Vier Herren sind auf einer Fotografie zu sehen, offensichtlich ein Streichquartett. Die beiden Geiger sind in die am Tisch liegende Partitur vertieft, der Bratschist blickt direkt in die Kamera, der Cellist spielt auf seinem Instrument einen Ton an. Die Fotografie ist der Abzug eines von rund 25.000 Glasnegativen des Fotoateliers Setzer-Tschiedel. Die Negativplatten haben die Jahrzehnte, einzeln in Papierhüllen verpackt, überlebt, die erhaltenen Abzüge liegen sortiert in Kartonschachteln. Sogenannte Indexund Plattenbücher geben Auskunft über die Abgebildeten, hier sind die Nummer der Platte, der Nachname und weitere Informationen wir „Brustbild“ oder „stehend mit Hut und Stock“ vermerkt. Im Fall der vier Herren ist zu lesen: „Buxbaum Quartett“.
Wolfgang Tschiedel, der das Fotoatelier mitsamt Interieur von seiner Großtante geerbt hat, machte es sich gemeinsam mit seinem Sohn Michael und einem Team von Wissenschaftler:innen zur Aufgabe, den Menschen, die hier fotografiert wurden, ihre Geschichte wiederzugeben. Bei den großen Namen wie Schnitzler, Zweig, Thimig, Reinhardt oder Strauss ist das nicht besonders schwierig – es sind die Prominenten aus der zweiten Reihe (heute würde man sagen, die B-Promis), die im Fokus des Projektes Wer Wien prägte stehen. Und hier sind wiederum die vielen jüdischen Personen interessant, die dem Wiener Bürgertum in der Zwischenkriegszeit ihren Stempel aufdrückten. Ob als Kaufleute, Wissenschaftler:innen oder Künstler:innen – diese Menschen verhalfen Wien zu internationalem Ansehen.
INFO:
Ö1 sendet Ende März 2023 in der Reihe Dimensionen
einen halbstündigen Beitrag zu diesem Projekt. Und das
Team von Wer Wien prägte bittet um Ihre Mithilfe: Auf
der Website wer-wien-praegte.at kann die Namensliste
eingesehen und Kontakt zu den ForscherInnen
aufgenommen werden.
Das Fotoatelier bestand von 1909 bis 1979, zunächst geführt von Franz Xaver Setzer. Im Dachgeschoß des „Weghuberhauses“ in der Museumstraße hinter dem Wiener Volkstheater entstanden pro Jahr durchschnittlich 650 Platten. Ab dem Jahr 1920 arbeitete Marie Karoline Tschiedel – die oben genannte Großtante – als Assistentin Setzers und avancierte schließlich zur technischen Leiterin des Ateliers. Nach Setzers Tod führte Marie Karoline Tschiedel die Geschäfte weiter, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges übersiedelte das Atelier von nordseitigen Räumlichkeiten in südseitige, dorthin, wo bis Anfang der 1920er-Jahre eine der ersten Wiener Filmproduktionsfirmen, die „Wiener Kunstfilm“, residierte. Diese Atelierräume mit ihren großflächigen schrägen Dachflächenfenstern sind erhalten geblieben und dienen heute immer wieder als Ausstellungsfläche. Warum die Fotoproduktion in die anderen Räume übersiedelt ist – die Südseite würde sich ja besser als Maler- denn als Fotoatelier eignen – weiß Eigentümer Wolfgang Tschiedel nicht. Im Nachhinein gesehen war es allerdings ein Glücksfall, denn jener Teil des Dachgeschoßes, wo das Atelier zuerst untergebracht war, wurde im Zweiten Weltkrieg durch einen Bombentreffer stark beschädigt: „Wären die Glasplatten zu diesem Zeitpunkt dort gewesen, wären sie alle zerstört worden“, erzählt Wolfgang Tschiedel.
Zurück zum Buxbaum Quartett. Ausgehend von der Information im Plattenbuch begann das Projektteam mit der Recherche nach den Lebenswegen der vier abgebildeten Männer. Schnell war der Cellist identifiziert, es ist Friedrich Buxbaum. Bei den anderen drei Männern war nicht so rasch klar, um wen es sich handelte. Denn Friedrich Buxbaum spielte neben seinem Engagement bei den Wiener Philharmonikern in mehreren anderen kleineren Formationen – es musste also jemand gefunden werden, der diese Musiker erkennen könnte. Vielleicht waren sie ja auch Philharmoniker, so wie Buxbaum? Mit Hilfe einer Archivarin des berühmten Orchesters gelang tatsächlich die Zuordnung: Die Herren heißen Ernst Morawec, Franz Mairecker und Max Starkmann.
Zahlreiche Personen wurden von Franz Xaver Setzer im Lauf ihres Lebens mehrfach fotografiert, als Kind, Jugendliche und im Erwachsenenalter. Das sei extrem faszinierend, meint Wolfgang Tschiedel, weil man sich die persönliche Entwicklung dieser Personen genauso wie den gesellschaftlichen Wandel wie mit einem Zeitraffer ansehen könne. In den ersten Jahren, also bis 1918, war die Gesellschaft noch von der
Monarchie geprägt, das sehe man an den Fotografien von uniformierten und hochdekorierten Personen, erklärt Wolfgang Tschiedel. Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich der Kundenstock, immer mehr Künstler:innen wurden porträtiert. Außerdem siedelten sich in dieser Zeit viele Menschen aus den ehemaligen Kronländern in Wien an, Kaufleute und Industrielle, ein großer Teil von ihnen jüdisch. „1939 ist die nächste Zäsur in der Gesellschaft“, sagt Wolfgang Tschiedel, denn da finden sich erstmals Fotografien mit Personen in Hakenkreuzuniformen.
