DIE LETZTEN EUROPÄER: Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee

Privates und Politisches verbindet beispielhaft die Geschichte der weitverzweigten europäisch-jüdischen Familie Brunner. Mit einer Ausstellung aus ihrem Nachlass wirft das Jüdische Museum Hohenems gleichzeitig einen kritischen Blick auf das „Projekt Europa“. Ein Gespräch mit dem Direktor Hanno Loewy führte Anita Pollak.

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Fotoalbum mit Aufnahmen des land- und viehwirtschaftlichen Betriebes der Familie Brunner und einem Foto von Rodolfo Brunner mit Benito Mussolini. © Jüdisches Museum Hohenems (Nachlass Carlo Alberto Brunner)/Dietmar Walser, walser-image.com

„Wegen die roiten Kalbfell ist in der Schweiz nicht zu machen“, schreibt der Metzger Heinrich Brunner 1833 aus Hohenems an seine Söhne Jakob und Mordechai in Triest. Dort haben die beiden Brüder gerade einen Handel für Kolonialwaren und Schweizer Textilien aufgezogen. Von da an sollte die familiäre und kommerzielle Achse der Brunners zwischen Vorarlberg und der Hafenstadt am Mittelmeer bis weit in das 20. Jahrhundert erfolgreich bleiben. Die italienischen Brunners trugen wesentlich zum wirtschaftlichen Aufstieg Triests bei und schafften es als Industriemagnaten bis in die höchsten gesellschaftlichen Kreise. Im Gegensatz zu Teilen der Hohenemser Verwandtschaft blieben die meisten jüdisch.

„Die Familie ist sehr repräsentativ für eine jüdische Aufsteigergeschichte im Habsburgerreich. Sie haben größtenteils gut geheiratet, sich auch über die Metropolen Europas verteilt, aber viele blieben in Italien und haben den Krieg größtenteils in der Schweiz oder auf dem Land in Italien überlebt.“ Als Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems war Hanno Loewy schon seit Jahren von dieser spannenden Familiengeschichte fasziniert gewesen. „Aber in unserer Sammlung hatten wir so gut wie nichts dazu.“
Das sollte sich durch einen glücklichen Zufall ändern.

»Die Familie ist repräsentativ für eine jüdische Aufsteigergeschichte im Habsburgerreich.«
Hanno Loewy


Der Pferdehuf. 1916 starb Guido Brunner, der gegen Habsburg für Italien in den Krieg gezogen war, in den Alpen den „Heldentod“. Bis heute wird er in Triest als Nationalheld verehrt. Sein Pferd, das die Schlacht überlebt hatte, wurde später am toskanischen Landgut der Brunners begraben, eines seiner Hufe jedoch präpariert und aufgehoben.
Als Loewy bei Recherchen in Triest davon erfuhr und in einem Blog darüber berichtete, meldete sich Ariel Brunner aus Brüssel: „Mein Papa hat den Huf!“
Dieser Papa war Carlo Alberto Brunner (1933–2014), der Hüter des Familiennachlasses. Er hatte die NS-Zeit in Italien überlebt, wanderte aber Ende der 1960er-Jahre auf der Suche nach seinen Wurzeln nach Israel aus. „Nachdem er starb, wurden wir von seinem Sohn Ariel gefragt: Wollt ihr den Huf und den

Präparierter Huf des Pferdes von Guido Brunner, gefallen am 8. Juni 1916 in der Schlacht von Monte Fior.
© Jüdisches Museum Hohenems (Nachlass Carlo Alberto Brunner)/Dietmar Walser, walser-image.com

Rest von der Sammlung? Und da hatten wir plötzlich einen riesigen Nachlass. Die Bibliothek, Ölgemälde, Briefe, das Familiensilber, das alles musste aus Israel hergeschafft werden, wo die beiden Schwestern Ariels leben.“
Auch das Manuskript Il Fondo del Ghetto, in dem Carlo Alberto seine Familienbiografie eingebettet in die politischen und historischen Ereignisse reflektiert, ist Teil dieses Nachlasses und viel zitiertes Dokument der gegenwärtigen Ausstellung.

Zweckpessimismus.
 Hat sich nun das Thema aus dem Material ergeben, oder gab es zuerst die Idee für Die letzten Europäer?
„Das sind zwei Flüsse, die ineinandergeflossen sind. Der eine ist die Familiengeschichte, denn die Brunners waren ja auch so etwas wie die letzten Europäer, der andere ergab sich aus der Ausstellung Die ersten Europäer, die wir 2014 gemacht haben. Diese beschäftigte sich mit der transnationalen Netzwerkidentität europäischer Juden im Habsburgerreich, die ihre Familien ja nie an einem Ort weiterführen konnten, weil es überall Ansiedlungsbeschränkungen gab, und erinnerte 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg an das Ende dieses Europas.“
Die nunmehrige Thematik ist mehrfach politisch aufgeladen, denn von den gegenwärtigen Krisen der europäischen Idee ist ja allerorts die Rede.
„In den letzten Jahren hat sich deutlich gezeigt, dass dieses Europa auf einem ziemlich prekären Weg ist, weil alles das, was man nach 1945 mühsam aufgebaut hat, heute infragegestellt wird. Der Traum, dass schrittweise so etwas wie ein europäischer Souverän entsteht, dass das europäische Parlament irgendwann das eigentlich demokratische Instrument Europas ist und nicht mehr der Rat, wo Regierungsoberhäupter ihre nationalen Interessen vertreten, ist nicht in Erfüllung gegangen und wir haben Grund, sehr pessimistisch und kritisch auf dieses europäische Projekt zu schauen. Wir haben uns daher entschieden, dass wir eine Ausstellung Die letzten Europäer machen wollen, aber im Sinne eines Satzes von Walter Benjamin doch hoffen, es nicht zu werden“, meint Loewy.

