Es ist merkwürdig und bezeichnend, daß die österreichische Decadence
im gleichen Jahre 1874 diese beiden Männer hervorgebracht hat,
die bestimmt sind, in zahllosen Generationen eine wahrhaft heilsame
und für die europäische Kultur entscheidende Unruhe hervorzurufen.
Ernst Krenek, 1934
Was – außer dem gemeinsamen Geburtsjahr – rechtfertigt eine Ausstellung, die zwei so unterschiedliche schöpferische Köpfe nebeneinander stellt? Die Kuratorin Therese Muxeneder schreibt es so: „Bei Verschiedenheit von Herkunft, Bildung, Charakteren und Schaffensgebieten weisen die Jubilare denkwürdige Berührungspunkte auf. Nicht allein ihr Wirken in gleicher Zeit und im gleichen Kulturraum legt nahe, Schönberg und Kraus zusammenzudenken, sondern ‚ein gemeinsamer Zug von Unerbittlichkeit und Intransigenz‘ (Ernst Krenek), der sie bis heute als kompromisslose Mitgestalter ihrer Epoche in die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts eingeschrieben hat.“
Und natürlich geht es auch um die Beziehung zwischen den beiden Männern über eine Reihe von Jahren, eine Beziehung, die zunächst sehr einseitig aussieht, als wäre der eine, Karl Kraus, eine Generation älter, arrivierter, und der andere, Arnold Schönberg, ein jugendlicher Fan, der mit Lob und Komplimenten ein wenig Glanz vom anderen abbekommen möchte.
Beide wurden in jüdische Familien hineingeboren, Kraus in Böhmen als Sohn eines Papierfabrikanten, Schönberg in Wien als Kind eines aus Ungarn zugezogenen Schusters. Schönberg begann seine musikalisch Karriere als Autodidakt und wurde dann vom Dirigenten und Komponisten Alexander von Zemlinsky unter seine Fittiche genommen. Er arbeitete zunächst als Musiklehrer; ab den frühen 1920er-Jahren entwickelte er, der als Spätromantiker begonnen hatte, die neue revolutionäre Zwölftontechnik. Neben der Komposition widmete sich Schönberg auch immer wieder der Malerei.
Kraus studierte nach der Matura Jus und versuchte sich zunächst – erfolglos – als Schauspieler. Dann begann er zu schreiben, sowohl literarisch wie auch als Journalist. Über viele Jahre gab er seine eigene Zeitschrift heraus, Die Fackel, bekannt wurde auch sein für sein als „Marstheater“ geschriebenes ausuferndes Drama Die letzten Tage der Menschheit.
Noch vor dem Ersten Weltkrieg trafen die beiden Männer aufeinander. Schönberg im Jahr 1911 bewundernd über Karl Kraus: „Jemandes Stil verwenden, das heißt ja, sich zu ihm bekennen; sich geradezu seinen Schüler nennen […]. Und ich habe Kraus geschrieben: Ich habe durch Sie Schreiben, ja fast Denken gelernt.“ Ein Jahr später dankt er dem Zeitschriftenherausgeber beinahe unterwürfig: „Sehr verehrter Herr Kraus, zu meiner größten Freude erblicke ich in der neuen Fackel die Ankündigung meiner Harmonielehre und bin äußerst stolz auf dieses (leider nur blinde) Vertrauen, das Sie meinem Werk entgegenbringen.“
Kraus dürfte seinen Jahrgangskollegen deutlich weniger geschätzt haben. In einer von mehreren Absagen für Artikel-Angebote von Schönberg für die Fackel liest man den trockenen Satz: „Ich stehe Ihrer Kunst ferne.“ Kraus galt vielmehr als Freund der Operette, und er schrieb über sich selbst – möglicherweise auch mit gewisser Koketterie –, dass er von Musik nichts verstehe, im Gegensatz zur Sprache.
