Als am 9. November 1938 während der Reichskristallnacht Synagogen im Deutschen Reich brannten, gab es landesweit nicht nur Sachbeschädigung. Während des Pogroms wurden jüdische Mitbürger verfolgt, gefoltert und getötet. Viele nahmen sich aus Verzweiflung auch das Leben. Es war eine neue Phase in der Vernichtungspolitik der Nazis – nach ihrer Machtergreifung fünf Jahre zuvor – der mit dem Holocaust enden sollte.
„,Tod den Juden‘, schrien die meisten auch am nächsten Tag in der Kölner Südstadt“, erzählt Bertha Deutsch aus dem Kibbuz Sufa unweit des Gazastreifens. „Mit meiner Familie ging ich daraufhin zu Verwandten nach Paris, wo wir uns in Sicherheit wägten. Als auch zwei Jahre später Frankreich unter der Nazi-Herrschaft kam und meine Eltern von der Gestapo zu Tode gefoltert wurden, brachte mich der jüdische Widerstand außer Landes, wo ich nach einer Odyssee zehn Monate später in Palästina eintraf.“
Die mittlerweile 93-jährige gebürtige Rheinländerin kam 1942 nach Haifa. Verwitwet zog sie vor 20 Jahren zu ihren Kindern in den Kibbuz und überlebte den Hamas-Angriff am 7. Oktober wie durch ein Wunder. Mit ihrer Tochter, den drei Enkeln und ihrer philippinischen Pflegerin musste sie über 36 Stunden im Sicherheitsraum aushalten, ehe sie von den israelischen Streitkräften (IDF) gerettet wurde. Während sie und ihre Familie mittlerweile in einem Hotel am Toten Meer untergebracht sind, wo sie sich vom Massaker der palästinensischen Terroristen erholt, verfolgt sie neben der Situation in Israel auch intensiv den weltweiten Antisemitismus.
„Es macht mich wütend zu sehen, dass das Töten von Juden in so vielen Ländern gefeiert wird“, sagt Deutsch. „In meiner alten Heimat sprach ich oft mit der jungen Generation über die Shoah und hörte immer die Sätze ,Nie wieder‘ und ,Wehret den Anfängen‘. Leider sind das alles leere Phrasen. Dass in demokratisch aufgeklärten Ländern, in denen die Freiheit das höchste Gut ist, ein derartiger Judenhass öffentlich erlaubt wird, hätte ich nach 1945 nicht geglaubt.“
Deutsch erzählt, dass die Terroristen in ihrem Kibbuz ganze Familien abschlachteten und lebendig verbrannten. Darunter Frauen, die sie vergewaltigten, ihre Kinder und Tiere aufhingen oder köpften. „Es wurden über 240 Geiseln nach Gaza verschleppt“, ist die rüstige Rentnerin immer noch fassungslos. „Dass die meisten Nationen kaum gegen die Anti-Israel-Demonstrationen in ihren Ländern vorgehen und den radikalen Islam bei sich bekämpfen, zeigt ihre Einstellung zum jüdischen Staat.“
Nicht nur sie ist vom Westen enttäuscht. Zwar zeigten sich einige politische Führer solidarisch und besuchten Israel in den letzten Wochen, doch ihre Verurteilung der palästinensischen Terrororganisation war meist nur Lippenbekenntnisse. Als Ende Oktober eine UN-Resolution das Massaker der Hamas in Israel nicht verurteilte, enthielt sich Deutschland – im Gegensatz zu Österreich –, was bei vielen Juden weltweit Kopfschütteln verursachte. Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte 2008 in ihrer Rede vor der Knesset noch Israels Sicherheit und Existenz zur „deutschen Staatsräson“ gemacht.
„Das sind alles nette Floskeln, doch darum kümmert man sich nicht wirklich“, sagt Rami Tarif, Journalist im arabischen Programm des israelischen Nachrichtensenders i24News. „Intensive Bemühungen, um den Nahostkonflikt zu lösen, wären notwendig, und da hat die deutsche Politik, genauso wie Europa oder die USA, versagt. Diejenigen, die agierten, waren die Terroristen und haben Israel angegriffen. Um von Staatsräson zu sprechen, hätte Berlin mit der internationalen Gemeinschaft den Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern fördern müssen.“
Tarif ist Druse und stammt aus Daliyat al-Karmel, 17 Kilometer südlich von Haifa. Für eine Auslandsreportage besuchte der Redakteur erst kürzlich einige europäische Städte und war empört über den dortigen Israelhass. „Dass in den Metropolen die meisten Muslime keine Empathie mit den israelischen Opfern haben und die Auslöschung des jüdischen Staates fordern, ist eigentlich ,normal‘“, weiß der Experte für arabische Politik. „Aber dass die alteingesessene Bevölkerung tatenlos zusieht, wie Islamisten – zusammen mit den radikalen Linken und Rechten – ihre Straßen beherrschen, antisemitische Parolen brüllen und die Barbarei der Hamas verherrlichen, hat mich zutiefst schockiert. Nach dem Mord an einem Afroamerikaner in den USA ging die Black-Live-Matter-Bewegung um die Welt. Aber als die palästinensischen Terroristen das Pogrom am 7. Oktober verübten, sah man nirgendwo feministische Gruppen, die sonst bei jedem Gräuel an einer Frau mit ihren #MeToo-Fahnen Kundgebung abhalten, oder auch bekannte Menschenrechtler, die mit LGBTQIA+-Communitys oder prominenten Persönlichkeiten für Israel protestieren.“
