Die Plakate erinnern weltweit an die Geiseln im Gazastreifen. Angehörige und die Freunde bereisen die Welt, halten Pressekonferenzen und hoffen auf internationale Unterstützung. © Privat

7. Oktober
Frühmorgens um 6:30 Uhr wecken mich die Sirenen in Tel Aviv. Massiver Raketenbeschuss. Was ist los? Der Blick auf die Nachrichten ist beunruhigend. Bewaffnete Männer sind aus Gaza ins Land eingedrungen. Keiner weiß, wie viele. Ihr erstes Ziel: die Ortschaften im Grenzgebiet. Erst habe ich gar nicht auf dem Schirm, dass meine Cousine Yarden sich genau dort befindet.
Gestern erst ist sie mit Mann und Kind aus dem Ausland zurückgekommen und dann gleich über die Feiertage zu den Schwiegereltern in den Kibbuz Be’eri gefahren. Bis vor einem Monat haben sie selbst noch dort gelebt, aber die instabile Sicherheitslage hat sie wegziehen lassen.
Yarden meldet sich per WhatsApp bei ihrem Bruder, der im Großraum Tel Aviv lebt. Sie seien im Schutzraum, schreibt sie, draußen fielen Schüsse. Sie verspricht, jede halbe Stunde ein Update zu schicken. Ihre letzte Nachricht kommt um zehn. Sie bedauert, dass sie nicht den Lieblingsteddy ihrer dreijährigen Tochter Gefen dabei hat.
Im Netz sehe ich Videos der Hamas, die mir den Atem stocken lassen. Exekutionen aus nächster Entfernung. Wir haben keine Ahnung, was mit Yarden und den anderen ist.

8. Oktober
Endlich höre ich Neuigkeiten. Yardens Ehemann Alon meldet sich. Er erzählt, wie die Familie von den Angreifern in ein Auto gezerrt wurde, das zur Grenze nach Gaza fuhr, nur wenige Fahrtminuten vom Kibbuz entfernt. Kurz vor der Grenze haben die Terroristen angehalten, weil dort ein Panzer stand. Allein gelassen mit dem unbewaffneten Fahrer entschieden sich Yarden und Alon, das Risiko einzugehen und um ihr Leben zu rennen. Auf der Flucht begann man auf sie zu schießen, und Yarden übergab das Kind ihrem Mann, weil er schneller laufen kann. Barfuß und im Schlafanzug versteckte er sich mit der Kleinen zwölf Stunden hinter Büschen. Meine Cousine Carmel ist seither verschwunden.
Aber Yardens Schwiegermutter entdecken wir gerade in einem Video auf Instagram, gepostet von der Hamas, sie geht dort in einer Gruppe mit, angetrieben von der Hamas, sieht unverletzt aus.

11. Oktober
Lebt Yarden? Dafür gibt es keine offizielle Bestätigung. Aber wir gehen jetzt davon aus, dass sie verschleppt wurde. Das ist jedenfalls die Schlussfolgerung der Ermittler, die ihre Fußspuren im Sand gefunden haben. Sie war ja auch barfuß. Wir glauben fest, dass sie lebt, und hoffen, dass sie zu ihrem Geburtstag am 22. Oktober wieder bei uns ist. Yarden und ich sind gleich alt. Das hat uns sehr nahegebracht, auch wenn wir sehr verschieden sind. Sie ist ein Tomboy und naturliebend, spielt Fußball, klettert. Sie ist Physiotherapeutin, hat eine sehr ruhige und geduldige Art, kann gut mit alten Menschen umgehen. Ich bin ein Großstadtmensch, eher unsportlich und habe gerade eine Doktorarbeit über feministische Theorien geschrieben. Mein bisheriges Leben ist zum völligen Stillstand gekommen. Ich bin jetzt in Vollzeit mit dem Schicksal von Yarden beschäftigt und deshalb zu meinen Eltern nach Givatayim zurückgezogen.
Mit ihren Geschwistern und ihrem Onkel haben wir hier einen War Room organisiert, versuchen über jeden möglichen Kanal Informationen zu bekommen. Ich bin für die Medienarbeit zuständig, werde auch ins Ausland reisen. Yarden hat auch einen deutschen Pass, vielleicht kann ja die Regierung in Berlin irgendwie Einfluss nehmen. Ich bin dankbar, dass ich in einer solchen Zeit etwas tun kann, dass ich Teil dieser Bemühungen bin.
Furchtbare Nachrichten. Die Hamas hat jetzt auch den zweiten Teil ihres Videos mit der Aufnahme von Yardens Schwiegermutter ins Netz gestellt, da liegt sie auf dem Boden. Erschossen.

Für mich ist alles schon jetzt anders geworden. Ich habe keine Ahnung, ob ich einfach so in mein früheres
Leben zurückkehren kann.

