Der steirische Chronist

Engelbert Kremshofer macht Geschichte sichtbar. Seit gut 30 Jahren beschäftigt er sich mit der Kriegsvergangenheit der Steiermark. In seinen zahlreichen Büchern erzählt er von Schicksalen jüdischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, aber auch von mutigen Steirerinnen und Steirern, die den bedrohten Menschen Schutz und Hilfe boten.

1824
Mühle in Hitzendorf: der Unterbringungsort der jüdischen Zwangsarbeiter. © Werner Wege

Als Anfang April 1945 der Krieg fast vorbei ist, werden rund 10.000 Jüdinnen und Juden, die meisten sind Zwangsarbeiter von der Ostfront, quer durch die Steiermark in Richtung Mauthausen getrieben. Bei diesem Todesmarsch stirbt ein großer Teil dieser Menschen: Wer aus der Reihe ausschert, wird erschossen. Wer bettelt, wird erschossen. Wer nicht weiterkann, wird erschossen. Allein bei einem Massaker auf dem Präbichl bei Eisenerz sterben 220 Menschen. Engelbert Kremshofer hat die Zahlen der ermordeten Jüdinnen und Juden penibel recherchiert, laut seinen Aufzeichnungen wurden beim Bau des Südost-Walles und am Todesmarsch durch die Steiermark 1.288 Menschen ermordet. Doch einigen wenigen Menschen gelang die Flucht.

Eine gefährliche Aktion, denn wie sich im Nachhinein zeigte, wurden viele Flüchtlinge bei ähnlichen Aktionen wieder aufgegriffen und sofort erschossen.

Engelbert Kremshofer. Durch das viele Herumfragen erfuhr er nach und nach auch viel über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Gegend. © Gerald Gottlieb

Es ist ein frühlingshafter Tag, an dem das Gespräch mit Engelbert Kremshofer stattfindet. Die Vögel zwitschern, die Triebe der Weinstöcke und Apfelbäume drängen schon an das Sonnenlicht. Drinnen in der Stube hinter der dicken alten Mauer ist es noch klamm, im Herd knistert ein Feuer. Engelbert Kremshofer ist ein neugieriger Mann. Einer, der nachfragt und sich nicht so schnell abwimmeln lässt. Rund um seine Heimatgemeinde Ottendorf hat er schon mit fast allen geplaudert und viele Geschichten gehört. Vor gut 30 Jahren hat er damit begonnen und seither nicht aufgehört. Dabei ging es zuerst gar nicht um jüdische Schicksale, sondern um die Ereignisse im Februar 1934, als sich Schutzbündler und Heimwehr gegenüberstanden. Durch das viele Herumfragen erfuhr Engelbert Kremshofer nach und nach auch viel über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Gegend, das Umschreiben von Geschichte, das kollektive Wegschieben und Vergessen. Doch wenn es um Jüdinnen und Juden ging, wurde geschwiegen. Wenn Engelbert Kremshofer den Todesmarsch erwähnte, bekam er mehr als zehn Jahre lang keine Antworten. Doch irgendwann fiel der Satz: „Die hat dort oben am Hof Juden versteckt!“ Engelbert Kremshofer wurde hellhörig und stellte weitere Fragen. Bisher hat er Berichte über rund 160 gerettete Jüdinnen und Juden gesammelt.

Im burgenländischen Eberau baut im Frühjahr 1945 eine Gruppe von 116 ungarischen jüdischen Zwangsarbeitern unter Aufsicht eines gewissen Franz Rainer am Südost-Wall. Rainer – ein Nazigegner, der zu Kriegsbeginn fast einen Monat in Haft genommen wird – betreibt in Hitzendorf bei Graz eine Sägemühle. Für die Wehrmacht ist er mit 49 Jahren bereits zu alt, 1945 wird er aber in den Volkssturm einberufen und bekommt das Kommando über die jüdische Arbeitskompanie an der Ostfront. Als die Russen immer näher rücken, erkennt Rainer die Gefahr für seine Leute, gibt ihnen das Versprechen, ihnen zu helfen, dann setzt er sich in Richtung seines Heimatortes Hitzendorf ab.

Engelbert Kremshofer: 1945, bei Kriegsende: Gerettet in der Steiermark. Ottendorf 2020, 128 S.

Die Geschichte der 116 ungarischen Zwangsarbeiter wird in Engelbert Kremshofers neuestem Buch 1945, bei Kriegsende: Gerettet in der Steiermark erstmals erzählt, er selbst verfolgt sie schon seit einiger Zeit. Zuerst gab es nur einen vagen Bericht, doch vor knapp zwei Jahren kam ein Brief aus der Schweiz, darin befand sich ein ungarischer Zeitungsartikel aus dem Jahr 1965 mit deutscher Übersetzung. Der Brief stammte von Sara Donath, der Tochter von Miksa Zafir, einem ehemaligen Zwangsarbeiter. Anhand dieses Artikels lässt sich die Flucht der Gruppe detailgenau rekonstruieren. Denn als die 116 Männer (von Frauen ist in dem Bericht nicht die Rede) gemeinsam mit hunderten anderen Jüdinnen und Juden tatsächlich auf den Todesmarsch geschickt werden und nach zwei Tagesmärschen im steirischen Bierbaum lagern, gelingt es ihnen, sich unter der Führung Zafirs im Schutz der Dunkelheit abzusetzen. Eine gefährliche Aktion, denn wie sich im Nachhinein zeigte, wurden viele Flüchtlinge bei ähnlichen Aktionen wieder aufgegriffen und sofort erschossen. Doch die Gruppe hat Glück. Die Männer entfernen alle Hinweise auf ihre jüdische Herkunft von der Kleidung und geben sich als christlicher Arbeitsdienst aus Siebenbürgen aus. Ihr Ziel ist Hitzendorf, die Sägemühle ihres ehemaligen Aufsehers Franz Rainer.

