Der Krieg kommt schnell auch zuhause an. „Viele jüdische Familien im Habsburger Reich hatten zwei bis acht Söhne, die gleichzeitig eingerückt waren – und es gab entsprechend Gefallene. Die beiden Söhne von Dr. Otto Strasser wurden in einer einzigen Woche getötet, und im April 1916 hatte Salomon Pollak alle drei Enkel verloren.“ Das schreibt Peter C. Appelbaum in seinem neuen Buch Habsburg Sons. Jews in the Austro-Hungarian Army 1788– 1918. Appelbaum ist emeritierter Pathologe in Florida und hat bereits eine Reihe militärhistorischer Bücher verfasst.

Im Großen und Ganzen waren
Juden in den kaiserlichen
Armeen gut integriert, hatten
auch ihre Feldrabbiner und
bekamen koscheres Essen.

Der Ausschluss von Juden aus der deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg nach „rassischen“ Kriterien hat die Inklusion der Juden im großen Krieg davor weitgehend aus dem Bewusstsein verdrängt. Doch es handelte sich um Zahlen von erheblicher Größenordnung. Laut Appelbaum dienten zwischen 1914 und 1918 250.000 bis 300.000 Juden in den kaiserlichen Armeen zwischen der Infanterie in Galizien, den Gebirgsjägern an der italienischen Front, Artilleristen in Serbien, und selbst auf hoher See und in der Luft gab es jüdische Mannschaften und Offiziere. Letztere zählten übrigens etwa 25.000, zu einer Zeit, als das preußische Armeekorps für Juden noch fest verschlossen war.
Die große Zahl von aktiven und aktivierten Reserveoffizieren hatte einen Grund. Während der verpflichtende Wehrdienst vor 1914 für einfache Soldaten drei Jahre betrug, konnten Männer aus gebildeten Ständen mit dem Einjährigen-Freiwilligen-Jahr Leutnant der Reserve werden. Das galt für Studenten oder zumindest Maturanten und bot sich den emanzipierten Juden als Eintrittsmöglichkeit in die Mehrheitsgesellschaft an. Unter den Reserveoffizieren waren 18 Prozent jüdisch, deutlich mehr als der Anteil der Juden in der Gesamtbevölkerung. Konversion war dafür nicht notwendig, und eine Reihe von jüdischen Offizieren kletterten bis in höchste Funktionen im Generalstab. Besonders viele Juden fanden sich im Ärztekorps – in Friedenszeiten und dann später auch auf den Schlachtfeldern.
Einige Beispiele für außergewöhnliche Militärkarrieren von Juden: Leopold Austerlitz aus Prag diente im Generalstab der Artillerie als Oberst; Maximilan Mendel führte als Oberst an der italienischen Front eine Brigade von Gebirgsjägern, er wurde geadelt (Maximilan Mendel von Burghart) und 1917 zum Generalmajor befördert; Carl Schwarz aus Prag ging kurz vor dem Ersten Weltkrieg als Generalmajor in Pension; Tobias Österreicher, Sohn eines mährischen Kaufmanns, kommandierte in Lissa das Schlachtschiff „Elisabeth“ und rüstete als Konteradmiral ab.
Appelbaum schreibt, dass im Ersten Weltkrieg Juden an allen Fronten dienten, ihre Stellung innerhalb der Armeen war allerdings sehr unterschiedlich. Am selbstverständlichsten behandelten die Italiener ihre jüdischen Kameraden, am meisten diskriminiert wurde in der zaristischen russischen Armee. Bei den Deutschen gab es vor dem Krieg bloß in Bayern einzelne jüdische Offiziere, die Preußen erlaubten Beförderungen erst während des Kriegs. Österreich lag auf dieser Skala näher bei den Italienern, und auch wenn es immer wieder antisemitische Ausfälle gab: Im Großen und Ganzen waren Juden in den kaiserlichen Armeen gut integriert, hatten auch ihre Feldrabbiner und bekamen koscheres Essen. Gekämpft wurde auch an Hohen Feiertagen, etwa am Jom Kippur im italienisch-slowenischen Karst: „Rosenfeld, statt zu beten und zu fasten, musste am heiligen Tag als Artilleriebeobachter dienen. […] Rosenfeld hängte seinen Tallit um, betete und reparierte zerschossene Telefonkabel. Er stand an der Gefechtslinie und betete, beobachtete den Feind und betete, erfüllte seine Pflicht und betete, Granaten explodierten in seiner Nähe, und er betete.“

Peter C. Appelbaum: Habsburg Sons. Jews in the Austro-Hungarian Army 1788–1918. Academic Studies Press 2021, 366 S., € 29,99

