Die andere Fluchtbewegung

Während die Welt immer noch geschockt auf die Ukraine schaut, wo Russlands Präsident Wladimir Putin Häuser und Städte in Schutt und Asche legen und auch Zivilisten, darunter Kinder, töten lässt, sodass Millionen Menschen auf der Flucht sind, formiert sich in Russland selbst ebenfalls eine Fluchtbewegung. Leiser und abseits von Fernsehkameras verlassen vor allem Jüngere, gut Gebildete das Land: Die Repressionen Putins haben inzwischen ein unerträgliches Maß erreicht, sagen sie. Einer von ihnen ist Grigory Sverdlin.

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„Kein Krieg.“ „Ich wusste, dass ich damit jederzeit Gefahr lief, verhaftet zu werden.“ © Daniel Shaked

Ein sonniger Mittag Ende März in Wien, die Temperaturen sind so, dass es die Menschen ins Freie zieht, die Gastgärten sind hoch frequentiert. Wir treffen einander im Servitenviertel, hier wohnt eine langjährige Freundin Sverdlins, er hat sie vor vielen Jahren in seiner Heimatstadt St. Petersburg kennengelernt, als sie dort ein Auslandssemester absolvierte, nun kann er ein paar Tage bei ihr wohnen.
Er genieße die Sonne sehr, erzählt Sverdlin zu Beginn unseres langen Gesprächs. Berühmt sei St. Petersburg für seine weißen Nächte. Die Kehrseite seien die dunklen Tage im Winter. Dennoch liebe er St. Petersburg, wo er 1978 zu Welt kam, und wohin er 2010 nach eineinhalb Jahren in Israel – er hatte Alija gemacht – wieder zurückkehrte. Seine Zeit in Israel sollte ihm dennoch nun sehr nützlich sein beziehungsweise die israelische Staatsbürgerschaft, die er seither zusätzlich zur russischen besitzt. Doch dazu später. Sverdlin stammt aus einer jüdischen, nicht religiösen Familie. Der Vater war Geschäftsmann, die Mutter lehrte Englisch an einer Universität. Sie seien keine Dissidenten gewesen, sagt der Sohn, seien solchen allerdings nahe gestanden. In diesem Sinn hätten sie auch ihn und seine Schwester groß gezogen. Er studierte Wirtschaft, arbeitete für Banken, später leitete er das Marketing eines großen Konzerns. Irgendwann kam er jedoch an einen Punkt, an dem er spürte, er könne nicht so weiterleben.
Im Vergleich zu heute sei die politische Situation entspannt gewesen, doch damals „war ich müde davon, wie sich die Dinge in Russland entwickelten. Von Jahr zu Jahr gab es weniger Freiheit, weniger unabhängige Berichterstattung, eingeschränktere Möglichkeiten zu wählen“.

So fiel 2008 die Entscheidung, Alija zu machen. In Israel lernte er in einem Ulpan Hebräisch, arbeitete, lernte neue Freunde kennen. „Ich merkte aber auch, dass ich dort nicht so gut vernetzt bin, mein Hebräisch nicht perfekt ist und es auch in Israel, obwohl Einwanderer von allen herzlich empfangen werden, nicht so leicht ist, etwas aufzubauen.“
In diesen eineinhalb Jahren ordnete er aber sein Leben neu. Schon während seiner Wirtschaftskarriere hatte er einmal in der Woche in St. Petersburg für eine NGO, die sich in der Obdachlosenhilfe engagiert, ehrenamtlich Essen ausgeliefert. Er beschloss, künftig hauptberuflich in diesem Bereich tätig sein zu wollen. Zufällig war die damalige Leiterin von Nochlezhka gerade dabei, nach Deutschland zu übersiedeln, und so setzte er in den vergangenen Jahren seine Managementfertigkeiten als ihr Nachfolger ein.
Nochlezkha entwickelte sich in dieser Zeit zu einer wichtigen Stütze für Obdachlose in St. Petersburg. Das Team wuchs von etwas unter 20 auf nun 85 bezahlte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und hunderte Freiwillige an. Im Rahmen von Projekten in Moskau und St. Petersburg wurden 2021 8.165 Menschen betreut. Die einzelnen Projekte decken dabei verschiedenste Ebenen ab – von der Akutversorgung mit Notschlafstellen und warmen Mahlzeiten bis zu Rehabilitationsprogrammen, mit denen Betroffene unterstützt werden, wieder einen Job ausüben und sich ein Zuhause schaffen zu können. Wie wichtig diese Arbeit ist, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Rund sechs Millionen Menschen leben in St. Petersburg, 50.000 von ihnen sind obdachlos.
Der 24. Februar dieses Jahres, der Tag, an dem Putin der Ukraine den Krieg erklärte, war ein wichtiger für Nochlezkha. In Kürze sollte ein Restaurant eröffnet werden, dessen Belegschaft zur Hälfte aus Obdachlosen besteht. Hier sollen sie einen neuen Beruf erlernen und dann nach ein paar Monaten in ein anderes Restaurant oder Café wechseln können. Normalerweise mache er nach dem Aufstehen in der Früh einen Blick auf seine SocialMedia-Seiten, erzählt Sverdlin. Doch an diesem Tag sollte es ein Treffen mit dem Team des künftigen Lokals geben, und die Bauarbeiten gingen ins Finale. So schaute er erst auf dem Weg zur Baustelle in seinem Auto beim Halt vor einer Kreuzung auf sein Smartphone. Und konnte kaum glauben, was er da auf Meduza las, einem Medienportal, das inzwischen von Putin als „feindlicher Agent“ eingestuft wurde, nun von Riga aus operiert, sich nicht mehr über Werbeeinnahmen finanzieren kann und daher auf Crowdfunding setzt. „Ich hoffte so, dass das nicht wirklich passiert. Aber im Grund wissen wir seit 2014, dass dieses Regime zu allem fähig ist.“

