„Dass man Menschen von der Falschheit ihrer Weltsicht überzeugt, gelingt selten“

Wenn es zu kriegerischen Handlungen zwischen Gaza und Israel kommt, tobt auch im Netz der Antisemitismus. Vor allem Social Media befördern dann jede Menge Hass, hier wird heute die Kampagne der Hamas im Schneeballsystem in die Welt befördert. Das wiederum führt zu Judenfeindlichkeit auch im realen Leben. Digitalexpertin Ingrid Brodnig erklärt, wie Social Media oft funktionieren und wie man dennoch versuchen kann, der Online-Propaganda der Hamas etwas entgegenzusetzen.

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Ingrid Brodnig rät, kritische, verletzende oder auch aufhetzende Posts immer zu melden, um Unrecht aufzuzeigen. © Gianmaria Gava

WINA: Der 7. Oktober 2023 ist eine Zäsur: Da ist einerseits dieses massive Massaker der Hamas, bei dem mehr als 1.400 Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Israel ermordet wurden. Da hat die Hamas aber andererseits auch das Netz mit Videos dieser von ihr verübten Gräueltaten geflutet. Was ist die Strategie dahinter?
Ingrid Brodnig: Wir erleben schon seit ein paar Jahren, dass Terrororganisationen Social Media nutzen, um den Terror noch präsenter zu machen, um Angst und Schrecken bei ihren Feinden auszulösen und ihre Feinde zu erniedrigen. Dieses Material der Hamas dient also dazu, Juden und Jüdinnen zu erniedrigen. Gleichzeitig versucht die Hamas, mit Aufnahmen vor allem getöteter palästinensischer Kinder Sympathie auszulösen. Eigentlich ist das ein eklatanter Widerspruch, einerseits online Terror zu säen, die eigenen Gräueltaten stolz vorzuführen und gleichzeitig ziviles Leid zu beklagen. Das Grässliche ist, dass, egal wo man auf dieser Welt lebt, man ein bisschen Spielball dieser Medienstrategie ist, bei der es einerseits darum geht, Menschen Angst einzujagen und gleichzeitig Sympathie auszulösen. Das Krasse ist, dass diese Strategie der Hamas ziemlich gut funktioniert.

Warum funktioniert das?
I Diese Bilder voller Gewalt passen leider sehr gut zur Logik der Social-Media-Unternehmen. Inhalte, die emotionalisieren, die zum Beispiel Wut oder Angst auslösen, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit für Viralität – solche Beiträge werden also zum Beispiel eher weitergeleitet. Und je nachdem, wie der Algorithmus eines sozialen Mediums gebaut ist, können zum Beispiel die Verweildauer bei einem Video oder auch das Kommentieren und Teilen Faktoren sein, dass dieses Video mehr Leuten eingeblendet wird. Das führt zu dem Problem, das Terrororganisationen, die mit sehr grafischem Material arbeiten, so spektakuläre und auch erschütternde Bilder liefern, dass Menschen diese Videos länger ansehen, sie vielleicht auch weiterleiten, weil sie darüber sprechen möchten, was wiederum als Signal gewertet werden kann, dass das wichtig ist. Hinzu kommt, dass es uns Menschen schwerfallen kann, bei schrecklichen Bildern wegzuschauen. Und es scheint so zu sein, dass manche Algorithmen so funktionieren, dass man dann noch mehr solches Material eingeblendet bekommt.

Social-Media-Plattformen werden vor allem von Kindern und Jugendlichen stark genutzt. Für alle Menschen, aber besonders für Kinder kann es traumatisch sein, Aufnahmen von Morden zu sehen. Welche Social-Media-Kanäle sind hier besonders gefährlich?
I Leider kann man derzeit auf jeder Plattform sehr viel Antisemitismus und vielen Gewaltvideos begegnen. Allerdings gibt es Plattformen, die besonders negativ hervorstechen, das sind X und TikTok. TikTok ist deshalb so problematisch, weil ein extrem junges Publikum erreicht wird und dort sehr viele schockierende Bilder verbreitet werden, die oft verletzte oder getötete Kinder zeigen. Kinder und Jugendliche verbringen sehr viel Zeit auf TikTok, und die Gefahr ist, dass sie dann dort so etwas eingeblendet bekommen. Außerdem gibt es da auch das Autoplay-Problem – ein Video beginnt sich von selbst abzuspielen, und ich kann es nicht ausschalten.

