Über Aha-Momente und Verunsicherung

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Philipp Rohrbach in den Büroräumen des WWI. Der Zeithistoriker ist hier seit 2022 Koordinator für Public History. Foto: Daniel Shaked

Nach dem Gesetze vom 12. November 1938 Nr. 578 wurde den Juden eine Buße von Rm. 1,000.000.000,- als Sühne für das Verbrechen in Paris auferlegt. Wie ich den Zeitungsberichten entnehme (die Durchführungsverordnung ist noch nicht erschienen), soll auch ich diese Buße entrichten. Hiezu [sic] erlaube ich mir Folgendes zu bemerken: Ich bin gegenwärtig im 67. Lebensjahr und seit vielen Jahren kränklich, bin seit 44 Jahren nach röm. kath. Ritus getauft, bin nach Absolvierung der juridischen Studien in den Finanzdienst getreten und bin krankheitshalber (Fischvergiftung und Nervenzusammenbruch) in den Ruhestand getreten“, schrieb Dionys Cigalle am 7. Dezember 1938 in einem „Gnadengesuch“ an Gauleiter Josef Bürckel. Gnade gab es seitens der Nationalsozialisten nicht. Cigalle starb schließlich im November 1942 im KZ Mauthausen.

Für Rohrbach verdeutlicht dieser Brief sehr deutlich, dass Menschen wie Dionys Cigalle nicht verstanden, was mit ihnen geschah. „Das Tragische war, dass er als Beamter hier auch noch versucht hat, an die Staatlichkeit zu appellieren, aber seine ganzen vorgebrachten Einwände nützten ihm nichts.“

Es sind Dokumente wie diese, an Hand derer man Jugendlichen gut vor Augen führen könne, wie ein Unrechtsregime funktioniert. Dieses „Gnadengesuch“ eines Mannes, der zwar als Jude zur Welt gekommen war, sich selbst aber schon lange nicht mehr als Jude begriff, war denn auch Teil der Materialien, mit denen das Team des VWI bei dem ein wöchigen Workshop mit Schülern und Schülerinnen im vergangenen November gearbeitet hat.

Neben Forschung und Dokumentation ist die Vermittlung die dritte Säule des VWI, die derzeit ausgebaut wird. Das Institut vermittelte schon bisher Forschungsergebnisse an eine interessierte nichtakademische Öffentlichkeit. Nun soll dieses Wissen aber noch breiter nach außen getragen werden. Der Workshop für Jugendliche aus Trier und Wien bot eine intensivere Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus, als das herkömmlicher Schulunterricht in der Regel leisten könne, so Rohrbach.

Wichtig war ihm dabei vor allem aufzuzeigen, wie schnell aus einem „Wir“ ein „die Volksgemeinschaft und die anderen“ werde, wenn – wie im Nationalsozialismus – Antisemitismus und Rassismus zu zentralen Pfeilern offizieller Staatspolitik werden und Menschen auf dieser Grundlage aus der Gesellschaft ausgeschlossen und quasi für vogelfrei erklärt werden. „Das hilft hinsichtlich des Jahres 1938 auch zu erklären, warum der freundliche Nachbar von heute Morgen plötzlich zu jenen gehörte, die Wohnungen plünderten, und der genau wusste, wer in der näheren Umgebung was besaß.“

 

 

WINA: Welche Erfahrungen haben Sie aus diesem Workshop mitgenommen?
Philipp Rohrbach: Da uns ausreichend Zeit zur Verfügung stand, hatten einige Schüler und Schülerinnen zahlreiche Aha-Erlebnisse. Im Regelgeschichte-unterricht in der Schule gibt es eine bestimmte Anzahl von Stunden, um den Nationalsozialismus durchzunehmen. Wenn die Lehrkräfte da nicht extra engagiert sind, wird dann häufig nur der Reihe nach aufgelistet, was wann passiert ist, und ich habe oft den Eindruck, dass es überhaupt keine Möglichkeit gibt, tiefer in die Materie einzutauchen und Verständnis dafür zu entwickeln, was der Nationalsozialismus für die Menschen bedeutete. In dieser Woche konnten wir etwa über das Eintauchen in individuelle Geschichten verschiedene Handlungsfelder ausmachen – es gab ja nicht nur Täter und Opfer, sondern auch Menschen, die zugesehen und den ganzen Wahnsinn geschehen haben lassen; und dann gab es, wenn auch nur in geringem Ausmaß, jene, die Partei für die Ausgegrenzten und Diskriminierten ergriffen haben. Und genau das hat einen so wahnsinnigen Lerneffekt, auch weil man sich sowohl positiv wie auch negativ mit diesen Personen auseinandersetzen und gegebenenfalls identifizieren kann.

