Interview mit Lilya Zilberstein: Pianistin mit Temperament, Lehrerin mit Hingabe

Lilya erzählt von der Diskriminierung in der ehemaligen Sowjetunion, von der langjährigen künstlerischen Partnerschaft mit Martha Argerich und von ihren talentierten Söhnen.

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WINA: Ihren sensationellen internationalen Durchbruch als Pianistin feierten Sie mit 22 Jahren, und zwar 1987 mit dem Gewinn des renommierten Busoni-Wettbewerbs* in Bozen. Nur ein Jahr später konnten Sie – obwohl gebürtige Moskowiterin – weltweite Tourneen in das westliche Ausland unternehmen. Wie kam es dazu?
Lilya Zilberstein: Das Schwierigste war, überhaupt für den Wettbewerb antreten zu können, denn nur die staatlichen sowjetischen Behörden entschieden darüber, ob man teilnehmen darf. Es gab die Vorauswahlen, in denen man mehrere Programmrunden spielen musste. Ich bin bei einigen dieser Vorauswahlen angetreten und habe es erst nach mehreren Versuchen geschafft. Einmal ging es um einen Wettbewerb in Portugal, da wurden zwei Kandidaten ausgewählt und zwei nicht, eine war ich. Da habe ich zu hören bekommen: „Du verstehst nicht, du musst einen Iwanow fiktiv heiraten, dann gewinnst du sofort!“ Wenn man in einem Land mit 150 verschiedenen Nationalitäten lebt und ständig hört, dass wir doch alle gleich sind, dann weint man mit 21 Jahren; ich fühle heute noch meinen damaligen Schmerz.

Aber nach dem Sieg im Busoni-Wettbewerb in Bozen ging alles sehr schnell?
Ja, für diese wichtige Teilnahme in Italien habe ich die Vorauswahl in der ukrainischen Stadt Donezk gewonnen. Nachdem ich den Wettbewerb in Bozen als Siegerin verlassen habe – nach mir wurde der Busoni-Preis fünf Jahre lang nicht vergeben –, ging alles viel leichter. Eine Agentin, die mein Spiel gehört hatte, wollte unbedingt mit mir arbeiten. Sie organisierte meine ersten Konzerte beim Schleswig-Holstein Festival und in Paris. Im Sommer 1988 spielte ich als erste Busoni-Preisträgerin auch in New York. Glauben Sie es, wenn ich Ihnen sage, dass die sowjetische Musikagentur mir genau 133 US-Dollar aus dem Honorar von 1.000 US-Dollar ausgezahlt hat?

Trotzdem war es sicher klug, im Westen aufzutreten. Ab 1990 lebten Sie in Deutschland; bereits 1991 hatten Sie ein spektakuläres Debüt mit dem Berliner Philharmonischen Orchester in der Leitung von Claudio Abbado. Was motivierte Sie, nach Deutschland zu gehen?
Ich war schon verheiratet und mit meinem älteren Sohn Daniel schwanger, als wir nach Deutschland kamen. Unsere Reise hatte zu allererst medizinische Gründe: Die Kinder aller meine Freundinnen haben in den Moskauer Spitälern Infektionen bekommen. Wir hatten ein wenig Geld gespart, dachten, wir gehen ins Ausland und kommen nach der Geburt zurück. Aber wir sind in Deutschland geblieben, auch weil ich einen Plattenvertrag mit der Deutschen Grammophon abschließen konnte. Das war im Sommer 1990 in Salzburg, da kamen sie auf mich zu. Es folgten Aufnahmen in Westberlin und Hamburg.

