Labor der Unmenschlichkeit

Im Dezember eröffnet das Wien Museum am Karlsplatz nach drei Jahren Umbau, Zubau und Neuaufstellung der Dauerausstellung wieder seine Pforten. Gerhard Milchram ermöglichte WINA schon im Zug der Aufbauarbeiten diesen Herbst den Besuch des von ihm gemeinsam mit Niko Wahl kuratierten Ausstellungsteils zu Wien während der Zeit des Nationalsozialismus. Die Architektur: bewusst kalt und nüchtern. Der Zugang: multiperspektivisch und auf Einzelne – Opfer wie Täter – heruntergebrochen.

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Heldenplatz-Ansicht in den „Anschluss“-Tagen von Igo Pötsch, nun positioniert zwischen zwei Filmaufnahmen aus der Zeit, die sich hier spiegeln. Foto: Daniel Shaked

Wien-Museum-Direktor Matti Bunzl hat für die Neuaufstellung der Dauerausstellung einen chronologischen Zugang gewählt. Besucher und Besucherinnen spazieren hier durch die Stadtgeschichte von der Frühzeit bis ins Heute, wobei die unterschiedlichen Epochen jeweils mit unterschiedlichen Zugängen präsentiert werden. Auf der zweiten Ebene des Museums gelangen die Museumsbesucher nun von dem Ausstellungsbereich zu Wien im Zweiten Weltkrieg in das Labor der Unmenschlichkeit. Verhandelt wird hier die Frage: „Was bedeutet die nationalsozialistische Ideologie für die Menschen?“

Doch warum der Titel „Labor“? Warum kein Titel wie Zeit der Finsternis oder Verblendung der Massen? Von Oktober 2021 bis April 2022 zeigte das Haus der Geschichte Österreich auf dem Heldenplatz die Freiluftausstellung Das Wiener Modell der Radikalisierung. Österreich und die Shoah. Diesem Narrativ folgt nun auch das Kuratorenteam im Wien Museum: „Wir wissen heute, dass die Nationalsozialisten in Wien verschiedenste Politiken ausprobiert beziehungsweise verschärft haben, die dann später überall im nationalsozialistischen Deutschland umgesetzt wurden“, so Milchram. Das betraf vor allem die ersten beiden Stufen des Umgangs mit der größten Opfergruppe, den Juden und Jüdinnen: Beraubung und Vertreibung. Die Vernichtung fand dann meist anderswo statt – was nicht heißt, dass Wien kein Tatort war. Auch darüber wird im Wien Museum nun erzählt. Und die Deportationen in die Vernichtungslager, die wurden ebenfalls in Wien erprobt und perfektioniert.

Ein jüdischer Juwelier aus Favoriten: eine vor Kurzem
zufällig entdeckte Werbemalerei an einer Hausfassade. Foto: Daniel Shaked

Um welche Politiken handelte es sich hier? Eingehend dargestellt wird die bürokratische Herangehensweise. Adolf Eichmann organisierte die Beraubung als Amtsweg mit vielen Stationen. Die IKG Wien wurde dabei gezwungen, die Rolle der ausführenden Behörde einzunehmen. Eine Reproduktion des Diagramms mit dem Titel „Wanderung der Juden aus der Ostmark“ aus dem Archiv der IKG Wien (ein solches musste alle drei Monate im Auftrag Eichmanns erstellt werden), das eine systematische Darstellung des Akts der Vermögensanmeldung bis hin zur Erlangung der Auswanderungspapiere vornimmt, zeigt mit seinen statistischen Details die Effizienz dieses Systems: Zwischen März 1938 und dem 20. Juni 1939 hatte sich die Anzahl der von den Nationalsozialisten als jüdisch eingestuften Menschen in Wien von 165.000 auf 76.400 verringert. „Das sind dann vor allem die, die es nicht mehr geschafft haben, das sind die, die wir heute am Mahnmal am Judenplatz betrauern, die, die in die Vernichtungslager deportiert und dort oder anderswo ermordet wurden.“ Auch diese Transporte wurden in Wien erprobt: Daran erinnert inzwischen ein Mahnmal auf dem Areal des ehemaligen Aspangbahnhofes.

