Polen und seine jüdische Vergangenheit

Während das Museum der Geschichte der polnischen Juden (POLIN) moderne Holocaust-Vermittlung bietet, hinterlässt das Schindlers Fabrikmuseum in Krakau ratlos. Eine Reise auf den Spuren jüdischer Geschichte in Polen zeigt vor allem: Historie ist immer eine Sache der Perspektive.

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Polen also. „Warum Polen?“, fragten viele, denen ich von meinen Reiseplänen für den Sommer erzählte. Und ob ich dann auch die KZ-Gedenkstätte Auschwitz besuche. Auschwitz: Das ist wohl die erste Assoziation vieler, wenn es um Juden und Polen geht. Nein, wir haben die KZ-Gedenkstätte nicht besucht – bewusst nicht besucht. Interessiert hat uns das jüdische Leben – beziehungsweise die Spuren jüdischen Lebens in der Vergangenheit.

Erste Station: Krakau. Hier ist die jüdische Vergangenheit zentrales Element der Tourismuswerbung. Ob Hop-on-Hop-off-Bus oder eines der omnipräsenten Golf-Karts, die hier an gefühlt jeder zweiten Ecke eine Rundfahrt durch die Stadt anbieten: Zu den wichtigen Sehenswürdigkeiten zählt immer auch Kazimierz, das bis zur NS-Zeit jüdische Viertel der Stadt, das ab 1941 von den Nationalsozialisten zum Ghetto umfunktioniert wurde. Südöstlich der Altstadt gelegen, ist es auch in kurzer Fußdistanz vom Zentrum aus zu erreichen.

Kazimierz ist auf alle Fälle einen Besuch wert, das Tam-Tam rundherum hinterlässt aber doch ein wenig Kopfschütteln. Da ist etwa die im 16. Jahrhundert errichtete Remuh-Synagoge. Hier werden Touristen durchgeschleust, obwohl im kleinen Gebetsraum gerade gebetet wird. Wir besuchen zunächst den Friedhof hinter der Synagoge und kehren erst später in die Synagoge zurück, als sich keine Betenden mehr darin befinden.

Jede Menge jüdische Vergangenheit in Krakau: Eingang zur Remuh-Synagoge.

Der Friedhof, er wurde 1551 angelegt und ist der älteste jüdische Friedhof Krakaus, erinnert vage an jenen von Prag, auch wenn hier noch etwas mehr Grün zwischen den einzelnen Grabstätten zu sehen ist. Besonders beliebt ist hier das Grab von Nathan Nata Spira, einem Rabbiner und Kabbalisten (1585–1633), einem ehemaligen Oberrabbiner der Stadt. Unzählige Kwitlech wurden hier, mit einem Stein beschwert, von Besuchern deponiert. Bleibenden Eindruck hinterlässt aber vor allem die Friedhofsmauer. Hier wurden in der NS-Zeit zerbrochene Grabsteine in Form eines Mosaiks zu etwas Neuem geformt.

Verlässt man die Synagoge, befinden sich vis-à-vis Restaurants, die als die ältesten jüdischen Restaurants der Stadt angepriesen werden und Namen wie Ariel und Awiw tragen. Wie in Touristenmeilen anderer Städte auch, steht hier Personal vor den Eingängen zu den Gastgärten und versucht, Vorbeigehende zu einem Lokalbesuch zu animieren. Wir überfliegen die Speisekarte des Awiw, da finden sich neben Tscholent, Shakshuka, Pierogi und Kreplach auch „Schweinerippchen“ und „Ziegenkäse“. Aber von koscher steht ja auch nichts da, sondern nur von jüdischer Küche.

Der polnische Apotheker Tadeusz Pankiewicz, der in der NS-Zeit Juden rettete; Ausstellungsobjekt im jüdischen Museum der Stadt.

Am anderen Ende des Platzes liegt das von der Stadt geführte jüdische Museum. Untergebracht in der Alten Synagoge, deren Ursprünge in das 15. Jahrhundert zurückgehen, bemüht es sich zwar um Vermittlung jüdischer Religion und Geschichte, die Präsentation ist aber in die Jahre gekommen. Am meisten faszinieren mich freigelegte Fragmente früherer Inschriften auf Iwrit. Da wird zumindest ein Stückchen authentische Geschichte sichtbar. Auch eine in die Mauer eingelassene Zedaka-Box vermittelt ein bisschen, wie es früher einmal war. Die Nazis nutzten die Synagoge als Lager, dabei ging das Inventar verloren. In den 1950er-Jahren wurde das Gebäude renoviert, seit 1961 gibt es den Museumsbetrieb.