12. Oktober
Es gibt jetzt ein Kriegskabinett. Die Hamas feuert weiterhin täglich Raketen. Seit Tagen beschießen auch wir Ziele im Gazastreifen. Ich habe in den letzten Monaten oft gegen die Regierung protestiert, aber jetzt muss ich dieser kleinen Truppe und vor allem unserer Armee vertrauen. Ich mache mir dennoch Sorgen, dass die geplante Bodenoffensive die Geiseln gefährden könnte.
Einer von Yardens Brüdern war heute in Be’eri. Der ganze Weg dorthin ist voll mit zerstörten Autos, überall Leichengeruch. Ich möchte da lieber nicht hinfahren, versuche noch immer, das ganze Ausmaß des Grauens überhaupt erst zu erfassen.

20. Oktober
Zwei Geiseln sind heute freigekommen. Das macht Hoffnung. Aber ich denke natürlich auch an den israelischen Soldaten Gilat Shalit, der am Ende sechs Jahre in den Händen der Hamas war. Jetzt ist die Situation anders, es geht um Zivilisten, viele Frauen, Babys, Kinder. Ich versuche, mich hier von Tag zu Tag durchzuhangeln. Es ist gut, dass ich aktiv bleiben kann, um Hilfe für Yarden und die vielen anderen Geiseln zu bekommen. Denn sonst kann man manchmal fast nicht mehr atmen.

Maya Roman kämpft 54 Tage um die Rückkehr ihrer Cousine Yarden, die im Gazastreifen als Geisel festgehalten wurde. © Privat

22. Oktober
Yarden hat heute Geburtstag. Und sie ist immer noch dort. Ich versuche, mir nicht zu oft konkret vorzustellen, was sie gerade durchmacht. Das schaffe ich emotional nicht. Ich weiß nur, dass sie eine starke Person ist, dass sie das durchstehen wird. Vor allem aber ist sie die Mutter von Gefen, die jetzt hier bei uns lebt. Die Dreijährige weiß, was passiert ist. Sie war ja dabei. Sie weiß auch, dass wir alle nach ihrer Mama suchen. Bei einem Spiel sagte sie mir, die Puppe versteckt sich im Schloss, weil draußen böse Menschen sind. Und dann versteckt sie sich selbst unter dem Tisch. Wenn es klingelt, will nur sie die Tür öffnen, aber dann schaut sie nicht hin, wer da kommt. Wahrscheinlich, um nicht enttäuscht zu werden, wenn es dann doch nicht Yarden ist.

28. Oktober
Ich bin gerade in den USA gelandet, checke meine Mails und erfahre mit Schrecken, dass Shani Louk tot ist. Sie ist die junge Frau auf den schrecklichen Videos, die durch die Welt gingen und zeigten, wie sie entkleidet von den Hamas-Terroristen als eine Art Trophäe abtransportiert wurde. Die Angehörigen der anderen Geiseln sind für mich inzwischen wie eine große Familie geworden. Ich war viel mit Shanis Mutter unterwegs, ihre Tochter hatte ja auch einen deutschen Pass. Es ist so schrecklich, wenn Eltern wie sie, die für ihre Kinder so intensiv gekämpft haben, feststellen müssen, dass diese die ganze Zeit schon tot waren. Ich fände es gut, wenn internationale Organisationen es schafften, wenigstens herauszufinden, wer überhaupt noch am Leben ist. Die ganze Situation ist so wahnsinnig.
Ich werde auf meiner Reise auch die Schauspielerin Julianna Margulies treffen. Yarden fände das bestimmt toll, denn sie mochte die Serie The Good Wife genauso wie ich sehr gerne.

29. Oktober
Israel hat mit der Bodenoffensive begonnen. Die Geiselfamilien sind in Sorge und wütend über die Regierung, die in Pressekonferenzen die Befreiung der Geiseln nicht als erstes Ziel erwähnt.

9. November
Bin jetzt zum zweiten Mal schon in Berlin. Ich war gerade bei einer Zeremonie zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht in der Zentralen Synagoge. Es ist sehr seltsam, hier zu sein, und um Hilfe zu bitten in jenem Land, aus dem unsere damals 17-jährige Großmutter, die aus Fürth stammt, genau am Tag nach der Kristallnacht 1938 geflüchtet ist. Sie kam hierher, um ein sicheres Land für ihre Kinder zu gründen, und ihre Enkeltochter musste nun um ihr Leben rennen.

11. November
Angehörige und Freunde sind heute zusammengekommen, um barfuß bei einer Demonstration an Yarden zu erinnern. Wir Geiselfamilien treten jetzt nicht mehr so nett auf. Jeder Tag, der vergeht, ist schwerer auszuhalten. Ich habe aber auch das Gefühl, dass es eine Wende im Land gibt: Es kommen immer mehr Menschen zum sogenannten GeiselPlatz vor dem Tel Aviver Kunstmuseum.

16. November
Alon erzählt in seiner Rede auf dem Geisel-Platz, wie sehr Gefen jetzt Superhelden mag, vor allem solche, die schnell laufen, denn sie hätten Mama retten können. Ich habe den Platz noch sie so voll gesehen.

Jeder Tag, der vergeht, ist schwerer auszuhalten. Ich habe aber auch das Gefühl, dass es eine Wende
 im Land gibt.