»Manchmal darf man ja Kassandra spielen
und auf Widerspruch hoffen.«

Hanno Loewy

Jüdische Vordenker. Aus diesen Gedanken ergab sich der zweite Teil der Ausstellung, der jüdische Vordenker der europäischen Idee aus den 1920er- und 1930er-Jahren des vorigen Jahrhunderts den heutigen Entwicklungen gegenüberstellt.
„Da finden sich alle Ansprüche dieses Projekts Europa, Menschenrechte, offene Grenzen, Presse- und Meinungsfreiheit, Frauenrechte etc. Da kommt etwa auch Simone Weil vor, die mit einem Hohenemser, Antoine Weil, verheiratet war. Vor allem aber jüdische Juristen wie Hersch Lauterpacht und Raphael Lemkin, die unter anderem UN-Deklarationen der Menschenrechte formuliert haben. Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs haben ja viele jüdische Intellektuelle alarmiert, sie haben sich gegen Nationalismen engagiert und zum Beispiel im Rahmen des Völkerbunds an Regeln und Gesetzen gearbeitet. Das ist ja etwas sehr Jüdisches, es geht hier nicht um nebulöse Werte, sondern einfach um Dinge, die im Zusammenleben der Völker und Menschen in Europa geregelt sein müssen. Diese Leute stellen wir vor.“

Medaillon aus dem Nachlass mit einem Foto von Rudolfo Brunner. © Jüdisches Museum Hohenems (Nachlass Carlo Alberto Brunner)/Dietmar Walser, walser-image.com

On the Crossroads. Hohenems liegt geografisch viel zentraler in Europa als Wien, ein Gutteil der Besucher kommt aus Deutschland und der Schweiz, das jüdische Publikum besonders aus Zürich, was für die Themenwahl nicht ganz unerheblich ist, wie Direktor Loewy feststellt.
„Hohenems hat spannende Bedingungen, es liegt an den Crossroads Europas, ist traditionell mit Italien verbunden, aber wir hängen auch sehr an der österreichischen Diskussion. Das heißt, so ein Thema kann man von einem imaginären Mittelpunkt Europas gut stellen. In unserer Dauerausstellung ist das Flüchtlingsthema im Zweiten Weltkrieg an der Schweizer Grenze präsent.“
Seit seiner Gründung 1991 hat sich das Museum quasi programmatisch auch „unbequemen Fragen“ wie Migration und Minderheiten gestellt.
„Als wir 2004 begannen, dass Museum neu aufzubauen, war es für mich überraschend, dass man im Gegensatz zu Frankfurt, wo ich herkam und wo man politisch unheimlich vorsichtig sein musste, hier frei reden und über alles diskutieren kann. Auch die jüdischen Gemeinden in der Schweiz sind da viel entspannter, was etwa Kritik an Israel oder der Orthodoxie angeht. Wir bekommen ja viel Geld von jüdischen Stiftungen aus der Schweiz. Auch die Hohenemser Community der ehemaligen Familien, die oft gar nicht mehr jüdisch sind, aber eine jüdische Familienidentität bewahrt haben, halten diese Unterschiede innerhalb der Familien aus. Das sind Weltbürger, die den jüdischen Kosmopolitismus leben.“

Netzwerke. Mit dieser Community verbunden ist eines der erfolgreichsten Aktivitäten im Museum, eine genealogische Datenbank mit weit über 40.000 gut erforschten Personen. „Da bekommen wir ständig Anfragen oder Mails und haben auf der Website weltweit täglich fast 1.000 Besucher, das ist ein globales Netzwerk.“

Hanno Loewy. Hohenems liegt viel zentraler in Europa als Wien, das bestimmt auch die Themenwahl. © Jon Holloway

Coronabedingt ist auch die gegenwärtige Ausstellung zur Gänze im Netz abrufbar, und die begleitenden Veranstaltungen wird es vorerst nur virtuell geben. (www.lasteuropeans.eu)„Wir haben ein europäisches Tagebuch dazu ins Netz gestellt, wo wir kritisch die Entwicklungen in Europa beobachten und Debatten entzünden wollen. Anfangs wollten wir ja aus Hohenems die Very Central European University machen mit einem riesigen Programm und spannenden Leuten von weit her, aber jetzt experimentieren wir mal mit neuen Veranstaltungsformen im Live-Stream, so kann man zum Beispiel die Eröffnung der Ausstellung von überall her ansehen.“
Nach wie vor werden dennoch einige Outdoor-Veranstaltungen angeboten. Zum Beispiel finden Führungen am jüdischen Friedhof oder auf alten Fluchtwegen am Alten Rhein besonders viel Interesse. Auch ein Radwanderweg zum Thema Flucht vom Bodensee bis in die Berge wird gemeinsam mit dem Land und den Gemeinden an der Grenze geplant.
Sind Die letzten Europäer bereits als Abgesang, als Nachruf auf Europa zu verstehen?
„Manchmal darf man ja Kassandra spielen und auf Widerspruch hoffen.“

© walser-image.com

DIE LETZTEN EUROPÄER
Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee. Die Familie Brunner. Ein Nachlass.
Bis 3. Oktober 2021
jm-hohenems.at

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