Der kleine Museumsshop bietet neben Postkarten und Büchern auch die in Krakau allseits angebotenen Figuren orthodoxer Juden – Stereotype zum ins Regal Stellen. Hier haben sie allerdings Musikinstrumente oder eine Menora in der Hand – da findet man in anderen Geschäften in der Stadt ganz andere Varianten. In den Tuchhallen im Zentrum der Stadt finden sich beispielsweise Exemplare mit Geldsack oder Münzen. Und in Souvenirshops werden Magnete mit ähnlichem Motiv angeboten: Juden mit übergroßen Nasen und Geldsäcken in den Händen. Glücksbringer seien das, heißt es auf Nachfrage. Und ich frage mich meinerseits, ob es tatsächlich Nachfrage nach dieser Art von „Glücksbringern“ gibt.

Krakau, das ist aber auch der Ort, an dem einst „Schindlers Fabrik“ stand. Steven Spielberg setzte Oskar Schindler mit Schindlers Liste ein filmisches Denkmal. Das über der Weichsel gelegene, heute als Museum fungierende Gebäude ist inzwischen ein Touristen-Hotspot. Hier muss man bereits im Vorhinein einen Time Slot beziehungsweise eine Tour buchen.

Schindlers Fabrikmuseum sollte sich als Tiefpunkt unseres Sightseeings in Krakau entpuppen. Da gibt es zum einen eine große Dissonanz zwischen Erwartungshaltung und Museumsinhalt. Präsentiert wird nämlich die Geschichte der NS-Besatzung in Krakau. Schindler selbst beziehungsweise seiner Rettungsaktion wird nur wenig Raum am Ende des Rundgangs gegeben.

In Souvenirshops werden Magnete […] angeboten:
Juden mit übergroßen 
Nasen und Geldsäcken
in den Händen. Glücksbringer seien das,

heißt es auf Nachfrage.

 

Da stoßen wir zum anderen auf eine Tour-Guide, deren Erzählweise eine der aus den USA angereisten Teilnehmerinnen, selbst Nachfahrin von Überlebenden, in der Hälfte der Führung wutentbrannt die Tour abbrechen lässt. Das von der Fremdenführerin immer und immer wieder vorgebrachte Narrativ: Polen seien in genau demselben Ausmaß Opfer der Nazis gewesen wie Juden. Ich frage nach, ob man wirklich die Verfolgung von Juden und deren Ermordung in Konzentrationslagern gleichsetzen könne mit der sicher auch nicht guten Behandlung von Polen (sie wurden als minderwertige Menschen eingestuft, deren Wert nur in ihrer Arbeitskraft lag). „Ich habe meine Perspektive, und Sie haben Ihre Perspektive“, lautet ihre Antwort.

Vor allem aber lässt sie in der Folge kein gutes Haar an Schindler. Zur eigentlichen Rettungsaktion verliert sie kein Wort, schildert ihn vor allem als von Profitgier Getriebenen, der mit den Nazis kooperierte. Im Gegenzug streicht sie die Leistung des polnischen Apothekers Tadeusz Pankiewicz, seine Apotheke lag im Ghetto, hervor, der in der NS-Zeit ebenfalls Menschen rettete. Sowohl Schindler wie auch Pankiewicz wurden übrigens von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet. Fazit meiner Teenager-Tochter nach dieser Erfahrung: Man muss auch in Museen immer hinterfragen, was einem oder einer präsentiert wird.

Nachbildung der zerstörten Synagoge in Hwisdez im Museum POLIN, das seinerseits mit einer spektakulären Architektur aufwartet.

Station zwei: Warschau. Hier steht mit dem Museum der Geschichte der Polnischen Juden POLIN der – im positiven Sinn – absolute Kontrapunkt zum Schindlers Fabrikmuseum. Errichtet gegenüber dem Denkmal für die Helden des Warschauer Ghettos, wurde es vor knapp zehn Jahren eröffnet. Hier wird die Geschichte der Juden und Jüdinnen in Polen vom Mittelalter bis heute so erzählt, dass klar wird: Hier gab es immer Anknüpfungspunkte zur polnischen Mehrheitsgesellschaft. Es ist ein Museum zum Angreifen, ein Museum, das Raum gibt, nicht nur den Objekten, sondern auch den Gedanken und Assoziationen, die sich beim Besuch einstellen.

 

Im Warschauer POLIN wird die Geschichte der Juden und Jüdinnen
in Polen vom Mittelalter bis heute so erzählt, dass klar wird:
Hier gab es immer Anknüpfungspunkte zur polnischen Mehrheitsgesellschaft.
Es ist ein Museum zum Angreifen.