„Grundsätzlich empfiehlt es sich, dass Eltern sich gemeinsam
mit ihren Kindern die
Privatsphäreeinstellungen
ihrer Social-Media-Kanäle
genau ansehen.“

 

X (vormals Twitter) ist hier vor allem problematisch, weil es die Verifizierung aufgehoben hat. Früher konnte man zum Beispiel den Hashtag Israel eingeben, und schnell fand man Accounts mit blauem Haken, die zum Beispiel verifizierte Seiten von Journalisten oder Abgeordneten aus der Region waren. Und dann konnte ich rasch erkennen, ah, das ist ein Kriegsreporter, der von dort und dort berichtet. Inzwischen kann man diesen blauen Haken kaufen, und solche Accounts verbreiten zum Teil auch Falschmeldungen. Twitter war früher ein nützliches Tool, in einer kritischen Phase schnell verifizierte Kanäle zu finden. Dieser Nutzen ist nun weg, und das in eine der schlimmsten Phasen, die wir generell erleben. Die momentane Situation nach den Ereignissen vom 7. Oktober ist schrecklich, aber Social Media intensivieren das noch einmal.

Wie können Eltern hier reagieren?
I Wenn man weiß, dass gerade eine Phase ist, in der sehr viele Hasskommentare und sehr viel grafisches Material verbreitet werden, empfehle ich, sich prophylaktisch mit dem Kind oder Jugendlichen hinzusetzen und zunächst allgemein über die Weltsituation zu reden – und auch die Settings der Plattform zu kontrollieren. Zum Beispiel kann man auf TikTok gewisse Begriffe sperren, sodass Videos mit dem jeweiligen Wort nicht im Feed landen Das kann man tatsächlich abfangen. Zusätzlich geht es darum, das, was auf Social Media gepostet wird, einzuordnen und zu erklären und zu betonen, dass soziale Medien das Schlimmste in der Welt nochmals sichtbarer machen und dass man in solchen Phasen damit rechnen muss, dass besonders grauenvolle Bilder kursieren. Und dann muss man auch überlegen, ob man in so einer Phase nicht auf manche Kanäle für eine gewisse Zeit ganz verzichtet. Das wollen Jugendliche allerdings oft nicht, weil ihr Leben so stark auf Social Media stattfindet.

Die Bedeutung dessen, was Schulen leisten könnten, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Was jedoch fehlt, sind einheitliche Qualitätsstandards und kontinuierliche Begleitung. © Gianmaria Gava

Dabei kann es dann auch zu antisemitischen Beschimpfungen von jüdischen Kindern und Jugendlichen kommen. Wie können Eltern hier ihren Kindern helfen?
I Wichtig finde ich, solche Dinge zu melden. Wir brauchen das, damit das Thema auch ernst genommen wird. Dieses Unrecht muss aufgezeigt und dokumentiert werden. Das Wichtigste ist aber, dass Kinder und Jugendliche damit nicht allein bleiben und sich mit Vertrauenspersonen – etwa der Familie – austauschen können, die ihnen den Rücken stärken. Ich kenne selbst Erwachsene, an denen es nagt, wenn sie beleidigt werden. Darum ist Solidarität von anderen wichtig. Es gibt aber dann auch den Punkt, wo man von diesen Angriffen Abstand nehmen muss. Die Gefahr ist, dass Menschen, die im Netz schwere Beleidigungen erleben, sich das immer und immer wieder durchlesen, weil es sie so kümmert. So bekommen sie aber keinen Abstand. In solchen Fällen ist es zum Beispiel eine Idee, dass die eigenen Eltern oder eine gute Schulfreundin oder ein Freund, denen ich vertraue, eine Woche meine Seite betreut. Diese können dann auch Screenshots von neuen beleidigenden Inhalten an eine Meldestelle weiterleiten oder juristische Schritte einleiten, sodass die betroffene Person freigespielt wird. Dieses auch gedankliche Freispielen ist wichtig, damit man gedanklich nicht mehr nur an diesem Antisemitismus festhängt. Damit schränkt man auch die Macht ein, die diese Hater über einen haben. Und grundsätzlich empfiehlt es sich, dass Eltern sich gemeinsam mit ihren Kindern die Privatsphäreeinstellungen ihrer Social-Media-Kanäle genau ansehen. Diese sollten möglichst wenige private Informationen für Dritte zugänglich machen. Also manches kann man auch mit den technischen Settings abfangen.

„Es geht also darum, Menschen zu erreichen, die noch offen für
Informationen sind. Ich rate aber davon ab, Diskussionen
gewinnen zu wollen. Mehr erreicht man, wenn man möglichst
oft richtige und leicht verständliche Information hinterlässt.“

 

Wie groß ist andererseits die Gefahr, dass Jugendliche von Inhalten auf Social Media so radikalisiert werden, dass sie in Rage geraten und dann zum Beispiel tatsächlich tätliche Angriffe begehen?
I Es gibt dazu keine genauen Zahlen. Man kann also nicht sagen, wie die prozentuale Wahrscheinlichkeit ist, dass die physische Gewalt steigt, wenn die Anzahl von Hasskommentaren und Gräuelvideos steigt. Anekdotisch sehen wir aber immer wieder, dass durch aggressiv geführte Debatten Einzelne zur Tat schreiten. Ein Beispiel dafür ist das Attentat in Halle im Jahr 2019. Es gibt dann eben immer wieder Menschen, die hier einen übermächtigen Feind sehen, gegen den man sich wehren muss, und extreme Gewalt dabei als adäquates Mittel sehen. Und da macht mir derzeit die Darstellung von Israel als übermächtig Sorge.