2014 fiel Putin in die Krim ein. Die Situation heute sei eine völlig andere als damals, sagt Sverdlin. Es sei fast kein Blut geflossen, die Krim habe länger zu Russland gehört als zur Ukraine. Dennoch sei bereits dieser Feldzug ein No-go gewesen. Im Rückblick hätte der Westen schon damals die Sanktionen über Russland verhängen müssen, wie es dies heute tut, sinniert Sverdlin. Vielleicht wäre Putin dann nicht dem Fehlglauben aufgesessen, er könne die Ukraine in einer Woche und ohne viel Widerstand einnehmen. Vielleicht hätte er den Westen dann nicht als so schwach eingeschätzt, wie er dies nun getan habe.

Protest. Seit Jänner 2021 hatte er auf der Rückscheibe seines Autos ein Schild mit der Aufschrift „Freiheit für politische Gefangene“ befestigt. © Daniel Shaked

Sehr tapfere Leute. Noch am selben Abend stellte sich Sverdlin auf den Newski Prospekt, in den Händen ein Schild mit der Aufschrift „Kein Krieg“. Das hatte er bereits 2014 gemacht, als es um die Krim ging. Damals sei er ein „einsamer Protestierender“ gewesen, erinnert er sich. Damals stand er alleine, teils sei ihm Unverständnis entgegengeschlagen, „ich konnte fühlen, wie die Leute dachten, die Krim ist ja immer russisch gewesen“. Aber nun, nach dem Beginn des Angriffs auf die Ukraine sei es anders gewesen. „Viele Menschen haben mich unterstützt, sie machten das Daumen-hinauf-Zeichen.“ Eine Freundin malte ihm für seinen Protest zudem auf die Rückseite einer Jacke ebenfalls die Worte „Kein Krieg“.
„Ich wusste, dass ich damit jederzeit Gefahr lief, verhaftet zu werden“, erzählt Sverdlin. Wie sich das anfühlt, das wusste er schon. Seit Jänner 2021 hatte er auf der Rückscheibe seines Autos ein Schild mit der Aufschrift „Freiheit für politische Gefangene“ befestigt. Die Botschaft richtete sich gegen die Verurteilung des Oppositionspolitikers Alexei Nawalny. Im Mai wurde er von einem Polizisten angehalten und verhaftet. Er wurde auf eine Polizeistation und dort von einem Mitarbeiter verhört, der sich ihm gegenüber zwar nicht als solcher auswies, den er aber der „Abteilung E“ zuordnete. Diese widmet sich offiziell der Extremismusbekämpfung. Aber jeder wisse, dass diese Oppositionelle im Visier habe, so Sverdlin. Offiziell wurde ihm erklärt, dass man prüfen müsse, ob sein Auto nicht gestohlen sei. Da half auch nicht, dass er versicherte, dass er den Pkw von seinem Vater und dieser ihn davor bei einem Autohändler erworben habe. Das Schild, das diese Verhaftung ausgelöst hatte, kam dagegen nicht zur Sprache.

