Der Gesellschaft einen Zerrspiegel vorhalten

Stephanie Mohr hat die bitterböse Satire Der Himbeerpfücker von Fritz Hochwälder in den Wiener Kammerspielen genauso inszeniert, wie es der Dramatiker wollte: als Komödie, bei der einem die Lacher im Hals stecken bleiben.

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STEPHANIE MOHR, geboren 1972 in Genua, aufgewachsen in Paris und Wien. 1990 begann sie als Regieassistentin von Hans Gratzer und Peter Weck und arbeitete ab 1991 am Wiener Burgtheater u. a. mit Claus Peymann, Leander Haußmann und Paulus Manker zusammen. Seit 1995 ist Mohr als freie Regisseurin tätig. Sie inszenierte u. a. am Schauspiel Frankfurt, Landestheater Linz, Staatstheater Nürnberg, Volkstheater Wien, Gärtnerplatz Theater München, Theater Luzern, Salzburger Landestheater, bei den Vereinigten Bühnen Wien, den Bad Hersfelder Festspielen und außerdem in Co-Regie mit Franz Wittenbrink an den Münchner Kammerspielen, am Burgtheater Wien und in Aix-en-Provence. Für die Josefstadt inszenierte sie bereits vier Uraufführungen von Felix Mitterer, und zwar Jägerstätter, Der Boxer, Galápagos sowie In der Löwengrube. Weiters zeichnete sie für die Uraufführung Sieben Sekunden Ewigkeit von Peter Turrini verantwortlich. In der Saison 2021–2022 folgte die Uraufführung von Die Stadt der Blinden von Thomas Jonigk nach José Saramago. Zu ihren letzten Arbeiten zählen Schnitzlers Professor Bernhardi und Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald am Landestheater Linz sowie die britische Erstaufführung von Youth without God von Christopher Hampton nach Ödön von Horváth am Londoner Coronet Theatre. Dort inszenierte Mohr vor Kurzem erneut und wurde mit dem OFFIES Best Video Design Preis für The Yellow Wallpaper von Charlotte Perkins Gilman ausgezeichnet. © Reinhard Engel

WINA: Sie haben gerade die schwarzhumorige Komödie von Fritz Hochwälder Der Himbeerpflücker an den Kammerspielen des Theaters in der Josefstadt inszeniert. Hochwälder, Sozialist und Jude, gelang 1938 die Flucht in die Schweiz, wo er seinen literarischen Durchbruch erlebte. In der bitterbösen Satire Der Himbeerpflücker rechnet er mit der historischen Selbstgerechtigkeit und der mangelnden Aufarbeitung der NS-Zeit im Nachkriegsösterreich ab.* Die Sprache des Dramatikers Hochwälder ist heute nicht sehr cool, auch wenn sein menschliches Anliegen sehr aktuell ist. Warum hat sich das Theater, warum haben Sie sich jetzt dafür entschieden?
Stephanie Mohr: Dieses Thema hat nicht nur jetzt Aktualität, sondern immer! Denn die Verdrängung von braunem Gedankengut in Österreich oder, besser gesagt, die permanente Anwesenheit davon ist leider immer aktuell. Das Stück ist in den 1960erJahren angesiedelt, und das ändern wir auch nicht. Es handelt nun einmal davon, dass Menschen, die 20 Jahre zuvor noch Teil der grausamen Maschinerie des Nationalsozialismus waren, sich nahtlos wieder in die Gesellschaft integriert haben. Hochwälder hat in der Gegenwart der 60er-Jahre geschrieben und somit 20 Jahre bevor sich mit der Waldheim-Affäre der österreichische Opfermythos endgültig als Blase erwiesen hat.

Hochwälder ist aus seinem Schweizer Exil nie mehr nach Österreich zurückgekehrt. Trotzdem interessierten ihn die Entwicklungen hier.
I Ja, so ist es: Er wollte nie zurück, war hier als Dramatiker äußerst erfolgreich, hat von der Schweiz aus den Umgang der Österreicher mit ihrer Geschichte sehr genau beobachtet. Zum Beispiel vermute ich stark dass ihn der Prozess und der 1963 erfolgte skandalöse Freispruch für Franz Murer (von den NS-Opfern als „Schlächter von Wilna“ benannt) sehr beschäftigt hat. Ich finde in dem Stück ständig kleine Hinweise darauf.