Sind Einrichtungen wie Schulen ausreichend darauf vorbereitet, hier ausgleichend zu wirken?
I Ich bekomme viele Nachrichten von Lehrern und Lehrerinnen, die mich fragen, ob ich in ihre Schule kommen kann, oder nach Materialien fragen. Sie sind einerseits engagiert, fühlen sich andererseits aber auch überfordert. Und das ist ein schlechtes Signal. Wenn sich Lehrkräfte überfordert fühlen, besteht bei manchen die Gefahr, dass sie das Thema vermeiden. Und es gibt auch Schulen, an denen allen bewusst ist, dass es ein riesiges Thema ist, wo aber Lehrpersonen Angst haben, dass sie nicht tief genug informiert darüber sprechen können und dann lieber gar nicht darüber reden. Dann gibt es wieder Schulen, wo sehr viel gemacht wird. Das Problem, das ich sehe, ist, dass es hier keine einheitliche Qualitätssicherung gibt – im Umgang mit akuten Krisensituationen generell und im Umgang mit Antisemitismus und Aufklärung über Antisemitismus im Speziellen. Ein reflektierter Umgang mit Social Media wäre gerade in Krisenzeiten aber wichtig. Und da käme der Schule eine wichtige Rolle zu.

Social Media sind in Phasen wie jener nach dem Massaker vom 7. Oktober auch Kampfplätze, die dann aber eben auch Auswirkungen auf die reale Welt haben. Der Antisemitismus im Netz wird zu Antisemitismus auf der Straße. In solchen Zeiten scheinen dann alle Bemühungen, wie sie etwa in der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus verankert wurden, vergeblich. Warum ist das so?
I Der Antisemitismus war für einen Teil der Bevölkerung unsichtbar, aber er war da. Leute, die sich nicht gezielt damit befassen, können das lange ausblenden. Aber Krisen führen das wieder zutage, da sind dann alle antisemitischen Verschwörungsmythen wieder da. Ich würde auch empfehlen, nicht so stark eine gedankliche Grenze zwischen online und offline zu ziehen: Was wir online erleben, welche Mythen wir dort hören, das wirkt sich auch auf die generelle Weltsicht von Menschen aus. Deshalb gibt es diese Gefahr, dass sich dann ein Teil des Online-Antisemitismus auf der Straße entlädt, sei es mit Transparenten, sei es mit Gewalt. Darüber hinaus gibt es auch in unserer Gesellschaft unterschiedliche Gruppen von Menschen, die ein Interesse daran haben, Antisemitismus am Leben zu halten, und für sie ist so eine Phase wie jetzt eine gute Gelegenheit.

Viele Juden und Jüdinnen sagen dann: Wir wollen da auch im Netz etwas dagegenhalten. Was ist dabei zu beachten?
I Zunächst: Jeder und jede muss für sich selbst entscheiden, ob man sich das antun will. Wenn man online diskutiert, sollte man seine Erwartungshaltung jedenfalls herunterschrauben. Dass man Menschen von der Falschheit ihrer Weltsicht überzeugt, gelingt selten. Was könnte man also Sinnvolles machen? Ein realistisches Ziel kann sein, Menschen, die hin- und hergerissen sind, zu adressieren, etwa indem man, wenn eine antisemitische Falschmeldung verbreitet wird, darauf hinweist, dass es sich um eine Falschmeldung handelt. Das kann man tun, indem man einen Link zu einer Faktencheck-Seite darunter postet. Es geht also darum, Menschen zu erreichen, die noch offen für Informationen sind. Ich rate aber davon ab, Diskussionen gewinnen zu wollen. Mehr erreicht man, wenn man möglichst oft richtige und leicht verständliche Information hinterlässt.

Welche Seiten und Quellen können Sie hier empfehlen?
I Ich finde zum Beispiel die Unterlagen der Amadeu-Antonio-Stiftung in Deutschland sehr hilfreich. Wichtig ist aber auch, immer wieder auf Zahlen hinzuweisen, etwa von Meldestellen, die Statistiken veröffentlichen, wie viele antisemitische Vorfälle es in einem bestimmten Zeitraum gab. Damit kann man das Problem nicht mehr so leicht wegwischen. Und oft erreicht man Menschen auf einer visuellen Ebene, also mit einer Grafik, eher als mit einem Textkommentar. Sehr gut ist auch die Faktencheck-Seite der AFP.


INGRID BRODNIG, geb. 1984 in Graz, ist Journalistin und Publizistin und arbeitete zunächst für den Falter, später als Redakteurin für Medien- und Digitalthemen für das Magazin profil. Seit 2017 ist sie als Digitalexpertin selbstständig tätig und publiziert zum Thema. Eines ihrer Kernthemen ist dabei Hass im Netz. Sie ist zudem digitale Botschafterin Österreichs in der EU.

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