„Russland ist kein demokratischer Staat.
Es ist nicht einmal ein Rechtsstaat.
Die Polizei kann alles mit dir machen,
und du kannst dich nicht wehren.“

Grigory Sverdlin

So arbeitet eine Diktatur“, sagt Sverdlin. „Es ist so, wie es Hannah Arendt beschrieben hat. Russland ist kein demokratischer Staat. Es ist nicht einmal ein Rechtsstaat. Die Polizei kann alles mit dir machen, und du kannst dich nicht wehren.“ Der Wagen sei konfisziert und erst nach fünf Wochen, in denen er einen Anwalt konsultiert und schließlich bei einem anderen Polizeirevier Anzeige erstattet habe, dass ihm sein Auto von der Polizei gestohlen worden sei, zurückgegeben worden.
Er nahm nun mit seinem täglichen Protest gegen den Krieg in der Ukraine eine neuerliche Verhaftung in Kauf. Rational sei das vielleicht keine gute Entscheidung gewesen, emotional habe er aber nicht anders können, sagt er nun. Mehrmals sah er, wie andere Demonstranten verhaftet und von der Polizei abtransportiert wurden, von ihm seien mehrmals die Personalien aufgenommen worden. Doch er wollte sein Team nicht im Stich lassen und dachte daher noch nicht an eine Ausreise, obwohl dies allseits bereits Thema war: „Wann immer man Freunde traf, in ein Café kam, waren Menschen am Weinen, viele sprachen über ihre Ausreisepläne, erzählten von anderen, die das Land bereits verlassen haben. Wir waren sehr deprimiert. Wir haben alle gespürt, dass das die größte Katastrophe unseres Lebens ist. Wir sind nun Bürgerinnen und Bürger eines faschistischen Landes, das ein anderes Land angegriffen hat und dort Menschen umbringt.“ Alle habe über Probleme berichtet, in der Nacht zu schlafen.
Was Sverdlin auch wichtig ist zu sagen: dass das Gros der russischen Bevölkerung diesen Krieg unterstütze, sei Propaganda. Ja, über viele Jahre habe man nun in den Staatsmedien getrommelt, es handle sich bei der Ukraine um einen failed state und es gebe ein Nazi-Problem. Doch alle, die jünger als Mitte 40 seien, würden sich wie er schon lange nicht mehr in diesen Medien informieren. Diese Propaganda funktioniere daher nur bei Älteren. Gleichzeitig könne man aber von innen nicht viel tun, die Repressionen seien zu stark. Jeder, der auf der Straße protestiere, laufe Gefahr, verhaftet zu werden, wisse aber gleichzeitig, dass diese Demos nichts bewirken. Seit Kriegsbeginn seien bis Ende März bereits an die 15.000 Menschen verhaftet worden. „Das sind alles sehr tapfere Leute“, streicht Sverdlin hervor.
An dem Tag, als Putin das neue Gesetz verkündete, mit dem die Verwendung des Wortes Krieg unter Strafe gestellt wurde, wusste er, dass nun auch für ihn die Zeit gekommen war zu gehen. „Ich wollte nicht schweigen. Aber ich wollte auch nicht meiner Organisation schaden. Und nun wäre ich sicher ins Gefängnis gegangen.“ Innerhalb von 24 Stunden verließ Sverdlin Russland. Er packte 20 Bücher, sein zusammenklappbares Rad, Dokumente, Kleidung in sein Auto, informierte sein engstes Team, sperrte seine kleine Eigentumswohnung ab und fuhr zu den Eltern, die inzwischen in einem Vorort von St. Petersburg leben, um sich zu verabschieden.
Als er dort ankam, waren diese gerade dabei, Dokumente und Bargeld zusammenzusuchen, um es Freunden anzuvertrauen. Sie erwarten wegen der Ausreise ihrer beiden Kinder – Sverdlins Schwester ist inzwischen mit ihrem Partner und ihrer Tochter nach Tbilisi (Tiflis, die Hauptstadt von Georgien) geflüchtet –, von der Polizei aufgesucht zu werden. „Vielleicht klingt das wie Paranoia. Aber in Russland funktioniert das so. Die Polizei tauchte in der Vergangenheit immer wieder bei Familienmitgliedern von Oppositionellen auf.“
Mit dem Auto fuhr Sverdlin an die Grenze zu Estland. Um Russland überhaupt verlassen zu können, hatte er sich von der jüdischen Gemeinde in Estland eine Einladung, dort einen Workshop zu halten, besorgt. Es gebe zwar keine offizielle Regelung, dass man Russland nicht verlassen dürfe. In der Realität sei es aber schwierig. Noch seien die Pandemieregeln in Kraft. Auszureisen, um Urlaub zu machen, sei nicht erlaubt. Wenn man aber nachweisen könne, dass es um einen Arbeitseinsatz oder medizinische Versorgung gehe, könne man die Grenze passieren.
Auf der anderen Seite der Grenze wartete allerdings ein neues Hindernis: Als Russe braucht man ein Visum, nicht nur in Estland, sondern in vielen Staaten. Die Botschaften in Russland würden diese aber zurzeit oft nicht mehr ausstellen oder seien gar nicht mehr im Arbeitsmodus. Sverdlins Trumpf in dieser schwierigen Situation: sein israelischer Pass. Mit diesem reiste er in Estland ein, mit diesem ist er nun in Europa unterwegs. Seine Eltern haben inzwischen ebenfalls darum angesucht, Alija zu machen. Doch Israel hat derzeit alle Hände voll zu tun: zu den tausenden und abertausenden Ausreisegesuchen von ukrainischen Juden kommen nun auch solche von russischen Juden. Sie müssten mit einer Bearbeitungszeit von rund einem Jahr rechnen, ließ man Sverdlins Eltern wissen.
Viele seiner Freunde seien inzwischen wie seine Schwester mit ihrer Familie in Tiflis gelandet, erzählt er. Dort gebe es für Russen zunächst einmal ein einjähriges Aufenthaltsrecht. Andere seien nach Armenien geflogen, die Flüge dorthin seien inzwischen konstant ausgebucht und die Preise entsprechend hoch. Wieder andere hätte es nach Istanbul verschlagen. Er selbst will nun ebenfalls nach Georgien reisen. Davor versucht er im Zug einer Reise durch Europa wieder einen klaren Kopf zu bekommen. In Riga, Warschau, Prag ist er bereits gewesen. Überall trifft er Freunde, Bekannte, Kollegen. Gemeinsam denken sie nach, wie es möglich ist, Putin von außen unter Druck zu bringen. Insgesamt seien bereits mehr als eine viertel Million Russinnen und Russen seit Beginn des Kriegs in der Ukraine geflohen.