So einfach wie im Fall des Streichquartetts ist die Identifizierung der fotografierten Personen in den wenigsten Fällen. Die größte Schwierigkeit, der sich das Forscherteam des Projektes Wer Wien prägte ständig stellen muss, ist Folgende: In den Indexes fehlen fast immer die Vornamen. Das Fotoatelier Setzer hatte sich bereits rasch nach seiner Gründung einen Namen gemacht und bediente ein ähnliches Klientel wie das berühmte Atelier der Madame d’Ora (eigentlich Dora Philippine Kallmus) in der Wipplingerstraße in der Wiener Innenstadt. Familien aus dem (Groß-)Bürgertum ließen sich gerne ablichten, beim Setzer waren es sehr oft Ehefrauen, Kinder und sogar Dienstboten dieser Familien. Ein Hinzufügen der Vornamen war offenbar nicht notwendig, die fertigen Abzüge wurden ja rasch nach dem Aufnahmetermin an die entsprechende Familie ausgehändigt. In den Plattenbüchern gibt es zwar Hinweise wie „Fräulein“, „Braut“, „Buberl“, „Oberleutnant“ – dennoch ist eine Abklärung extrem schwierig. Die Namensliste der Porträtierten umfasst rund 4.500 Namen.
Wann wurde das Bild vermutlich aufgenommen?
Wie alt könnte die Person sein, die fotografiert wurde?
Und hier beginnt für die Forscher:innen die Detektivarbeit. Wann wurde das Bild vermutlich aufgenommen? Wie alt könnte die Person sein, die fotografiert wurde? Ergibt eine Recherche in den einschlägigen Genealogiedatenbanken etwas Weiterführendes? Können durch den Abgleich von Platteninformation mit dem tatsächlichen Bild Hinweise entdeckt werden, die für eine Identifizierung ausreichen? Zahlreiche Beispiele zeigen, wie verworren die Lebenswege der Menschen sind und wie viele Zufälle es braucht, um den Geschichten auf die Spur zu kommen. Fräulein Born, zum Beispiel. Sie taucht im Plattenbuch zweimal auf, einmal als „Frl.“, einmal „m[it] Bräutigam“. Gibt man nun „Fräulein Born“ in Google ein, erhält man – wenig überraschend – ein unbefriedigendes Ergebnis. Da aber viele der von Franz Xaver Setzer fotografierten Personen zumindest halbwegs prominent waren, lohnt ein Vergleich mit zeitgenössischen Zeitschriften, etwa dem Wiener Salonblatt. Tatsächlich, Setzers Bild wurde dort abgedruckt, der Vorname der Staatsopernsängerin lautet Claire. Weitere Nachforschungen führten zum Bräutigam, es handelt sich um den Bankier Richard Kronstein, der in den 1920ern wegen „Devisenverschiebung“ verhaftet wurde. Die in Deutschland geborene jüdische Claire Born flüchtete 1938 vor den Nationalsozialisten über die Schweiz nach London.
Dies ist eine Geschichte von vielen, die sich in den Schränken und Schachteln des Fotoateliers Setzer-Tschiedel verbergen. Derzeit ist auf der Projekt-Website nur die Namensliste online einsehbar, es sei aber geplant, so bald wie möglich auch das digitalisierte Fotomaterial der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, sagt Wolfgang Tschiedels Sohn, der Projektleiter Michael Tschiedel. Für ihn, der in einem technischen Beruf arbeitet, ist vor allem auch der technische Aspekt des ganzen Projektes spannend. Die Glasplatten bestechen durch extrem hochwertige Qualität, trotz der längeren Belichtungszeit, während der die Porträtierten stillsitzen mussten. Als schmerzhaft empfindet es Michael Tschiedel, dass viele von den Menschen, deren Gesichter ihm während der Digitalisierung vertraut wurden, schlussendlich vertrieben oder ermordet wurden: „Was man in der Schule gehört hat, das erlebt man hier“, und Michael Tschiedel meint abschließend: „Gut und Böse liegen nah beieinander, das Blatt kann sich von heute auf morgen ändern.“
Welche Geschichten stecken nun hinter den vier Namen der im Plattenbuch als Buxbaum Quartett abgebildeten vier Herren? Die Musik hat sie geeint, alle vier waren Mitglieder der Wiener Philharmoniker. Doch die Schicksale der Männer könnten unterschiedlicher nicht sein. Erster Geiger Franz Mairecker war bis 1945 Konzertmeister. Er war Mitglied der NSDAP und starb 1950. Zweiter Geiger Max Starkmann war Jude und wurde gemeinsam mit seiner Frau Elsa Anfang Oktober 1942 ins Konzentrationslager Maly Trostinec deportiert und dort ermordet. Bratschist Ernst Morawec war mit einer jüdischen Frau verheiratet, er konnte dank einer Sondergenehmigung im Orchester verbleiben und starb 1980. Und der jüdische Cellist Friedrich Buxbaum, dessen Name die Spurensuche erst möglich gemacht hatte, emigrierte nach London, wo er 1948 starb.
This subject absolutely fascinates me. I too, have come upon something by accident and of significant relevance. A photo showing an orchestra seated on the Vienna Konzerthaus stage with Maestro Richard Strauss on the podium. My story has taken me to Austria and connected me to new friends and scholars. Just recently, I had my discovered and researched photo published by author, Michael Haas in his book, Music of Exiles.