20. November
Es gibt einen ersten Deal. Yardens Brüder haben sich mit Vertretern des Kriegskabinetts getroffen. Sie kamen mit dem Gefühl zurück, dass die Prioritäten stimmen. Wir wissen jetzt auch, dass militärischer Druck entscheidend war, um die Hamas an den Verhandlungstisch zu bringen. Deshalb glaube ich, dass wir mit dem Krieg nicht aufhören sollten, solange nicht alle Geiseln zurück sind.
Was tatsächlich hinter der Kulissen passiert, ist so anders, als was man in den Medien liest. Wenn einem etwa klar wird, wie sehr die Hamas gezielt Verwirrung gestreut hat, durch angebliche Angebote, die es gar nicht gab, um unsere Gesellschaft zu entzweien.

23. November
Ab morgen vier Tage lang Waffenruhe, und jeden Tag sollen Geiseln freikommen. Insgesamt fünfzig. Man weiß aber immer nur am Vortag, wer als nächstes dran ist. Auch das gehört zum perfiden Spiel der Hamas. Wie alle Geiselfamilie haben wir gerade einen Anruf bekommen, Yardens Name steht nicht auf der Liste. Wir wissen, dass ihre Chancen nicht groß sind, bei dieser Runde mit dabei zu sein. Sie gehört nicht zu den betagten Frauen, die festgehalten werden, und sie hat auch nicht ihr Kind dabei. Aber trotzdem wird es jedes Mal ein Fünkchen Hoffnung geben.

24. November
Die ersten dreizehn Geiseln sind frei. Das macht uns glücklich. Abends um zehn Uhr bekommt Israel die Liste für morgen. Yarden ist nicht drauf.

25. November
Heute ist der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen – ein Aktionstag zur Bekämpfung von Diskriminierung und Gewalt jeder Form gegenüber Frauen und Mädchen. Aber Frauen wie Yarden interessieren in diesem Kontext offenbar nicht. Ich selbst leite eine feministische NGO und bin sehr enttäuschend, was da passiert.
Wir in unserer Familie sind alles Leute, die an Frieden glauben. Man muss nicht alles unterstützen, was Israel tut, auch ich tue das nicht, aber das Schweigen in dem progressiven Milieu, in dem man es nicht schafft, die Hamas für ihre unglaubliche Gewalttätigkeiten zu verurteilen, ist herzzerbrechend. Denn wenn wir von irgendjemand hier in Israel erwarten, an Frieden zu denken, dann können wir nicht an Frieden denken mit der Hamas.
Yarden steht wieder nicht auf der Liste.

26. November
Manchmal denke ich an den Moment des Wiedersehens mit Yarden. Ich weiß nicht, in welchen Zustand sie sein wird. Einer ihrer Brüder sagt, sie wird zurückkommen, und das war’s dann. Ich weiß nicht, ob das so sein kann. Für mich ist alles schon jetzt anders geworden. Ich habe keine Ahnung, ob ich einfach so in mein früheres Leben zurückkehren kann. Die Liste der Geiseln, die am morgigen Sonntag freikommen sollen, steht. Yardens Name ist wieder nicht drauf.

27. November
Der Deal soll jetzt noch um ein paar Tage verlängert wurde, um noch mehr Geiseln herauszubekommen. Das macht uns Hoffnung. Auch für morgen gibt es jetzt eine Liste. Ohne Yarden. 28. November Weitere acht Israelinnen und zwei Thailänder kommen frei. Man bringt sie zunächst ins Krankenhaus nach Tel Aviv, wo die Familien warten. Im Fernsehen wird live übertragen, wie die Geiseln in Gaza dem Roten Kreuz übergeben werden. Keiner der Angehörigen aber atmet auf, bis sie nicht wirklich auf israelischem Boden sind.
Es gibt gute Nachrichten. Endlich. Sich bloß nicht zu früh freuen.

54 Tage im Gefangenschaft: Nach Wochen des Wartens, der Angst und der Hoffnung sind Yarden, ihr Mann Alon und die gemeinsame Tochter wieder vereint. © Privat

29. November
Yarden kam heute vor Mitternacht nach langer Verzögerung, die uns wie eine Ewigkeit schien, frei. Morgens um vier konnte sie endlich die kleine Gefen in ihre Arme schließen. Wir können es kaum fassen vor Glück.

30. November
Das Bild mit der lächelnden Gefen ist überall. Yarden ist ok, soweit man das sagen kann. Wir erfahren, dass sie wochenlang nicht gewusst hat, ob ihr Mann und ihre Tochter überhaupt noch am Leben sind. In einem der seltenen Momente, in denen sie Radio hören durfte, erfuhr sie, dass ein Lied für ihre ermordete Schwiegermutter geschrieben worden war. Weil von keinen anderen Toten die Rede war, ging sie davon aus, dass Alon und Gefen noch lebten.
Heute Abend sind noch einmal Israelis freigekommen. Aber nicht Alons Schwester Carmel, sie ist eine der 137 Geiseln, die weiterhin in Gaza festgehalten werden.

1. Dezember
Morgens um fünf Uhr hat die Hamas die Waffenruhe gebrochen, auch waren auf ihrer Liste für heute, anders als abgemacht, viele Tote, keine lebenden Israelis. Ab jetzt ist wieder Krieg.

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