 

„Wir hoffen, dass sich ein Teil des inneren Kreises rund
um Putin gegen Putin stellt.“
Grigory Sverdlin

 

Wiederaufbauprojekt organisieren. Gerne würde Sverdlin eines Tages wieder in seine Heimat St. Petersburg zurückkehren. Möglich werde das erst sein, wenn es das Regime Putin nicht mehr gebe. Wie bald das sein werde? Das könne in ein paar Wochen so weit sein – oder aber erst in zehn Jahren. Wie Putin gestoppt werden könnte? „Wir hoffen, dass sich ein Teil des inneren Kreises rund um Putin gegen Putin stellt.“ Sicher ist sich Sverdlin nur über eines: Putin seinerseits wird nicht aufgeben. Entweder er sterbe oder er werde umgebracht. Und selbst dann bedeute das nicht, dass in Russland sich alles zum Besseren wende. Eine Möglichkeit sei, dass Russland dann zerfalle und/oder Bürgerkrieg ausbreche.
Die Sanktionen, die verhängt wurden, um Putin zu schwächen, findet Sverdlin gut. Aber natürlich würden das auch die Menschen im Land spüren: Die Preise seien im Steigen, viele Menschen hätten bereits ihren Arbeitsplatz verloren, manche Produkte – etwa Tierfutter, das oft aus dem Ausland importiert werde – seien nicht mehr verfügbar. Dass er seine russischen Bankkarten nun nicht verwenden könne, sei „ein unangenehmer Kollateralschaden“, aber ok. Er habe seine Ersparnisse von ein paar tausend Euro in Cash bei sich. 2021 habe er bereits angefangen, für andere NGOs in Russland, aber auch im Ausland, Workshops über das Management von karitativen Organisationen zu halten. Das wolle er nun fortführen und sich so finanziell über Wasser halten. In einer ferneren Zukunft sieht er sich in der Ukraine. Sobald der Krieg beendet ist, würde er dort gerne ein Wiederaufbauprojekt organisieren. Nachsatz: „Wenn man mich als Russen dort haben will.“

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