Der Zustand von ständiger Todesnähe ist ihnen eingraviert – Interview mit der israelischen Psychoanalytikerin Shapira Berman

Nach über vier Monaten sind die Menschen, die am 7. Oktober nach Gasa verschleppt wurden, noch immer in der Gewalt der Hamas. Bis zu diesem Zeitpunkt ist nicht klar, in welchem Zustand sie sind und wer von ihnen noch am Leben ist. WINA sprach mit Ofrit Shapira Berman, Psychoanalytikerin und Spezialistin für Trauma an der Hebräischen Universität, über die Situation der Geiseln und ihrer Familien und über die Chancen derjenigen, die freikommen, wieder in ein normales Leben zurückzufinden.

2011
Demonstration auf dem Tel Aviver Azrieli Mall für die Freilassung der israelischen Geiseln in Gaza. © Flash 90

WINA: Frau Prof. Shapira Berman, in welchem Rahmen arbeiten Sie im Moment mit den betroffenen Familien?
Ofrit Shapira Berman: Noch am 7. Oktober haben wir mit einigen Kollegen – Ärzten und Psychoanalytikern – die Hilfsorganisation FLM (First Line Med) gegründet, und noch am gleichen Tag haben wir dann erste Gespräche mit Betroffenen geführt. Mittlerweile haben wir in der Organisation 450 Psychoanalytiker, die volontieren und den Familien psychische Unterstützung geben, anfangs waren das auch die Angehörigen von Vermissten, denn viele wussten noch lange Zeit nicht, wer aus ihrer Familie entführt und wer ermordet wurde. Uns war sofort klar, dass das ernst ist. Ich bin selbst noch am selben Nachmittag in den Süden gefahren und habe mit dem Vater eines entführten jungen Mannes gesprochen. Nach vier Tagen kam die Nachricht, dass der Sohn ermordet wurde.

Wenn es zu einem Geiselabkommen kommt: Werden die Zurückkehrenden nach vier Monaten Gefangenschaft, großteils in Tunneln und unter extrem schlechten Bedingungen, wieder ein halbwegs normales Leben führen können?
I Ich nehme an, dass der Zustand der noch lebenden Geisel um einiges schlechter ist als der Zustand derjenigen, die beim letzten Abkommen freigelassen wurden. Grund sind der Zeitfaktor und die physischen und psychischen Misshandlungen, die sie erdulden müssen. Diejenigen, die vor zwei Monaten freigekommen sind, mussten teilweise im Spital behandelt werden. Doch jetzt werden die Menschen höchstwahrscheinlich für längere Zeit, vielleicht für Monate im Spital bleiben müssen – vor allem auch wegen ihrer physischen Verletzungen und Probleme. Und sie werden viele Jahren Psychotherapie brauchen, vielleicht auch ein Leben lang.
Wir verstehen, dass nicht alle unter den gleichen Konditionen gefangen gehalten werden. Wir wissen, dass manche täglich Gewalt ertragen müssen, sie werden geschlagen und misshandelt, bekommen nichts zu essen … Ein Teil ist allein mit den Peinigern, ein Teil mit anderen Israelis. Es gibt schweren sexuellen Missbrauch. Und wenn es zu einer Schwangerschaft kommt, ist das eine Katastrophe.

„Auch in ihrem Hass, der Brutalität
und in ihrem Sadismus sind die Terroristen
sicherlich mit den Nazis vergleichbar.“