„Man hat gespürt, wie sie in dieser
Social-Media-Überforderung drinstecken. Es tobt ja auch ein massiver Social-Media-Krieg.“
Philipp Rohrbach

 

Diese Workshop-Woche fand im November, also einige Wochen nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober statt. Wurde hier auch der Bogen in die Gegenwart geschlagen?
I Der Terroranschlag der Hamas sowie die darauffolgenden Ereignisse hatten großen Einfluss auf die Veranstaltung. Das hat begonnen bei der Diskussion, ob diese Woche überhaupt stattfinden kann, weil es doch eine Reihe von Programmpunkten mit größerer Personenpräsenz gab. Da war die Sicherheit auch ein Thema. Es hat sich aber auch darin gezeigt, dass man durchgehend eine Verunsicherung gespürt hat, wie man mit dieser Thematik umgehen soll.

 

Von welcher Seite haben Sie hier Verunsicherung gespürt – von den involvierten Lehrpersonen?
I Nein, eher von Schüler- und Schülerinnenseite. Man hat gespürt, wie sie in dieser Social-MediaÜberforderung drinstecken. Es tobt ja auch ein massiver Social-Media-Krieg, in welchem sie die ganze Zeit mit fürchterlichen Bildern und einseitigen Statements überflutet werden. Sich da zurechtzufinden, ist gar nicht so einfach. Was für mich in dieser Woche ein wahnsinnig gutes, positives und starkes Moment war, war das Zusammentreffen der Jugendlichen mit zwei jüdischen Schülerinnen von Likrat. Die eine war orthodox, die andere nicht so observant, und diese Möglichkeit für die Gruppe, Leute, die jüdisch sind, kennenzulernen, ist voll aufgegangen. Meinem Eindruck nach nahmen vor allem viele der muslimischen Jugendlichen mit großem Interesse an diesem Austausch teil und sind im Gespräch draufgekommen, dass es hinsichtlich religiöser Vorstellungen und Traditionen viele Parallelen zwischen dem Judentum und dem Islam gibt. Es war einer der Aha-Momente, dass die beiden jüdischen Schülerinnen auch nicht jüdische Freundinnen haben. Das zeigt, wie zentral und wichtig solche Initiativen der direkten Begegnung sind.

Wichtig war auch eine Führung im Jüdischen Museum Wien mit der Leiterin der dortigen Vermittlungsarbeit, Hannah Landsmann. Die Jugendlichen sollten sich dort ein Objekt aussuchen, das sie mögen, und eines, das ihnen überhaupt nicht gefällt. An Hand dieser Objekte sind dann Schlaglichter auf jüdisches Leben in der Vergangenheit und der Gegenwart geworfen worden. Da haben sich aus meiner Sicht viele Verständnisebenen aufgetan – und auch dabei waren die Ereignisse des 7. Oktober kopräsent. Da ging es dann eben um die Frage, was hat die Shoah mit dem Judentum zu tun? Und was mit jüdischem Leben heute? Da kam auch die Sprache auf das Thema Traumatisierung und was das mit Familien macht. Wir haben uns im Rahmen der Woche aber auch mit der Frage von Quellen und Quellenkritik auseinandergesetzt – das ist auch in Bezug auf Social Media essenziell.

 

„Wichtig wird es sein, noch mehr als bisher
auf
Kooperationen mit anderen Institutionen zu setzen,
die
sich darin schon Expertise aufgebaut haben.“
Philipp Rohrbach

 

Es gab in dieser Woche also viel Input, man muss sich dafür aber auch Zeit nehmen und Raum geben. Daran fehlt es im schulischen Alltag aber oft. Und da stellt sich dann die Frage: Wie komme ich als Lehrer oder Lehrerin gegen Social Media an? Und wie sieht es in Klassen mit besonders vielen muslimischen Jugendlichen aus, die teilweise permanent online mit Hamas-Propaganda konfrontiert werden?
I Ich sehe diese Verunsicherung bei Lehrpersonen als Spiegel der Verunsicherung der Gesellschaft, wie man mit den Angriffen des 7. Oktober umgehen und diese einordnen soll. Und das spiegelt meiner Meinung nach eine Unsicherheit im Umgang mit Jüdinnen und Juden in der Gesellschaft wider. Ich habe schon einige Male erlebt, dass es für Lehrer und Lehrerinnen zum Teil unmöglich war, das Wort Jude oder Juden auszusprechen, ohne das Gefühl zu haben, etwas falsch zu machen. Das hat auch mit dem Erbe der NS-Zeit zu tun. Es gibt aber auch eine unzureichende Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt. Mit dem Terror der Hamas ist nun ein Element dazugekommen, das zusätzlich überfordert.