Enttäuscht darüber, wundert er sich, woher selbst nach einem so unmenschlichen Massaker in Israel wie zuletzt dieser Judenhass kommt. Er erklärt, warum so viele Europäer nicht für die zahlreichen Verhaftungen türkischer Intellektueller und Erdogan-Gegner auf die Straßen gingen, gegen das faschistische Regime im Iran und seine nuklearen Ambitionen demonstrierten oder sich gegen die ISIS-Massaker einsetzten: „Es ist eine verweichlichte Gesellschaft, die Angst vor einer muslimischen Intifada in ihrem Land hat“, glaubt Tarif. „Aber vor allem spielen die Existenz und der Erfolg von Juden eine große Rolle. Es ist eine Mischung von Antisemitismus und Antizionismus. Wenn arabische Diktatoren in Ägypten, Libyen und Irak ihre eigene Bevölkerung terrorisieren oder über eine halbe Million Syrer vom eigenen Regime getötet werden, interessiert das kaum jemanden im Westen. Auch dass die von Saudi-Arabien angeführte Koalition tausenden Menschen im Jemen das Leben kostete, brachte niemand mit der jemenitischen Flagge auf die Straße, die nach einem Waffenstillstand riefen. Die Europäer haben zwar Mitleid mit toten Juden, aber das Recht auf Selbstverteidigung streiten sie ihnen ab.“
Die Anti-Israel-Stimmung in westlichen Metropolen ist nichts Neues. In den letzten Jahrzehnten flammte sie immer wieder auf, sobald der Nahostkonflikt eskalierte. Linke und rechte Intellektuelle sind besessen von der David-gegen-Goliath-Perspektive und verbrüdern sich immer wieder mit der muslimischen Minderheit in ihrem Land, um gegen den „israelischen Aggressor“ zu demonstrieren. Sie sehen den jüdischen Staat als eine Besatzungsmacht, die nach ihrer Auffassung an allem schuld sei.
„Die Demonstranten glauben, die Hamas mit dem V g gleichsetzen zu können“, erklärt Erez Kalderon vom Forschungs- und Bildungszentrum Alma. Diese Menschen haben keine Ahnung vom islamischen Terrorismus und sind darüber hinaus noch zu ignorant, um die Politik, Kultur und Mentalität des Nahen Ostens auch nur ansatzweise zu verstehen. Mit einer pazifistischen und antisemitischen Grundeinstellung betrachten sie den Konflikt aus ihrer westlichen Brille. Dass Terrororganisationen wie die Hamas oder auch die Hisbollah die Rechte von Frauen, Minderheiten oder Tieren mit Füßen treten, interessiert sie nicht. Auch nicht, dass diese Monster nicht nur von Diktaturen wie dem Iran finanziert werden, sondern auch selbst im weltweiten Kokainhandel mitmischen.“
Für den Ex-General der IDF und Sicherheitsexperten sind viele Muslime in Europa, Australien oder Amerika eine tickende Zeitbombe. Er betrachtet die Naivität der Mehrheitsgesellschaft mit großer Skepsis und ist sich nicht sicher, ob all jene, die von der westlichen Zivilisation profitiert haben, deren Werte auch verteidigen würden. „Schon 1996 erklärte der al-QaidaGründer und Terrorist Osama bin Laden der westlichen Welt den Krieg“, erzählt Kalderon. „Denken diese Länder wirklich, dass sie Millionen von Muslimen ohne Weiteres einbürgern können? Glauben Christen, Hindus oder Buddhisten tatsächlich, dass der radikale Islam sie verschonen wird und nur die Juden bekämpft?“
Die Warnung vor einem Zusammenprall von Zivilisationen ist nicht neu. Schon 1996 vertrat der US-Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington in seinem Buch Kampf der Kulturen die Hypothese, dass es im 21. Jahrhundert zu Konflikten zwischen verschiedenen Kulturräumen – insbesondere der westlichen mit der chinesischen und der islamischen Zivilisation – kommen könnte. Das Buch, das weltweit übersetzt wurde, führte zu kontroversen Diskussionen und wurde von vielen Experten heftig kritisiert.
„Der Islamismus ist der Nazismus und Stalinismus der 21. Jahrhunderts“, sagt Bertha Deutsch aus dem Kibbuz Sufa. „Die westlichen Staaten sind sich noch nicht bewusst, welche radikalen Menschen sie aufnehmen. Doch sie täuschen sich, wenn sie denken, dass die Barbarei nur ein kleines Volk in einer abgelegenen Ecke eines winzigen Staates mitten in einer chaotischen Region der Welt heimgesucht hat.“ In den Augen der 93-jährigen Holocaust-Überlebenden entwickeln sich die Bevölkerungen der mächtigen Industriestaaten immer mehr zu Papiertigern. Ihre niedrigen Geburtenraten, bei immer größeren Einwanderungswellen – vor allem aus muslimischen Ländern –, werden irgendwann zum Problem werden. Vor allem die pazifistische Grundhaltung gegenüber dem Islamismus. „Schon Churchill kritisierte all jene, die Beschwichtigungspolitik betrieben. Denn diese würden ein Krokodil füttern, in der Hoffnung, dass es sie zuletzt frisst.“
Israel sollte sich laut Bertha Deutsch nicht von der antisemitischen Agenda der internationalen Gemeinschaft irritieren lassen. Die Geschichte hat bewiesen, dass sich der jüdische Staat nur auf sich selbst verlassen kann. „Das Wichtigste sind der Zusammenhalt und die Einigkeit der Juden“, erklärt sie. „Dann sind wir unbesiegbar.“