Der Vater ist die Mame

Die junge deutsche Autorin Dana Vowinckel entfaltet in ihrem Romanerstling Gewässer im Ziplock ein breites Spektrum jüdischer Lebens- und Familienvarianten.

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Am Jom Kippur 2023 lässt Dana Vowinckel ihren bereits im August davor erschienenen Debütroman enden. Da schwebt als dunkler Schatten immer noch der Anschlag auf die Synagoge in Halle vom Jom Kippur 2019 über der betenden jüdischen Gemeinde in Berlin. Weiter in die nähere Zukunft hätte die Autorin auch nicht blicken dürfen, denn nur zwei Wochen danach wird sich dieser Terrorakt angesichts der Tragödie vom 7. Oktober fast harmlos ausnehmen. Und so manches im Buch erscheint schon jetzt gespenstisch gestrig.

Lange vorbei scheint auch die Euphorie, als pandemiebedingt über eine Videozuspielung Lecha Dodi likrat kalah beim Bachmann-Wettbewerb 2021 in der Klagenfurter Lesearena ertönte. Die liturgische Begrüßung des Schabbat war nicht das einzige Gebetszitat, mit dem Dana Vowinckel die erstaunte Jury überraschte, die sie schließlich für ihren Text, einen Ausschnitt aus dem späteren Roman, mit dem Deutschlandfunk-Preis auszeichnete.

Was „richtiges“ jüdisches Leben ist, wie und wo es heutzutage überhaupt möglich ist, steht als Frage im Hintergrund dieser um einen Teenager kreisenden Familiengeschichte.

Vater, Mutter, Kind. Um die noch gar nicht geborene Tochter vor einem künftigen Militärdienst in Israel zu bewahren, ist der Israeli Avi als Kantor nach Berlin gegangen, wo sich Kindesmutter Marsha, eine amerikanische Linguistin, nicht wohlfühlen und eines Tages gefrustet „abhauen“ wird. Avi bleibt als Alleinerzieher mit dem Kleinkind in Deutschland zurück und mutiert zur jiddischen Mame.

Margarita ist fünfzehn, als die Geschichte einsetzt, die wechselweise aus ihrer und der Perspektive des Vaters erzählt wird. Es ist eine Geschichte von vielfältiger Anziehung und Abstoßung im kleinen Dreieck von Vater, Mutter und Kind zwischen Chicago, Berlin und Jerusalem.

In Chicago verbringt Margarita eher gelangweilt ihre Ferien bei den betagten mütterlichen Großeltern. Marsha hat indes eine Gastprofessur in Jerusalem und möchte bei dieser Gelegenheit der ihr völlig entfremdeten Margarita Israel zeigen. Gebeutelt von Emotionen und Hormonen rebelliert das Mädchen gegen alle, hin- und hergerissen zwischen der Liebe zum beständigen Vater und ambivalenten Gefühlen für die chaotische Mutter, zwischen dem deutschen Lover Nico, der mit Israel nur „Kolonialismus und die ganze Scheiße“ verbindet, und ihrem Begehren für den erotisch interessanteren Tel Aviver Lior.

„Der Gesang verpflichtete ihn
zu glauben.“

Religiös aufgezogen vom frommen Vater, einem hingebungsvollen Interpreten und Liebhaber jüdischer Gesänge und Gebete, erschüttert sie zudem ein Familiengeheimnis, das ihre jüdische Identität infrage stellt.

In der akuten Sorge um das scheinbar gefährdete Kind treffen die seit über einem Jahrzehnt getrennten Eltern schließlich in Jerusalem zusammen und bilden für kurze Zeit so etwas wie eine Familie, während alte Wunden aufbrechen, Konflikte eskalieren und die Großmutter in Chicago zu sterben droht.

Jüdische Lebensweisen. Das breite Spektrum jüdischer Lebensweisen führt die 1996 in Deutschland als Tochter eines jüdisch-amerikanischen Vaters und einer nichtjüdischen Deutschen geborene Autorin gleichsam exemplarisch an ihren Protagonisten vor. Da sind die traditionsbewussten, aber nicht sonderlich religiösen amerikanisch-jüdischen Großeltern, da ist die intellektuelle Marsha, die Avi seiner Frömmigkeit wegen verspottet, da ist der einsame Avi, der eigentlich Pilot und Held in Israel werden wollte, sich aber seiner wunderbaren Stimme wegen in Deutschland als Chasan beworben hatte, was weder seine Eltern noch seine in Israel orthodox lebende Schwester und auch Marsha nicht verstehen wollten. Seine Musik bringt ihm der Berliner Gemeinde näher, der er ansonsten eher distanziert gegenübersteht.

„Der Gesang verpflichtete ihn zu glauben. Denn die Worte, die er singen durfte, die sein Beruf waren, es waren Worte, die ihm den Sinn der Welt aufschlossen und manchmal sogar den Unsinn, das Glück und den Schmerz.“

Und da ist schließlich Margarita, einerseits hingezogen zum innigen väterlichen Judentum, andererseits altersgemäß auch darin widerspruchsvoll. Dass Vowickels Figuren manchmal zu Thesenträgern geraten, liegt am ideologischen Substrat des Romans, der sich stellenweise wie ein Lehrbuch zur jüdischen Liturgie und Praxis liest. Da wird in extenso zitiert und interpretiert, einschlägiges Wissen ausgebreitet und ausgestellt. Ein Glossar versorgt Außenstehende mit den nötigsten Begriffen, anderes scheint ganz selbstverständlich als verständlich vorausgesetzt, wie übrigens ebenso englischer und hebräischer Originalton. Insidern wird vieles sehr vertraut erscheinen, aber wie reagiert ein nichtjüdisches Publikum darauf? Das oft gehemmte Verhältnis der deutschen Mehrheitsgesellschaft zum Judentum, dem der Kantor unter anderem in ritualisierten Gedenkveranstaltungen begegnet, entlarvt sich sprachlich. „Juden, hört er manchmal, aber nur, wenn es um die Toten ging. Die Lebenden waren jüdisch, so viel hatte er mittlerweile gelernt.“

Dana Vowickel ist Linguistin, und wie ihre Protagonistin Marsha nimmt sie die Sprache beim Wort, geht überaus sensibel mit ihr um, erklärt, differenziert und ist von ihr spürbar fasziniert, was ihren Roman auch zu einem Sprachkunstwerk erhebt. Dass man alle liebevoll gezeichneten Charaktere letztlich verstehen, sich aber kaum mit ihnen identifizieren wird können, macht zusätzlich den Reiz dieser zutiefst jüdischen Familiengeschichte aus, der man einen schöneren Titel gewünscht hätte.

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