Pädagogen und Pädagoginnen, die sich damit beschäftigen und aus aktuellem Anlass im Unterricht den Nahostkonflikt durchnehmen, würde ich sagen: Es gibt die Plattform erinnern.at, die seit über zwei Jahrzehnten Materialien zu Lehren und Lernen über Nationalsozialismus und Holocaust bereitstellt und auf ihrer Website auch Unterrichtsmaterialien zum Nahostkonflikt und israelbezogenem Antisemitismus anbietet. Daran kann man sich orientieren.

Leider gibt es nicht die drei einfachen Stehsätze, mit denen alles erklärt werden kann. Auch der Faktor Zeit spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle: Man kann komplexe Themen nicht husch, husch in 50 Minuten abhandeln. Gerade für die Themenkomplexe Nahostkonflikt, NS-Vergangenheit und Antisemitismus braucht es Zeit und einen Raum, in dem Jugendliche ihre Fragen auch offen stellen und diskutieren können. Weiters würde es seitens der Schulen auch Sinn machen, sich verstärkt Unterstützung von Experten und Expertinnen zu holen, die in dem Feld arbeiten. In Bezug auf Rechtsextremismus und Antisemitismus wäre das beispielsweise das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW).

 

Wie sehen hier die weiteren Pläne des VWI aus? Werden solche Workshops für Schulen nun breiter ausgerollt?
I Die Forschung stellt bei uns am VWI den Impulsgeber der Institutstätigkeiten dar. Mit dem erfolgreichen Aufbau des VWI-Archivs sowie der Zugänglichmachung der Bestände wird am VWI in den kommenden Jahren nun auch ein Schwerpunkt auf den stufenweisen Aufbau eines Public-History-Bereichs gelegt. Ziel ist es, das Wissen über die Person Simon Wiesenthal und sein Wirken zu verbreitern, uns zukünftig stärker an relevanten geschichts- und gedächtnispolitischen Debatten zu beteiligen und auch historisches Wissen, welches in den verschiedenen Bereichen des Instituts generiert wird, an unterschiedliche Zielgruppen zu vermitteln. Wir werden uns natürlich auch stärker als bisher um Zusammenarbeit mit Schülern und Schülerinnen bemühen, allerdings nur in dem Ausmaß, in dem es unsere Ressourcen erlauben. So eine Woche voller Programm ist sehr aufwändig. Wichtig wird es sein, noch mehr als bisher auf Kooperationen mit anderen Institutionen zu setzen, die sich darin schon Expertise aufgebaut haben.

 

Mit beschränkten Ressourcen kämpfen auch andere Organisationen. Was bräuchte es hier strukturell, um der massiven Desinformation und Aufwiegelung von Jugendlichen im Netz etwas entgegenzusetzen?
I Das ist schwierig zu beantworten, weil digitale Desinformation ja schon länger eine Herausforderung für demokratische Kräfte darstellt und es wesentlich leichter ist, Verschwörungstheorien, Halbwahrheiten und Verdrehungen in die Welt zu setzen, als diese – wenn sie einmal zirkulieren – faktenbasiert zu entkräften. Mit diesem Problem sind wir ja nicht nur hinsichtlich der Kriegssituation zwischen Israel und der Hamas konfrontiert, sondern Desinformation spielte auch im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf, im Ukrainekrieg und verbunden mit Antisemitismus während der Covid-Pandemie eine massive Rolle. Was es sicher braucht, sind mehr finanzielle Ressourcen für Vereine und Institutionen, die diesbezüglich Aufklärungsarbeit leisten. Da ist die Politik gefragt. Wir müssen uns aber auch als Gesellschaft die Frage stellen, wie sich Demokratien jenseits von Verboten gegen Unterminierungen dieser Art wehren können. Bisher gibt es da leider nur unzureichende Lösungsansätze.

 


PHILIPP ROHRBACH,
geb. 1979 in Wien, studierte Geschichte, Zeitgeschichte und Slawistik an der Universität Wien. 2007 bis 2009 im Rahmen seines Gedenkdienstes Mitarbeiter der Austrian Heritage Collection am Leo Baeck Institut in New York. Seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI), seit 2022 Koordinator für Public History. Seine Forschungsschwerpunkte sind Oral History, Public History, NS-Geschichte, Täter- und Täterinnenforschung, Kinder des Krieges.

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