Die beiden Kuratoren haben aber nicht nur die große Verfolgtengruppe der Juden und Jüdinnen im Blick: Roma und Sinti, Homosexuelle, Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, Zwangsarbeiter – Schlaglichter werden in der neu gestalteten Schau auf alle geworfen, die im Nationalsozialismus verfolgt beziehungsweise misshandelt wurden. Die Scheinwerfer sind dabei zudem immer sowohl auf Opfer wie auch auf Täter gerichtet. Das zeigt sich bereits im ersten Raum des Labors der Unmenschlichkeit: Der Besucher steht zwischen zwei nahezu lebensgroß auf gegenüberliegende Wände projizierten Filmaufnahmen. Auf der einen Seite: die jubelnde Menge beim Einmarsch der Nationalsozialisten im März 1938, lachende Gesichter, Hitlergrüße. Auf der anderen Seite: drangsalierte, herumgestoßene Juden, Straßen waschende Juden.

Das Vermittlungsteam des Museums bietet für Schulklassen
insgesamt 26 Programme an, zwei davon befassen sich mit der NS-Zeit.

Dem Narrativ der Wiener, die ja nur am Heldenplatz aus Neugierde standen und nicht aus politischer Überzeugung, wird zudem ein Album einer Lehrerin entgegengesetzt. Sie stammte aus einem sozialdemokratischen Elternhaus, nichtsdestotrotz schien sie sich vom Nationalsozialismus Großes zu erhoffen. „Spürbar wird hier ein unglaublicher Gestaltungswillen. Sie wollte die Ereignisse nicht nur für sich selbst, sondern ganz offensichtlich auch für andere festhalten. Im Grund reproduziert dieses Album die nationalsozialistische Erzählung. Fotografien dokumentieren die HakenkreuzStreuzetteln, die zur ‚Anschluss‘-Propaganda eingesetzt werden, ebenso wie die Tage des ,Anschlusses‘.“ Das Album wurde dem Museum von einem Nachfahren der Frau zur Verfügung gestellt.

Was in der Präsentation auffällt: Objekte, die in der NS-Zeit der Propaganda dienten, werden liegend – und zwar tief liegend – in Vitrinen ausgestellt. Das betrifft ein Plakat für die Ausstellung Der ewige Jude ebenso wie eine Ausgabe des Völkischen Beobachter, in dem ein Beitrag seitens der nationalsozialistischen Führung zu Besonnenheit aufruft, wenn es um den Umgang mit Juden und Jüdinnen geht. Das Volk, das hier mit entsprechendem Furor rund um den „Anschluss“ im März 1938 selbst zur Tat schritt und etwa Geschäfte in jüdischem Besitz plünderte, war nicht gern gesehen. „Keine Einzelaktionen, keine Gewalttaten, sondern eine systematische wirtschaftliche Ausmerzung“ wurde als Ziel ausgegeben. „Der Staat beginnt quasi um die Beute zu fürchten“, fasst es Milchram zusammen.

Andere Objekte, wie ein Bild des Malers Igo Pötsch, das die Beflaggung des Rings rund um

Kurator Gerhard Milchram vor dem „Labor der Unmenschlichkeit“. Foto: Daniel Shaked