Misksa Zafir führte die Gruppe von 116 flüchtenden jüdischen Zwangsarbeitern an. © Zsolt Urbancsok

Miksa Zafir, der listige Anführer der 116 Zwangsarbeiter, kehrte nach dem Krieg nach Ungarn zurück und erzeugte in seiner Fabrik Eisenwaren aller Art. Im Rahmen der ungarischen Revolution und einem erstarkenden Antisemitismus floh er ein zweites Mal, diesmal in die Schweiz, von wo aus auch seine Tochter mit dem Chronisten Engelbert Kremshofer Kontakt aufnahm. 1964 besuchte Max Zafir, wie er sich nun nannte, seinen steirischen Helfer Franz Rainer, besichtigte das vergrößerte Sägewerk und dankte ihm für die Lebensrettung. Rainer starb im Jahr 1971, Zafir zwanzig Jahre später.
Er hält Wort. Wenn Engelbert Kremshofer an seinem Holztisch unter dem Herrgottswinkel über seine Forschungsprojekte spricht, dann leuchten seine Augen. Denn so sehr ihn die Schicksale der Jüdinnen und Juden betroffen machen, so sehr ist er auch immer wieder beeindruckt von der Schlauheit, der List und dem Mut der Menschen. Miksa Zafir organisiert sich eine ungarische Offiziersmütze, in der Gruppe befindliche Schneider basteln ein Rangabzeichen, das sie ihm an die Jacke nähen, seine Stiefel sind noch in Ordnung – und so gibt der junge Mann einen strengen Aufseher ab, der sogar die NS-Offiziere täuscht, denen die Gruppe begegnet. Es wird diszipliniert marschiert und mit „Heil Hitler“ gegrüßt. Zafir organisiert Lebensmittel und schließlich sogar eine beglaubigte Liste mit 116 gut klingenden christlichen Namen seiner Kompagnie. Als die Männer nach rund zehn Tagen in Hitzendorf ankommen, ist ihr ehemaliger Aufseher Franz Rainer zwar einigermaßen überrascht, aber er hält Wort. Vielen der Männer verschafft er Arbeit, sie übernachten in der Mühle und werden dort verpflegt. Als sich Ende April 1945 jedoch das Gerücht verbreitet, die Männer seien gar keine Christen, sondern Juden, kommt es zu einer kritischen Situation: SS-Männer umringen die Gruppe, und es ist nur Miksa Zafirs Bestimmtheit und seinem schauspielerischen Talent zu verdanken, dass er die SS-Männer vom Gegenteil überzeugen kann. Wenige Tage später ist der Krieg vorbei. Alle ungarischen Juden und auch die Familie Rainer haben überlebt.

Der steirische Chronist wird nicht müde, die Geschichten von Tod und Vertreibung zu erzählen. Aber auch jene von Barmherzigkeit und Mitgefühl, die es in der NS-Zeit doch auch gab.

Hitzendorf auf einer historischen Postkarte. ©Urbancsok

Unter dem Titel Mutige Steiermark hat Engelbert Kremshofer schon vor mehr als zehn Jahren Geschichten von Rettungsaktionen zusammengefasst. Besonders beeindruckt ist er noch heute von der ersten Rettungsgeschichte, die er damals erfahren hat. Jener von Josefa Posch, einer Bäuerin aus Gschmaier im Bezirk Weiz. Die 34-Jährige lebte mit ihrem Vater und dem kleinen Sohn auf einem Hof nahe Schloss Uhlheim, wo sich die Wehrmacht einquartiert hatte, für die Josefa Posch kochte. Als fünf jüdische Flüchtlinge bei ihr auftauchten, versteckte sie die Männer am Heuboden. Vom Essen für die Soldaten zweigte sie etwas für die Flüchtlinge ab, abends – nach dem Radiohören – stieg sie hinauf und informierte die Männer über den Kriegsverlauf. Wären sie aufgeflogen, wären sie sofort erschossen worden. Doch alle überlebten dank der mutigen Bäuerin.

Franz Rainer. Der Nazi-Gegner in Hitzendorf half bei der Flucht.© Werner Wege

Von Engelbert Kremshofers Haus am Berg hat man eine wunderbare Sicht auf die hügelige steirische Landschaft. Friedlich und still liegen die Ortschaften zwischen Äckern, Weinbergen und Obstgärten. In Ottendorf an der Rittschein, wo Engelbert Kremshofer lebt, gibt es einen grünen Gemeinderat – nämlich ihn. Die überwiegende Mehrheit in der Gegend hat bei der Bundespräsidenten-Wahl im Jahr 2016 Norbert Hofer gewählt, die Freiheitlichen haben immer noch eine große Anhängerschaft in den ländlichen Gemeinden, und Antisemitismus gibt es weiterhin. Doch der steirische Chronist wird nicht müde, die Geschichten von Tod und Vertreibung zu erzählen. Aber auch jene von Barmherzigkeit und Mitgefühl, die es in der NS-Zeit doch auch gab. Leider finden sich immer weniger Dokumente. Zeitzeugen sterben, die jungen Leute wissen nichts von den Geschichten, Fotoschachteln werden weggeworfen. In der Gegend ist Engelbert Kremshofer mittlerweile als der bekannt, der Fragen stellt. Seine Arbeit wird wertgeschätzt und interessiert aufgenommen. Seine bisher immer im Eigenverlag erschienenen und selbstfinanzierten Bücher (für das aktuelle beantragte der Autor erstmals eine Förderung vom Zukunftsfonds der Republik Österreich) sind wichtige Zeugnisse des Geschehens.

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