Kann man Hochwälder als weitsichtig bezeichnen?
I Ja, das war er, sehr ernüchtert und weitsichtig. Er hatte einen unglaublich klugen Humor, einen besonderen, liebevollen Scharfsinn, einen großen Spürsinn für das Ungeheuer im Menschen, das einen grausen lässt. Wir haben seine Sprache, jene der 1960er-Jahre, beibehalten, aber behutsam entstaubt. Ich wüsste nicht, warum man das Stück im Heute und Jetzt spielen sollte. Dass jemand in vollem Saft wieder auftaucht, der angeblich 1945 untergetaucht ist, ginge sich heute zeitlich gar nicht mehr aus. Daher die sehr bewusste Entscheidung, in der Entstehungszeit zu spielen. Das Absurde ist aber, dass nicht nur die Inhalte, sondern auch eine gewisse Ästhetik aus dieser Epoche noch weit in das heutige Österreich herüberreicht: diese gewisse braune Holzvertäfelung, durch die sich bestimme Gasthäuser und Amtsräume geradezu ähnlich schauen, die kennen wir doch alle noch!

„Es handelt nun einmal davon, dass Menschen,
die 20 Jahre zuvor noch Teil der grausamen Maschinerie
des
Nationalsozialismus waren, sich nahtlos wieder
in die Gesellschaft integriert haben.“

Stephanie Mohr

Ihre jüngsten Regiearbeiten weisen eine starke Affinität zu zeitgenössischen Dramatikern auf: Sie haben zahlreiche Stücke von Felix Mitterer und Peter Turrini inszeniert. Wie passt da Hochwälder dazu?
I Ich habe das große Glück, häufig Uraufführungen machen zu dürfen, aber unternehme ja durchaus auch oft Ausflüge in die Vergangenheit, mit älteren oder neueren Klassikern wie Schnitzler, Handke oder Frisch. Ich bin froh, dass die Josefstadt sich dazu entschieden hat, mir den Himbeerpflücker anzubieten. Gerade durch die politischen Entwicklungen der letzten Jahre hat mich der Stoff sofort fasziniert: Die Freunderlwirtschaft blüht und gedeiht, Unerhörtes wird einfach wieder unverblümt gesagt, es wird offen und frech gelogen, herumgeschoben, zurechtgebogen. All das ist bei Hochwälder Thema!

Hochwälder frönte noch den Regeln der Einheit von Handlung, Zeit und Ort. Regeln, die heute insbesondere im deutschsprachigen Raum nicht mehr geschätzt werden, wo alles „überschrieben“ wird, der Originaltext vom Regietheater nur als Verhandlungsmasse angesehen wird, wo man sich vielleicht einige Gedanken herausklaubt, aber vor allem Eigenes interpretiert. Wie sehen Sie das?
I Ja, das ist ein großes Thema, einerseits natürlich spannend und legitim, andererseits liegt es mir persönlich nicht so sehr. Ich bin eine Geschichtenerzählerin, mir sind Autor:innen wichtig, und daher versuche ich eine Geschichte immer in ihrem Entstehungskontext zu verstehen, sprachlich wie historisch oder gesellschaftspolitisch, und einen nuancierten Bogen in die Gegenwart zu spannen. Hochwälder hat das eindeutige Anliegen, sich mit der unbewältigten NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen – im Himbeerpflücker packt er das Thema komödiantisch an. Wie sehen Sie die Gefahr der Verharmlosung dabei?

Vor allem auch angesichts der aktuellen Situation, der neuerlichen Bedrohung jüdischer Menschen in Österreich, aber auch weltweit?
I Der Gesellschaft einen Zerrspiegel vorzuhalten, erscheint mir hier essenziell; einen Spiegel, in dem sich zeigt, wie Politik auch im Kleinen betrieben wird, wie Menschen einander gegenseitig manipulieren, übervorteilen, das Hackl ins Kreuz werfen, um obenauf zu schwimmen. Gleich einem Raubtierkäfig findet sich bei uns auf der Bühne eine Mischung aus Stammtisch und Amtsgebäude.
Ja, es ist eine Komödie, und ich halte das für eine ganz große Qualität des Stückes – vielleicht vergleichbar mit Momenten in Ernst Lubitschs Klassiker Sein oder Nichtsein, wo z.B. schallend über Dummheit, Jovialität und Eitelkeit eines gewissen KZ-Kommandanten gelacht werden kann. Gleichzeitig wird einem schlecht dabei. Sollte der eine oder andere Lacher an der falschen Stelle kommen oder auf eine falsche Weise erfolgen, so kann man aber hoffen, dass andere im Publikum genau darüber reflektieren: dass an der falschen Stelle gelacht wurde!

Geben Sie uns ein Beispiel?
I Es werden zum Teil Sachen gesagt, die wahnsinnig schwer auszuhalten sind. Die Schauspieler:innen fragten mich oft, wie kann ich das heute überhaupt sagen? Beispielsweise „semitische Intelligenz ist allgemein überschätzt“ oder: „So eine selige Ruhe war hier, ein Gottesfrieden, man hat nur ans Verdienen gedacht, und jetzt kommt auf einmal einer daher mit achttausend Toten …“

Kann man Tagesaktuelles aussparen, wie z. B., dass jüdische Menschen wieder Angst haben?
I Nein, sicher nicht, vor allem wenn man sieht, wie gefährlich, wie entsetzlich es ist, dass der Alltag neuerlich von unsäglichem Gedankengut infiltriert wird. Schon wieder? Oder noch immer? Sie sind nicht in Wien, sondern in Paris aufgewachsen.

