Sederabende mit Heinrich Heine

Als der „Der Rabbi von Bacherach“ bei uns daheim zu Gast war.

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Heinrich Heine war so etwas wie der literarische Hausg-tt in vielen bildungsbürgerlichen jüdischen Familien. © akg-images / picturedesk.com; 123RF

Gäste, bekannte, aber auch kaum bekannte, am Sedertisch willkommen zu heißen, Menschen, die keine Familie haben, Reisende und natürlich auch Flüchtlinge einzuladen, ist seit jeher Brauch und eine Mitzwa, sprich eine gute Tat. Heißt es doch: „Jeder, der hungrig ist, komme und esse! Jeder, der in Not, komme und feiere mit uns das Pessachfest!“
Waren wir an dieser Stelle der Haggada angelangt, trat in meinem Elternhaus immer ein ganz besonderer Gast unsichtbar auf: der Rabbi von Bacherach. Denn alljährlich erzählte mein Vater, der den Seder nicht nur routiniert leitete, sondern über die Texte der Haggada hinaus mit zahlreichen Episoden zu würzen pflegte, Heinrich Heines Geschichte aus dunkler Vorzeit nach. Und wir Kinder warteten darauf mit derselben Angstlust, mit der wir später die Wohnungstür öffneten, um als letzten Gast den Propheten Elijahu einzulassen, für den ein Becher Wein in der Mitte des Tisches bereitstand. In unserer Kindheit waren die Haustore in der Stadt noch nicht verschlossen, sodass theoretisch auch Fremde Zutritt gehabt hätten. Solange also laut gesungen wurde, „Gieße aus deinen Grimm über die Völker […]“, bis es erlösend hieß, „Ihr könnt die Türe wieder schließen!“, solange fürchtete ich mich. Und das eben auch wegen des Rabbis von Bacherach. Heinrich Heine war ja so etwas wie der literarische Hausg-tt in vielen bildungsbürgerlichen jüdischen Familien, und einige seiner Gedichte waren uns schon früh vertraut. „Keine Messe wird man singen, keinen Kadosch wird man sagen“, zitierte mein Vater immer warnend Heines Dilemma als getaufter Jude.

 

„Einst kommt der Tag, wo der Engel des Todes
den Schlächter schlachten wird.“

 

Ritualmord-Legende. In seinem unvollendeten Prosafragment über Rabbi Abraham aus dem idyllischen Städtchen am Rhein spiegeln sich die beiden Seelen des deutschen Juden wie in wenigen anderen seiner Werke. Als Heinrich Heine (1797–1856) vermutlich um 1840 seine Erzählung schrieb, war die Legende vom Ritualmord, dass also Juden das Blut christlicher Kinder für religiöse Zwecke gebrauchen, bereits ebenso uralt wie unausrottbar und offenbar in Europa wieder einmal aufgeflammt. Heine blendet zurück in das späte 15. Jahrhundert, die Lebenszeit des Rabbi, dem wiederum die im Volk fest verankerte Historie vom angeblichen Ritualmord an dem Knaben Werner von Bacherach aus dem Jahr 1287 mitsamt dem anschließend blutigen Pogrom wohl bewusst ist, als sich zwei Männer in weiten, dunklen Gewändern auf die Einladung: „Jeder, der hungrig ist […]“ an die von ihm angeführte Sedertafel setzen. Mit Entsetzen erspürt er mit seinem Fuß plötzlich, dass ihm ein Kinderleichnam untergeschoben wurde, und weiß auf der Stelle, was das für ihn und seine Gemeinde bedeutet. Er erbleicht, fasst sich aber bald, und als das festliche Mahl bevorsteht, ergreift er die Hand seiner schönen Frau Sara und flieht mit ihr in einem Kahn über den nächtlichen Rhein, der die Melodien der „Agade“ zu murmeln scheint, ein schönes Wunschbild der Vereinigung des urdeutschen „Vater Rhein“ mit dem jüdischen Erbe.

 

„Jeder, der hungrig ist, komme und esse!“
Pessach-Haggada

 

Anderntags landet das Paar in Frankfurt und sucht im Ghetto die Synagoge auf, wo der Rabbibeim Feiertagsg-ttesdienst „Gomel benscht“, das heißt das Dankgebet nach Errettung aus Lebensgefahr und anschließend das Kaddisch sagt, das Totengebet für seine in Bacherach verbliebenen Verwandten. Mit einer satirischen Schilderung der reichen Frankfurter Gemeindemitglieder, Juwelen behängten tratschenden Frauen und dem Auftritt eines spanischen Ritters, der sich zwar vom Judentum losgesagt hat, aber nach wie vor die jüdische Küche liebt, bricht das tragische Fragment fast humorvoll jäh ab. So ist es, so war es offenbar immer schon, und wie wunderbar ist all das getroffen! Heines intime Kenntnis der jüdischen Welt, die er wie sein spanischer Ritter verlassen wollte, was ihm aber nie gelang, schlägt sich im Großen und Kleinen nieder, in Atmosphäre und Gesellschaftsbild und nicht zuletzt in den liebevoll geschilderten Details der Seder-Gebräuche, von den rituellen Speisen, den Gebeten und Gesängen. Das Lied Chad gadja, vom „Böcklein“, dessen Tod gerächt wird, eine Metapher für das jüdische Volk, legt er einem Possen reißenden Narren in den Mund, der ernst endet. „Einst kommt der Tag, wo der Engel des Todes den Schlächter schlachten wird, und all unser Blut kommt über Edom.“
Längst ist der Rabbi vom Rhein nicht mehr Gast an unserem Sedertisch. Kinder darf man heutzutage mit derart grausigen Geschichten ja nicht ängstigen, sie beschäftigt weit mehr, welche Geschenke sie für das Auffinden des Afikoman bekommen könnten. Unsere Haustore sind fest verschlossen, kein Fremder begehrt Einlass, nur das Glas für Elijahu bleibt nach wie vor unberührt. Mir geht es aber alljährlich an besagter Stelle der Haggada wie Heinrich Heine mit seiner Loreley vom Rhein: „Ein Märchen aus alten Zeiten, das kommt mir nicht aus dem Sinn“, und ich sehne mich nach den Sederabenden in meinem Elternhaus.

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