Gab es schon Vergleichbares, kann man sich auf Erfahrungswerte in der Therapie berufen?
I
Was die Behandlung betrifft, so sind die Meinungen geteilt, ob es da einer neuen Theorie der Traumatherapie bedarf. Tatsache ist, dass es so gut wie keine Erfahrungen mit zivilen Frauen gibt, die so lange unter solchen Bedingungen als Geisel gehalten wurden.
Andererseits ist vieles ähnlich wie bei komplexem PTSD (Post-traumatic stress disorder), einer schweren traumatischen Störung, die aufgrund von ständigem Missbrauch innerhalb von Familien (oder in anderen Situationen von Abhängigkeit) entstehen kann: Von jemandem so Gefährlichen für längere Zeit völlig abhängig zu sein, ist dabei das inhaltliche Kernthema der Therapie. So eine Abhängigkeit führt auch zu einer Verwirrung in der Beziehung – denn der Kerkermeister ist vielleicht auch in manchen Momenten ein „guter Mensch“ …
Und gleichzeitig befinden sich die Geisel in einem anhaltenden Zustand von ständiger Todesnähe, der ihnen eingraviert ist und auch danach noch lange in den Knochen stecken wird. Das ist es: diese Beziehung zu demjenigen, der einen missbraucht, die ständige Todesgefahr – und auch die psychologischen Manipulationen, dass den Geiseln beispielsweise eingeredet wurde, dass die Welt sie vergessen hat, dass Israel nichts tut, um sie freizubekommen, usw. Und um jede Geisel gibt es durchschnittlich 20 Menschen – Familie, nahe Freunde –, die genauso das Gefühl haben, dass ihr Leben am 7. Oktober zum Stillstand gekommen ist, solange sie noch jemanden in Gaza haben. So eine Art von Massaker und Geiselnahme gab es in der westlichen Welt noch nicht. Es gab allerdings Ähnliches von Daish und ISIS, wo Mädchen und Frauen geschändet und als Sexsklaven verwendet wurden.

Kann man das Massaker vom 7. Oktober mit der Shoah vergleichen?
I Da gibt es vieles, das an die Shoah erinnert, inklusive der Unglaublichkeit, dass noch immer so viele die Sicht der Hamas (und damit ihre Ideologie) unterstützen. Und auch in ihrem Hass, der Brutalität und in ihrem Sadismus sind die Terroristen sicherlich mit den Nazis vergleichbar. Eltern wurden Zeugen von unglaublich schweren und sadistischen Taten an ihren Kindern und umgekehrt. Menschen wurden Zeugen von unaussprechlichen Gräueltaten. Auch die Bedrohung ist ähnlich – wie in der Nazizeit will die Hamas alle Juden auslöschen. Nur im Gegensatz zur Nazizeit haben wir heute einen Staat und eine Armee. Man fragt sich, was hält diese Menschen, die in Gaza gefangen gehalten werden, am Leben – sind es die gleichen Mechanismen und Kräfte wie in den Todeslagern der Nazis?
Es ist mir beinahe unmöglich, mir vorzustellen, was diese Menschen durchmachen und dass es eine meiner Töchter sein könnte, die unter diesen Umständen in Gaza festgehalten wird. Und ich würde mir wünschen, dass jeder, der dieses Interview liest, nur für einen Moment die Augen schließt und versucht, sich das vorzustellen. Wenn die Welt das nicht stoppt, was da geschieht, wird es weitergeschehen, auch in anderen Ländern. Das wäre das Ende der westlichen Welt, wie wir sie kennen.

Können die Geiseln, wenn sie befreit werden, noch in ein „normales“ Leben zurückfinden?
I Das ist sehr individuell und abhängig von den Bedingungen, unter denen sie festgehalten wurden. Die meisten von ihnen können vielleicht ein normales Leben führen, aber es ist auch etwas in ihnen zerbrochen, das man nicht mehr kitten kann.
Und was, wenn jemand nach seiner Rückkehr entdeckt, dass seine Frau und Kinder ermordet wurden? In Gaza wissen sie beinahe nichts darüber, was hier geschehen ist. Und manche Familien hier werden noch jahrelang nicht wissen, was mit ihrem Kind oder anderen Angehörigen geschehen ist. Es ist also ein ganzes Paket voll von schrecklichen Dingen, mit denen die Familien der Geiseln fertigwerden müssen. Und ihr Zustand verschlechtert sich nach den über vier Monaten immer mehr.
Es gibt über 50 Familien, wo beide Eltern ermordet wurden, in über 30 Familien ist ein Elternteil getötet worden. Die Zahlen werden laufend aktualisiert. Und in einem Fall hat ein Mädchen die gesamte Familie verloren und verblieb ohne Geschwister, ohne Eltern und ohne ihr Zuhause. Und sie hat Gewalt erfahren und war teilweise Zeugin der Geschehnisse am 7. Oktober. Mir fehlen die Worte, es gibt keine Worte, um all das Leid auszudrücken. Man kann nur für sie da sein, so viel Zeit es auch immer brauchen wird.

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