Sind Sie auch deshalb so hellhörig?
I Ja, ich bin dort in eine öffentliche Schule gegangen, meine Mutter Doris und mein Stiefvater, der Journalist Thomas Fuhrmann, lebten in den früher 1980er-Jahren in Paris. Ich hatte noch keinen österreichischen, sondern einen deutschen Pass. Die Franzosen waren damals noch sehr ablehnend, ich war als Deutsche jedenfalls mal ein Nazi. Ich habe mir also angewöhnt zu sagen, ich sei Österreicherin. Es war einfacher in der damals gängigen Opferrolle, das machte es einer Achtjährigen in der Schule leichter. Auch dass ich das Fach Geschichte aus der Sicht der Alliierten erfahren habe, ist sicherlich ein Teil von mir. Ich hoffe, ich habe dadurch eine gewisse Klarheit bekommen, einen gleichermaßen empathischen Blick von außen wie innen. Die Auseinandersetzung mit diesen Themen ist mir besonders wichtig, durch eigene Familienverbindungen, aber auch durch die meiner jüdischen Freundinnen und Freunde und deren Geschichten, die mich ständig begleiten – auch das fließt zweifellos in meine Theaterarbeit ein.

© Wikipedia/ Nanuksen

FRITZ HOCHWÄLDER (28. MAI 1911 WIEN – 20. OKTOBER 1986 ZÜRICH) stammte aus einem jüdischen Elternhaus und erlernte wie sein Vater den Beruf eines Tapeziermeisters. Durch Volkshochschulkurse trieb er seine historische und politische Bildung weiter und engagierte sich politisch aufseiten der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ). In dieser Zeit entstand auch seine einzige längere Prosaarbeit, der Arbeitslosenroman Donnerstag, der erst nach seinem Tod im Nachlass gefunden und postum 1995 publiziert wurde. Seine erste Tragödie, Jehr, wurde 1932 in den Wiener Kammerspielen uraufgeführt. Nach rund fünf Monaten hatte Hochwälder 1938 genug gesehen von Hitlers Wien: Mit kleinem Gepäck, als Tourist getarnt, fuhr er mit der Bahn bis nach Hohenems. Von dort erreichte er die Schweiz durch den Rhein schwimmend. „Die Flussüberquerung, mehr gehend als schwimmend, denn das hat er nie gelernt, das Bündel seiner Habseligkeiten auf dem Kopf“, erinnert sich seine Witwe. Seine Eltern Therese und Leonard Hochwälder musste er zurücklassen: Beide wurden am 20. Mai 1942 nach Maly Trostinec deportiert und sechs Tage später ermordet. Für Hochwälder ging es 1941/42 in ein eidgenössisches Internierungslager. Er blieb in der Schweiz und lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1986 in Zürich. Nach 1945 avancierte er mit Stücken wie Das heilige Experiment oder Der öffentliche Ankläger zum „offiziellen“ Dramatiker der Zweiten Republik und erhielt für seine Werke zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Literaturpreis der Stadt Wien und den österreichischen Staatspreis. Sein bekanntestes Drama, Das heilige Experiment, wurde 1943 am Theater Biel Solothurn uraufgeführt und erlebte 1947 seine erfolgreiche Premiere am Wiener Burgtheater. 1952 brachte es seinem Autor auch den internationalen Durchbruch, ausgehend von Paris (unter dem Titel Sur la terre comme au ciel). Das Stück Holokaust wurde erst in seinem Nachlass gefunden und deshalb erst nach seinem Tod veröffentlicht.


* Kurzinhalt, aber kein Spoiler:
Im fiktiven Bad Brauning herrscht in den 1960er-Jahren der reiche Bürgermeister und Gastwirt Steisshäuptl. Seinen Reichtum verdankt der ehemalige Ortsgruppenleiter der Veruntreuung einer Kiste mit Zahngold aus einem nahe gelegenen Konzentrationslager, die sein Hausknecht Zagl im Auftrag des sogenannten „Himbeerpflückers“ zur Aufbewahrung übernommen hatte. Nun glaubt Zagl, eben jenen in einem Fremden, der im Gasthof abgestiegen ist, erkannt zu haben. Steisshäuptl ist außer sich: Ist der längst totgeglaubte Himbeerpflücker gekommen, um das Gold zu holen? Auch andere Honoratioren werden unruhig: Sie wenden sich von Steisshäuptl ab und überbieten einander in Anbiederung an den Fremden, dem das nur recht sein kann – allerdings aus einem ganz anderen Grund, als von den Bad Brauningern gedacht.

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