Sie haben bereits mit fünf Jahren mit dem Klavierspiel angefangen. Wie kam es dazu, haben die Eltern Sie dazu motiviert?
Es klingt wie ein Märchen, aber es ist wirklich so passiert: Es war kurz nach meinem fünften Geburtstag, da war ich mit meinen Großeltern außerhalb von Moskau im Park eines Kurortes spazieren. Einige ältere Leute saßen auf einer Bank, und ich fragte: „Möchten Sie, dass ich für Sie singe?“ Eine ältere Dame, leider kennen wir ihren Namen nicht, sagte nach meinem Gesang zu meiner Oma: „Sie müssen diesem Mädchen, das so schön singt, eine Zukunft geben. Bringen Sie sie auf die Gnessin-Musikschule, meine Enkelin war auch dort!“ Meine Oma hat mir daraufhin eine Klavierlehrerin gefunden, die mich auf die Aufnahmsprüfung für die Musikschule vorbereitet hat.

Die „jüdische Herkunft“ wurde in der ehemaligen SU meist verschwiegen, vor allem, um keinen Diskriminierungen ausgesetzt zu sein. Wie war das in Ihrer Kindheit, Jugend, Familie?
Mit meinem Namen kann ich nichts verschweigen … (lacht). Da sechs unserer nahen Angehörigen in der Ukraine als Juden ermordet wurden, gab es da kein Geheimnis.

Sie haben Ihren Namen für die Karriere nie geändert?
Da mein Mann Gerzenberg heißt, hätte das keinen großen Unterschied gemacht! Meine Oma hat Jiddisch gesprochen, aber mir hat sie es leider nicht beigebracht. Dass man jüdisch ist, stand damals als Nationalität in unseren Pässen. Ich weiß nicht, wie das jetzt ist, denn glücklicherweise lebe ich seit 33 Jahren nicht mehr dort.

Hat Ihre Familie die jüdischen Feiertage begangen?
Leider nicht, es waren ja auch alle Religionen verboten. Ein Cousin ist in Moskau immer in die Synagoge gegangen. Mir sagte man, dass dort fotografiert wird, und dann schmeißt man mich von der Hochschule, das wollte ich nicht riskieren. Lustigerweise war ich zum ersten Mal in der Synagoge in Tokio.

Wann und wie hat es Sie nach Wien verschlagen?
Wegen der Professur an Universität für Musik und darstellende Kunst Wien: Ich habe mich im Jänner 2013 beworben, nach einem längeren Prozedere kam die Zusage im August 2014. Zuerst kombinierte ich die Lehrtätigkeit aus Hamburg mit meinen internationalen Konzertreisen, im Jahr 2015 bin ich dann hergezogen.

Zu den Fix- und Höhepunkten Ihrer Karriere zählt eindeutig die langjährige enge künstlerische Partnerschaft mit der Ausnahmepianistin Martha Argerich, mit der Sie uns gerade im Wiener Konzerthaus vierhändig eine musikalische Sternstunde beschert haben. Abgesehen vom Altersunterschied ist es eher ungewöhnlich, dass sich zwei so großartige Virtuosinnen zusammentun, oder?
Ich hatte das Glück, noch in Moskau an der Akademie unter den wenigen Aufnahmen, die es von ausländischen Künstlern gab, auch eine LP von Martha zu hören, ein wahres Erlebnis. Als sie 1992 in Hamburg gespielt hat, habe ich mich vorgestellt. Sie kam dann 1993 in Brüssel, wo sie lebte, ohne Vorankündigung zu einem Konzert von mir.
   Der Anstoß zu gemeinsamen Konzerten erfolgte 1999, als wir beide bei einem Festival in Norwegen verschiedene Kammermusikkonzerte spielten. Martha hatte dort spontan für das abschließende Galakonzert vorgeschlagen, dass wir etwas vierhändig spielen. Gleich danach kam ein Agent zu uns und schlug zwei gemeinsame Konzerte in Paris vor.

Sie waren beide Preisträgerinnen des Busoni-Klavierwettbewerbs: Martha Argerich im Jahr 1957 und Sie 30 Jahre später 1987. Auch das verbindet?
Ja, dazu gibt es eine lustige Geschichte: 2011 spielten wir beide beim Eröffnungskonzert des Busoni-Wettbewerbs in Bozen. Danach geht Martha die Treppen hinunter und ruft laut: „Das wäre für mich 1957 sehr schwer gewesen, wenn Lilya bei meinem Wettbewerb gespielt hätte …“ Ich musste so lachen, ich war ja nicht einmal geboren. Zwei Tage später hat sie das Gleiche der Tageszeitung La Repubblica gesagt.