das Heldentor im März 1938 zeigt, wurden bewusst tief gehängt, im Begleittext wird die Darstellung dezidiert als Propaganda ausgewiesen. Auf Augenhöhe wurden dagegen Objekte wie zwei verbrannte Rimonim platziert. Sie zeigen die Auswirkungen der Verfolgungspolitik. Die einst silbernen und nun schwarzen und verbeulten Rimonim sind eine Leihgabe des Jüdischen Museums Wien und gehörten einst zum Inventar des Währinger Tempels. Täter und Opfer: Diese Gegenüberstellung zieht sich durch das Konzept von Milchram und Niko Wahl. Da ist beispielweise die Geschichte des Juweliers Hans Grünsfeld. Er hatte von seinem Vater Adolf Grünsfeld das Geschäft in der Favoritenstraße 60 übernommen – die vor einigen Jahren zufällig hinter einer Holzwerbefläche der Gewista an der Hauswand entdeckte Werbemalerei wurde im Auftrag des Wien Museums abgenommen und ist nun in der Ausstellung zu sehen. Grünsfeld schaffte es zu emigrieren, zuvor musste er aber den Prozess der Enteignung durchlaufen. Davon zeugt in der Schau ein Bescheid des Finanzamts, in dem zu lesen ist: „Ich habe festgestellt, dass der Jude Grünsfeld kein Vermögen mehr in Wien hat.“

An die 1.500 Juwelen- und Uhrengeschäfte gab es bis 1938 in Wien. Im Nationalsozialismus wurden 653 von ihnen entweder „arisiert“ oder „liquidiert“. Die Entscheidung darüber fällte übrigens die Innung der Juweliere. Einer im Amtsblatt der Wiener Zeitung veröffentlichten Liste folgend, sind im Wien Museum nun die Namen und Anschriften aller enteigneten jüdischen Juweliergeschäfte auf einer großen Tafel zu sehen. „Man bekommt so eine Vorstellung, wie viele Geschäfte das waren und wo sie waren“, erläutert Milchram. Als Täter wurde hier das Museum selbst gegenübergestellt. Ausgestellt wird etwa eine Tischuhr mit einer Hundefigur, die ihre Augen bewegen kann. Sie kam in der NS-Zeit in den Bestand des Museums. Die Provenienz sei bis heute zwar unklar, aber zu 99 Prozent dürfte sie wohl aus einem der geschlossenen oder übernommenen 653 Juweliergeschäfte stammen. Daher wird auch im Beitext aufgefordert, sich an das Museum zu wenden, falls man Hinweise auf die genaue Provenienz dieses Objektes habe.

„In den Köpfen spukt ja immer herum: Das waren die Glücklichen, die es ins Exil geschafft haben. Aber das ist eine Geschichte, die so nicht stimmt.“
Kurator Gerhard Milchram

Hans Grünsfeld begegnet den Besucherinnen später in dieser Ausstellung noch einmal: In einem kreisförmig gestalteten Areal verhandeln die Kuratoren die Nachwirkungen der NS-Zeit in der österreichischen Gesellschaft und auf die österreichische Gesellschaft bis heute. Dort ist dann zu erfahren, dass sich Grünsfeld, obwohl er sich in La Paz durchaus erfolgreich eine neue Existenz aufbauen konnte, dort 1955 das Leben nahm. Erst nach Kriegsende 1945 hatte er im Briefwechsel mit einer Cousine in Wien erfahren, dass seine Mutter und deren Schwester in Theresienstadt umgekommen und weitere Familienmitglieder verstorben waren. Es quälte ihn die vermeintliche Schuld, nicht mehr getan zu haben, um die Verwandten zu retten, er wurde depressiv, zog sich immer mehr zurück. „In den Köpfen spukt ja immer herum: Das waren die Glücklichen, die es ins Exil geschafft haben. Aber das ist eine Geschichte, die so nicht stimmt. Menschen wie Hans Grünsfeld müsste man eigentlich auch zu den Opfern des Nationalsozialismus zählen.“