Verbindungseinheiten. Juden kam in einer multinationalen Armee eine besondere Rolle zu. Sie hingen an keiner der zahlreichen unterschiedlichen Nationalitäten, von Ruthenen bis Italienern, von Tschechen bis Ungarn oder Kroaten, ihre Loyalität galt Österreich beziehungsweise dem Kaiser direkt. Wegen ihrer Mehrsprachigkeit wurden sie oft als Verbindungsglieder zu anders sprechenden Einheiten eingesetzt. Denn von 1.000 Soldaten sprachen 267 deutsch, 233 ungarisch, 135 tschechisch, 85 polnisch, 81 ukrainisch, 67 kroatisch, 64 rumänisch, 38 slowakisch, 26 slowenisch und 14 italienisch.
Aber auch die jüdischen Soldaten waren alles andere als einheitlich: In den galizischen Regimentern dominierten streng orthodoxe Mannschaften aus den Stetln, die jiddisch sprachen. Bei den jungen Offizieren aus Wien oder Prag handelte es sich zum Gutteil um assimilierte, urbane deutschsprachige Bildungsbürger. Vor dem großen Schnitter wurden sie dann freilich alle gleich. Zwar hatten die österreichischen Juden bei Kriegsausbruch zum Großteil die nationale Euphorie der anderen geteilt, es gab freilich Ausnahmen, etwa den tief skeptischen Franz Kafka. Der Präsident der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde ließ wiederum nach einer Plenarversammlung verlauten, „dass unsere Söhne mit großem Enthusiasmus in den Krieg ziehen“. Sie fielen wie ihre Kameraden anderer Konfessionen in einer desorganisierten, schlecht geführten Armee, unter teils schrecklichen Bedingungen. Sie starben an Kugeln, Schrapnellen, Frost und Krankheiten. Insgesamt fielen im Ersten Weltkrieg zwischen 30.000 und 40.000 jüdische Soldaten.


VORGESCHICHTE UND NACHSPIEL

Die militärische Emanzipation der österreichischen Juden begann mit Josef II. Ein hoher preußischer Beamter und Freimaurer, Christian Konrad Wilhelm von Dohm, verfasste 1781 eine von den Gedanken der Aufklärung getragene Schrift, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Darin argumentierte er für die Öffnung der Armee für Juden, auch wenn das – wegen der unterschiedlichen Feiertage und Speisegesetze – praktische Probleme mit sich brächte. Ab 1788 wurde in Österreich eine Wehrpflicht auch für Juden eingeführt – noch einige Jahre vor dem revolutionären Frankreich. Es begann freilich mit eher einfachen Diensten, etwa als Artillerie-Helfer. Doch schon ein Jahr später wurden erste jüdische Soldaten auf die Thora angelobt und in die Infanterie aufgenommen. Die folgenden Jahrzehnte sahen ein Auf und Ab jüdischer Integration in die Armee, aber bereits in napoleonischen Kriegen und dann wieder in den Schlachten, die Österreich im 19. Jahrhundert verlor, etwa 1859 in Solferino oder 1866 in Königgrätz, starben Juden für den Kaiser. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, dem Zerfall des Reichs und der vorläufigen Abrüstung gab es für Karrieresoldaten kaum Möglichkeiten. Einer der wenigen war Julius Deutsch, der zuerst in der Regierung Renner als Staatssekretär für das neue österreichische Bundesheer verantwortlich war, dann als Obmann den sozialdemokratischen Schutzbund leitete und im Spanischen Bürgerkrieg als General auf Seiten der linken Republik kämpfte.
Er überlebte den Nazi-Terror im Exil in den USA. Der ungarische Offizier Béla Kun (Kohn) hatte in der russischen Gefangenschaft marxistische Theorien kennengelernt und wollte diese nach Kriegsende in Ungarn umsetzen. 133 Tage hielt die Räterepublik, die er maßgeblich leitete und die sich kurzzeitig sogar auf die östliche Slowakei ausdehnte. Dann floh er in die Sowjetunion und wurde auf der Krim mit verantwortlich für Massenexekutionen von mehreren zehntausend Gegnern der Kommunisten, die sich schon ergeben hatten. Kun fiel später selbst den Säuberungen Stalins zum Opfer. Nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 nutzte den ehemaligen jüdischen Soldaten ihre Tapferkeit nichts; sie wurden ebenso Opfer des brutalen Terrors wie jüdische Zivilisten. Sie mussten die ganze Leidensgeschichte mitmachen, von entwürdigenden Reibpartien bis zu Flucht und Exil, Konzentrationslager und Ermordung. Einige Kriegsveteranen schafften es nach Palästina. Unter ihnen war etwa der Artillerieoffizier Sigmund Edler von Friedmann, der nach dem Krieg in Wien den Bund jüdischer Frontsoldaten mit gegründet und später geleitet hatte. Nach seiner Verhaftung 1938 und der Flucht nach Palästina änderte er seinen Namen auf Eitan Avisar. Er wurde stellvertretender Stabschef der Untergrundarmee Haganah, avancierte zum Generalmajor und war im neu gegründeten Staat Israel Vorsitzender des obersten Militärgerichts.

1 KOMMENTAR

  1. Nur zur Erinnerung: das Thema wird/wurde auch in den Büchern von E.A. Schmidl behandelt:

    – Erwin A. Schmidl (1989), Juden in der k. (u.) k. Armee 1788-1918 =: Jews in the Habsburg armed forces (Studia Judaica Austriaca)
    – Erwin A. Schmidl (2014), Habsburgs jüdische Soldaten 1788–1918

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