Eine Ahnung von Magie. Einige Jahre später, 1917, gibt sich Schönberg wieder als Fan des Literaten und schreibt ihm einen Huldigungsbrief nach einer öffentlichen Lesung: „Lieber hochverehrter Herr Kraus, ich komme erst heute dazu, Ihnen vielmals für den herrlichen Abend zu danken. Ich muss sagen, dass ich so etwas Vollendetes von Reproducierenden noch nie gehört habe.“ Er schließt den Brief mit dem „Ausdruck meiner größten Bewunderung. Ihr herzlich ergebener Arnold Schönberg.“
AUSSTELLUNG
Arnold Schönberg & Karl Kraus bis 10. Mai 2024
Montag bis Freitag, 10–17 Uhr Arnold Schönberg Center, Schwarzenbergplatz 6, Zaunergasse 1–3 (Eingang), 1030 Wien +43/(01)/712 18 88, office@schoenberg.at
schoenberg.at
Eine Ahnung von der Magie, die Kraus bei seinen öffentlichen Lesungen ausstrahlen konnte, mag man in der Ausstellung in einem Hörraum erfahren, und der Sog seiner Sprache zeigt auch heute, bei aller Distanz zum Pathos, noch eine gewisse Wirkung. Etliche Kompositionen Schönbergs aus unterschiedlichen Epochen lassen sich dort ebenfalls abspielen.
Im Lauf der Jahre müssen einander die beiden Männer doch näher gekommen sein. Die Kuratorin der Ausstellung formuliert es so: Ihre Bekanntschaft habe zwar nie in eine Freundschaft gemündet, sie war allerdings „geprägt von gegenseitiger Achtung und respektvoller Distanz“. 1924 gratuliert Kraus in einem Telegramm Schönberg mit „schönstem Glückwunsch“ zum 50. Geburtstag. Von diesem wiederum ist nur eine allgemeine Dankadresse an alle Gratulanten gemeinsam überliefert.
Schönberg war im Vergleich zu [Kraus] ein bewussterer Jude, arbeitete auch wiederholt an Werken mit historischen jüdischen Themen oder befasste sich mit aktuellen politischen Problemen.
Schönberg erinnert sich – schon aus dem Exil – im Jahr 1940 an den 1936 verstorbenen Kraus in der Rückschau etwas anders: „Unser persönliches Verhältnis wurde später sehr warm. Ich glaube, ich bin einer der wenigen, die – als Charaktere – seine volle Achtung genossen. Nichtsdestoweniger war ich nicht blind gegen seine unbegreifliche politische Haltung und gegen sein Unverständnis der Judenfrage.“
Kraus unterstützte das austrofaschistische Regime – wohl auch wegen dessen Ablehnung Hitlers. Er war 1898 aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten und hatte sich 1911 katholisch taufen lassen (Jahre später sollte er die katholische Kirche wieder verlassen). Kraus sah in der Assimilierung den einzig richtigen Weg für Juden aus der gesellschaftlichen Isolation. Über Theodor Herzls Idee eines jüdischen Nationalstaats spottete er in seinem Pamphlet Eine Krone für Zion. Er wandte sich gegen den Zuzug osteuropäischer Juden, etwa aus Rumänien, mit offen fremdenfeindlichen Worten. Und er schreckte auch in seinen Rundumschlägen gegen Medien und Korruption vor unappetitlichen antijüdischen Klischees nicht zurück.
Schönberg war im Vergleich zu ihm ein bewussterer Jude, arbeitete auch wiederholt an Werken mit historischen jüdischen Themen oder befasste sich mit aktuellen politischen Problemen, dachte etwa über eine jüdische Einheitspartei nach. Auf seiner ersten Exilstation in Paris trat er dort – wieder – in die jüdischen Gemeinde ein, er hatte sich noch vor der Jahrhundertwende evangelisch taufen lassen. Als Zeuge unterschrieb auf dem Dokument übrigens der Maler Marc Chagall.
1938 schrieb Schönberg beinahe prophetisch: „Gibt es Raum in der Welt für nahezu sieben Millionen Menschen? Sind sie zur Verdammnis verurteilt? Werden sie ausgelöscht werden? Ausgehungert? Geschlachtet?“ Er hatte Frankreich noch 1933 verlassen und war in die USA emigriert. Dort unterrichtete er an der Boston University, später an der University of Southern California in Los Angeles und an der UCLA. 1941 wurde Schoenberg, wie er sich jetzt schrieb, US-Staatsbürger. Zu seinem Freundeskreis im kalifornischen Pacific Palisades zählte unter anderem George Gershwin. Schönberg starb 1951 an einem Herzinfarkt.