Wie geht es Ihnen in Europa als gebürtige Russin nach dem Überfall auf die Ukraine?
Ich kann diesen Schock seit zwei Jahren nicht überwinden, rede selbst viel darüber, weine auch viel, wenn ich die Nachrichten sehe. Viele aus meiner Familie kommen aus der Ukraine; ich habe in verschiedenen Teilen des Landes konzertiert. Ich betreue eine „außerordentliche“ Studentin aus Odessa bereits zwei Jahre sowie einen Studenten aus Kiew. Außerdem unterstütze ich ältere Menschen aus der Ukraine, die Hilfe brauchen.

Sie haben erst vor zehn Jahren als erste Frau den Lehrstuhl für das Konzertfach Klavier an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) übernommen. Seit 2011 leiten Sie bereits Meisterklassen an der Accademia Musicale Chigiana in Siena. Pädagogik liegt Ihnen am Herzen. Auch bei Ihren mittlerweile arrivierten Söhnen, Daniel und Anton Gerzenberg, waren Sie anfangs prägend dabei?
Meine Kinder haben Musik schon in meinem Bauch gehört: Ich habe Konzerte gespielt bis zur siebenmonatigen Schwangerschaft mit Daniel. Außerdem sind sie später unter dem Flügel gesessen oder haben im Bett getanzt, wenn ich geübt habe. Anton hat mit vier Jahren angefangen zu spielen, Daniel mit fünf. Zuerst habe ich mit ihnen geübt; mein Mann, der ein wunderbarer Trompeter ist, hat die beiden auch „kontrolliert“, später hatten sie andere Lehrer. Daniel hat seinen Master in Berlin als Liedbegleiter abgeschlossen; Anton ist nach Köln zu Pierre-Laurent Aimard gegangen. Er bringt jetzt neue Musik zum Erklingen, sodass man es wirklich hören möchte, z. B. hat er jüngst in in Deutschland und Österreich die kompletten Ligeti-Etüden präsentiert; 2021 war gewann er den ersten Preis beim angesehnen Concours Géza Anda in Zürich.

Und wie sehen Ihre Pläne aus?
Dieses Jahr spiele ich mit Anton vierhändig in Heidelberg alle ungarischen Tänze von Brahms. Im Juni 2024 nehme ich am Martha Argerich Festival in Hamburg teil. Im Juli spiele ich dann in Mexiko die Paganini-Rhapsody von Rachmaninow – und das entgegen der Meinung des Herrn Putin, dass russische Kultur boykottiert wird …


<b>Lilya Zilberstein</b> wurde 1965 in Moskau geboren, wo sie auch von 1971 bis 1990 studierte, ehe sie den ersten Preis beim Internationalen Klavierwettbewerb Ferruccio Busoni in Bozen gewann, wo auch ihre internationale Karriere begann. Sie spielte beim Maggio Musicale Fiorentino, in München, erhielt sie einen Vertrag bei der Deutschen Grammophon und übersiedelte bald schon mit ihrem Mann, dem Trompeter Alexander Gerzenberg, nach Berlin; seit 2015 lebt sie in Wien. Seit 1991 tritt Lilys Zilberstein als Solistin mit zahlreichen bedeutenden Orchestern und Dirigenten sowie als Kammermusikerin mit Größen wie Martha Argerich, Maxim Vengerov, Gautier Capuçon u. a. auf und gastiert bei Festivals wie dem Peninsula Music Festival Wisconsin, dem Schleswig-Holstein Musik Festival und den Musiktagen von Martha Argerich in Lugano. Lilya Zilberstein gibt Meisterkurse in den USA, Italien, Taiwan und Südkorea sowie regelmäßig an der Londoner Royal Academy of Music.

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