen, tagsüber im Bett, damit ihre Schritte im Kirchenraum nicht hörbar werden. Durch eine Falltür versorgen sie der Pfarrer und seine Frau mit Mahlzeiten, als er als Widerstandskämpfer verhaftet wird, übernimmt das der Küster.

 

„Wir wiesen die Kinder an, ihre Pullover mit den
gelben Sternen auf einem einsamen Weg auszuziehen.“

 

„Holocaust-Schubladen“. 2006 lädt die Gemeinde der Breepleinkirche die Nachkommen der beiden jüdischen Familien, die am Dachboden der Kirche versteckt waren, nach Rotterdam ein, damit sie die Nachkommen der einstigen Retter kennenlernen. Elf Familienmitglieder reisen aus den USA und Israel zu diesem emotional aufwühlenden Treffen an, bei dem die Schwestern Mirjam und Judith erstmals mehr über ihre Zeit als „Onderduikers“ erzählen, über die in den Familien geschwiegen wurde. Als ihre Töchter Sharon und Daphne daraufhin beschließen, diese Geschichten zu recherchieren und aufzuzeichnen, öffnen ihnen Mirjam und Judith ihre jeweiligen „Holocaust-Schubladen“, die sie in ihren Wohnungen verborgen hatten. Eine überraschende Menge an Dokumenten, nicht nur aus der Familie der Schwestern de Zoetes, sondern auch von deren Ehemännern, die alle drei den Holocaust auf unwahrscheinlichste Weisen überlebt haben, kommt damit ans Tageslicht. Briefe, Tagebücher, Aufzeichnungen, Fotos und Berichte bis hin zu den Erfahrungen in der Nachkriegszeit und der Auswanderung nach Israel. Darunter deutschsprachige Aufzeichnungen von Erwin Geismar, dem väterlichen Großvater Daphnes, die er in Holland verfasste, bevor er in Auschwitz umkam.

Daphne Geismar: „Ein Fehltritt, und alles ist aus.“ Die Grafikerin arbeitete zehn Jahre an der Dokumentation der Untergrundgeschichte ihrer Familie. © Terry Dagradi

In Chaims Tagebuch findet sich auch eine Skizze des Verstecks in der Kirche bei seiner Schilderung einer Razzia, die kurz vor Kriegsende beinah zur Entdeckung geführt hatte. Nur einen halben Meter war der Kopf des Polizisten von Chaims Füßen über den dünnen Holzlatten entfernt gewesen. „Ein Fehltritt, und alles ist aus.“

Nachwehen. 20.000 holländische Juden verdanken ihr Leben den zum Teil sehr gut organisierten Helfernetzwerken des holländischen Untergrunds. Die Motive der Menschen, die Juden unter Lebensgefahr bei sich versteckten, waren unterschiedlich, was auch aus den Aufzeichnungen der de Zoetes herauszulesen ist. Die tragischen Schicksale ihrer vielen umgekommenen Verwandten (eine Buchseite erinnert an deren Namen), manche wurden verraten, andere folgten den Anweisungen der Deutschen bis in Gas, zeigt einmal mehr, dass das Überleben einer fünfköpfigen Familie wohl ein äußerst seltener Glücksfall war.

In zwölf Briefen an Yad Vashem, mit genauen Angaben über die Retter und deren Helfer, hat sich Chaim bald nach dem Krieg für deren Ehrung eingesetzt. Für einen der Geehrten verlangte Judith aber später die Aberkennung des Titels „Gerechter unter den Völkern“. Denn an ihrem letzten Versteck ist sie fast zwei Jahre lang missbraucht worden, vom Vater und den beiden Söhnen der Familie. Bei Kriegsende ist sie noch nicht einmal 14! Erst anlässlich des Buchprojekts ihrer Tochter wird sie über dieses lang verschwiegene Trauma sprechen. „Der Krieg war noch nicht vorbei, als der Krieg vorbei war“, stellt Mirjam zu den seelischen Nachwehen der unsichtbaren Jahre fest.

Viele Jahrzehnte nach Anne Franks berühmten Tagebüchern leuchtet nun Daphne Geismars Band wiederum in die dunkle Untergrundgeschichte Hollands hinein. Zehn Jahre lang hat sie Quellen gesichtet, recherchiert, gesammelt, Betroffene befragt und alle Informationen auch historisch fundiert eingeordnet. All das macht das weitverzweigte Familienpuzzle aus einzelnen Biografien weit über die individuellen Schicksale hinaus zu einem unerhört berührenden und äußerst klugen Zeitdokument. Dass Daphne Geismar Buchdesignerin ist, offenbart die Gestaltung dieses wunderbaren Bandes. Folgt man seiner vielstimmigen Dramaturgie, so ist einem am Ende fast, als wären da nach 80 Jahren unbekannte Verwandte zu Wort gekommen, und man ist froh, dass sie es endlich durften.

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