„Nicht selten waren es in der Vergangenheit Einbrüche, plötzliche Katastrophen, Krisen, die eine neue gesellschaftliche Mentalität, einen anderen Mainstream des Denkens freisetzten – und damit ein neues Zukunftsbild schufen. Die Pest des Mittelalters führte letztlich in die Renaissance …“ Matthias Horx

Vor einem Jahr begann Purim Anfang März. Es war für einige jüdische Gemeinden der erste Feiertag, der über Zoom gefeiert wurde. Für andere wichen die ausgelassenen Partys eher nach Desinfektionsmittel duftenden G-ttesdiensten, denen die charakteristische Ausgelassenheit genommen wurde, gleich gefolgt von einer langen Periode der Einsamkeit und Quarantäne. Heuer fällt Purim auf Ende Februar und birgt neben den bekannten Symbolen noch ein weiteres in sich: ein ganzes jüdisches Kalenderjahr, in dem die Feiertage und Schabbate unter der Last der Pandemie und ihrer Einschränkungen angepasst wurden. Ein Jahr, in dem sich so viel geändert hat, in dem sich unsere Welt auf den Kopf gestellt hat. Ein Jahr, in dem unsere Heime zu Büros und Schulen wurden, Eltern zu Lehrer*innen, Köch*innen und engsten Vertrauten. Zwölf lange Monate, in denen wir unsere Liebe, unsere Dankbarkeit Familie und Freunden gegenüber ausdrücken, indem wir uns von ihnen fernhalten und die Welt damit zu retten versuchen, dass wir uns zu Hause einsperren. Ein Jahr, das, einer Lupe gleich, die Schwächen und Stärken unserer Gesellschaft, aber auch unseres persönlichen Lebens vergrößert hat. Eine Lupe, ein Mikroskop benützen wir meist, um etwas besser zu sehen und damit auch besser zu verstehen. Mit ihrer Hilfe schafften es Wissenschaftler*innen weltweit, innerhalb kürzester Zeit Impfstoffe herzustellen, die uns vielleicht bald aus der Quarantäne befreien werden. Mit Hilfe der Vergrößerung können wir Dinge besser sehen und lernen, sie damit auch besser zu verstehen. So einfach stellt man sich das vor: Die Pandemie zeigt die Probleme unserer Gesellschaften deutlich auf, also versuchen wir empathische Lösungen für eine bessere, eine solidarische Variante zu finden. Doch angesichts braungefärbter Anti-Corona-Aufmärsche, der Missachtung von Kinderrechten, der viralen Verbreitung von antisemitischen Weltverschwörungstheorien und des politischen Nichtantwortens auf all diese Probleme werden wir täglich damit konfrontiert, dass dem nicht so ist. Da hilft es vielleicht ein wenig, wenn wir uns am baldigen Purimfest unserer Geschichte besinnen: Pur in „Purim“ bedeutet „Los“. Dieses Los sollte entscheiden, wann das jüdische Volk im antiken Persien ausgelöscht werden würde. Doch dann nahmen Ester, Mordechai und das jüdische Volk ihr Schicksal gemeinsam selbst in die Hand … und wenn wir eine Lehre aus der Megillat Ester und unserer Geschichte ziehen sollten, dann diese: Man muss das Los immer selbst in die Hand nehmen und sich nicht vom Weg abbringen und nicht im eigenen Glauben erschüttern lassen, um unser Leben, unsere Gesellschaft und unsere Zukunft zum Besseren zu wenden. Wir alle sind als Individuen und als Gemeinschaft verantwortlich dafür.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen rauschende Zoom-Purim-Feiern, in der Hoffnung, dass wir nächstes Jahr zur selben Zeit unsere Masken wirklich nur noch zur Purim-Maskerade tragen werden!

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