 

Die Audioguide-Tour ermöglicht einen Rundgang im eigenen Tempo, das Erzählte ergänzt die Kulissen, die man durchwandert, die Objekte und deren Beschreibungen. Besonders eindrucksvoll ist etwa der Nachbau des bunten hölzernen Gewölbes der 1942 zerstörten Synagoge in Hwisdez. Im POLIN wird nichts beschönigt. Die Pogrome nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind ebenso Thema wie der Antisemitismus im Kommunismus. Hier wird am Ende der Ausstellung auch klar, dass vom einstigen blühenden jüdischen Leben in Polen nicht viel geblieben ist – vor allem nicht in Warschau.

Museum POLIN, Eingangsbereich.

Besuch in der einzigen Synagoge der Hauptstadt, welche die Zerstörungswut der Nazis überlebt hat beziehungsweise bis heute als Ort des Gebets genutzt wird. Klein ist sie, die 1902 eröffnete Nozyk-Synagoge, pittoresk neben einem Minipark gelegen, inmitten von zwischenzeitlich errichteten Hochhäusern, die das Bild des Überbleibsels aus vergangenen Zeiten noch unterstreichen. Wir sind die einzigen Besucherinnen, daraus ergibt sich auch ein einzigartiges Erlebnis. Wann gibt es schon die Gelegenheit, allein und in völliger Ruhe durch eine Synagoge zu spazieren, sich auf die Frauengalerie zu setzen und innezuhalten, die Helligkeit des freundlichen Raums auf sich wirken zu lassen. Dass die Synagoge heute im alten Glanz erstrahlt, ist übrigens Ronald Lauders Bemühungen zu verdanken, Orte jüdischen Lebens wie diesen zu restaurieren und zu erhalten.

In Warschau tauchen wir ein drittes Mal in die jüdische Geschichte des Landes ein. Called by name nennt sich eine kleine Schau des Pilecki-Instituts, einer staatlichen Einrichtung, die sich mit Totalitarismus auseinandersetzt. Hier werden Polen porträtiert, die in der NS-Zeit Juden und Jüdinnen halfen oder sie sogar versteckten. Was all jene, an die hier erinnert wird, verbindet: Sie wurden dafür von den Nationalsozialisten ermordet und hinterließen damit Lücken in ihren Familien.

Die Ausstellung Called by name zeigt die ausweglose Situation von Juden und deren Helfern in der NS-Zeit auf.

Die Ausstellung fokussiert einerseits das Wirken und Sterben der Betroffenen, aber eben auch die Auswirkungen auf die Hinterbliebenen. „Nach dem Tod unserer Eltern wurden wir von Fremden aufgezogen“, erzählt etwa Teresa Grochowska, Tochter des ermordeten Ehepaars Stanislaw und Wladyslawa Krysiewicz. Bronislawa Janton, Witwe des ermordeten Jan Janton, wird mit den Worten zitiert: „Mein Mann war bei der Familie Fisch. Die Deutschen eröffneten das Feuer und erschossen alle. Von da an war es für mich sehr schwierig, unsere kleinen Kinder aufzuziehen.“

Im POLIN wird die Geschichte der Juden und Jüdinnen in Polen erzählt.

Die Schau hinterlässt einen mit einem ambivalenten Gefühl. Zum einen werden hier Retter und Retterinnen porträtiert und aufgezeigt: Auch solche Menschen gab es in der NS-Zeit. Zum anderen ist die Perspektive allerdings eine düstere: Kein einziger der hier Erinnerten hat überlebt. Was ist die Lektion für kommende Generationen? Versuch es erst gar nicht, es wird nur Unheil für dich und deine Familie bringen?

In Danzig wird skurriler Weihnachtsschmuck
angeboten, z. B. in Form des WesterplatteDenkmals, das an den Beginn des Zweiten Weltkriegs erinnert.

Dritte und letzte Station: Danzig. Hier gibt es heute weder eine jüdische Gemeinde noch eine Synagoge. Dafür ist die Erinnerung an die Solidarn -Bewegung groß – doch das ist eine andere Geschichte. Danzig ist allerdings für die jüdische Geschichte Polens insofern von Bedeutung, als hier im September 1939 mit dem Beschuss polnischer Befestigungen auf der Westerplatte der Überfall auf Polen und damit der Zweite Weltkrieg begann.

In der Shoah wurden nicht nur an die drei Millionen polnische Juden und Jüdinnen ermordet: In Polen errichteten die Deutschen auch die Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, Majdanek, Belzec, Sobibor, Treblinka. In einem Souvenirladen begegnet uns eine recht merkwürdige Art, der Ereignisse von 1939 zu gedenken: Angeboten wird ein Christbaumschmuck in Form des 1966 eröffneten Westerplatte-Denkmals, das eben an den Beginn des Zweiten Weltkriegs erinnert. Ja, wie mit Geschichte umgegangen wird, ist ein weites Feld.

Nozyk-Synagoge in Warschau.

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