Gegenüberstellungen. Bevor es an das Thema Vergangenheitsbewältigung (oder auch nicht) geht, ist allerdings noch ein Raum dem „Tatort Wien“ gewidmet. Damit wollen die Kuratoren auch dem Bild entgegenwirken, dass nur in den Konzentrationslagern gemordet wurde. Einerseits erfährt man hier über die Außenstellen des KZ Mauthausen, etwa bei den Saurerwerken. Man erfährt aber auch von den Morden, die hier im Namen der Wissenschaft stattfanden. Mit dem Nachbau der Fassade des Hotel Métropole, in dem sich die Gestapo-Zentrale befand, wird an diesen Ort des Terrors erinnert. Anhand von Karten, die von hierher verbrachten Opfern erzählen, wird auch in diesem Teil die Täterrolle nicht außer Acht gelassen. Jedem dieser Opfer wird auch ein Täter gegenübergestellt – dabei kann es sich um Personen handeln, die einander wirklich getroffen haben, oder um Menschen, die in dieser Vernichtungsbürokratie an jenen Stellen saßen, die dann über das Schicksal der Opfer entschieden.

NS-Memorabilia werden so präsentiert, dass sie nicht verherrlicht werden können – nicht auf Augenhöhe, sondern
in Vitrinen, auf die der Besucher hinabschaut. Foto: Daniel Shaked

Stichwort Bürokratie: Die Nationalsozialisten versuchten ihrem Unrechtsregime durch den Anstrich von Rechtsstaatlichkeit den Schrecken insofern zu nehmen, als sich alle, die hier beteiligt waren, darauf ausreden konnten, auf Basis von Gesetzen und Befehlen zu handeln. Nach dem Krieg sollte das dann in dem viel bemühten Spruch, nur seine Pflicht getan zu haben, münden. Auch darauf wird schließlich in dem Rondeau, das den Nachwirkungen der NS-Zeit nachgeht, eingegangen. Glas, Stahl, die Farben Weiß und Grau sind in diesem Abschnitt der Dauerausstellung die vorherrschenden Materialien und Farben. Sie sollen eben diesen bürokratischen, glatten Charakter des NS-Regimes gestalterisch widerspiegeln.

Das Juweliergeschäft von Hans Grünsfeld war eines von 653, die in Wien in der NS-Zeit „arisiert“ oder „liquidiert“ wurden. Foto: Daniel Shaked

Der runde Raum, der von Personen wie Simon Wiesenthal, Kurt Waldheim, Paula Wessely, Taras Borodajkewycz oder Ceija Stojka erzählt, präsentiert die hier ausgestellten Objekte übrigens hinter weißen Kastentüren, die der Besucher erst selbst öffnen muss. Nach außen hin ist alles aufgeräumt und weggesperrt. Werden die Türen aufgezogen, eröffnen sich dahinter jene Geschichten, die bis heute in die Gesellschaft hineinwirken. Jüngstes Beispiel sind die Eigenviktimisierung von Präventionsmaßnahmengegnern in der Covid-19-Pandemie mit verschiedensten Referenzen auf die NS-Zeit. Diese Vitrine will das Museum immer wieder neu gestalten. Sieht man sich die jüngsten Ereignisse im Gefolge des Terrors der Hamas in Israel am 7. Oktober auch in Österreich an, holte hier die Gegenwart das museal Erzählte schon vor der Wiedereröffnung des Museums ein.

Das Vermittlungsteam des Museums bietet übrigens für Schulklassen insgesamt 26 Programme an, zwei davon befassen sich mit der NS-Zeit, erzählt Vermittlerin Ursula Arendt. Themenführungen werden auch für Erwachsene angeboten. Wer das Museum auf eigene Faust erkunden möchte, dem steht ein Audioguide zur Verfügung, der zu allen 101 ausgestellten Objekten Informationen bietet. Jene, die sich hier alles genau ansehen möchten, sollten jedoch jede Menge Zeit mitbringen: Rund vier Stunden dauert es, wenn man die Audioguide-Tour komplett nutzt. Milchram empfiehlt allerdings ohnehin, sich jeweils nur in einen Themenbereich zu vertiefen. Die neue Eintrittspolitik des Museums macht dies auch leicht möglich: Der Besuch der Dauerausstellung ist von nun an für alle Besucher kostenfrei.

wienmuseum.at

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