„Menschen sind Meister des Verdrängens – auch wir Österreicher“

Mauthausen – Zwei Leben ist ein neuer Dokumentarfilm über zwei sehr unterschiedliche Schicksale im Konzentrationslager Mauthausen während des NS-Regimes. Der Regisseur Simon Wieland erzählt über die Arbeit mit den Zeitzeugen und über die Wichtigkeit, ihre Geschichten an junges Publikum zu bringen. Die Filmpremiere findet im Rahmen des Jüdischen Filmfestivals in Wien statt. Interview: Anja Malenšekh

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Stanisław Leszczyński. Der Schoah-Überlebende starb kurz nach den Dreharbeiten. © Simon Wieland

WINA: Ihr neuer Dokumentarfilm widmet sich zwei persönlichen Geschichten aus dem Konzentrationslager Mauthausen. Warum haben Sie dieses Thema gewählt?
Simon Wieland: Mauthausen ist das Symbol für eine sehr schlimme Zeit, es ist ein Mahnmal. Wir Österreicher haben diese Zeit in unseren Köpfen – und die Einwohner von Mauthausen auch ständig vor Augen. Mich hat interessiert, wie es ist, dort zu leben und mit diesem Mahnmal ständig konfrontiert zu werden.
Das Wichtige an den Themen, die ich in meinen Filmen angehe, ist ihre bleibende Präsenz. Sie altern nicht, sie behalten ihre Aktualität. Was damals passiert ist, wirkt bis heute nach. Unsere Vergangenheit ist das Fundament, und wenn man die Gesellschaft als Haus sieht, ist es ganz gut zu wissen, worauf unser Haus gebaut ist. Mauthausen – Zwei Leben ist mein vierter Film zu einem zeitgeschichtlichen Thema.

Wie geht man in Österreich mit der Thematisierung der Opfer-Täter-Rolle um? Sind die Menschen bereit, darüber zu reden?
Menschen, die das damals erlebt haben, sind jetzt sehr bereit, darüber zu reden. Sie merken, dass jetzt die letzte Möglichkeit ist, etwas darüber zu sagen. Jetzt, am Abend ihres Lebens, kommen die Erinnerungen aus ihrer Jugend wieder ans Licht. Sie haben das Bedürfnis, darüber zu reden, es ist eine Art psychologische Befreiung und Reinigung. Menschen – auch wir Österreicher – sind Meister des Verdrängens. Wir dürfen nicht vergessen: Diejenigen, die das damals erlebt und überlebt haben, waren einfach froh, dass es vorbei ist, auf beiden Seiten. Sie waren jahrzehntelang nicht bereit, mit ihren Kindern darüber zu sprechen. Was im Krieg und in den letzten Kriegstagen passierte, war lange ein großes Tabu.

Wie haben Sie die Protagonisten gewählt?
Die beiden sind einerseits konträr, andererseits hatten sie dasselbe Schicksal – beide erlebten das Konzentrationslager. Stanisław Leszczyński als polnischer Häftling, Franz Hackl als Lehrling in der Schlosserei des Lagers. Als Hitlerjunge hatte Hackl dieses Grauen plötzlich direkt vor Augen. Bald wurde ihm klar, dass die Verbrecher nicht die Häftlinge sind, sondern die Bewacher. Hackl sagt im Film, dass man als Bevölkerung schwer etwas dagegen tun konnte. Jeglicher Protest hätte einen selbst ins KZ gebracht. Man kann im Nachhinein mit der Gnade der späten Geburt, aus dem sicheren Hafen heraus, diese Menschen dafür verurteilen, dass sie nichts gemacht haben. Aber das finde ich ein bisschen heuchlerisch. Denn ich wüsste nicht, was ich damals an seiner Stelle hätte tun können.

»Ich inszeniere nicht, sondern dokumentiere,
was damals passiert ist. […] Die Bewertung
überlasse ich gerne dem Zuseher.«

Simon Wieland

Waren die Protagonisten sofort bereit, über ihre Zeit im KZ zu sprechen?
Leszczyński wollte sich im Alter von 90 Jahren nicht mehr damit auseinandersetzen. Seine Lebensgefährtin hat ihn aber dazu überredet. Als er dann nach Mauthausen kam, war er froh über seine Entscheidung. Das war für ihn ein wichtiger Abschluss. Sein Besuch im Rahmen der Dreharbeiten war ein Abschiedsbesuch. Er verstarb einige Monate später.

Warum treffen einander die Protagonisten im Film nicht?
Leszczyński und Hackl waren zum gleichen Zeitpunkt im KZ Mauthausen. Wir haben darüber diskutiert, ob sie einander im Film treffen sollen. Ich fand es spannender, wenn sie das nicht tun, weil sie einander auch in der Realität nicht getroffen haben. Da Leszczyński die Dreharbeiten krankheitsbedingt abbrechen musste, gab es dann keine Möglichkeit mehr für eine Begegnung.
Leszczyńskis Krankheit führte auch dazu, dass ich das Konzept mittendrin ändern musste. Der Film wurde in Warschau fertiggedreht. Leszczyńskis Geschichte bekam somit zwei Ebenen: Er ist gleichzeitig Erzähler und Protagonist seiner eigenen Geschichte.
Ich setze mich mit der Lebensgeschichte der Protagonisten vorher auseinander, aber den Film bereite ich nicht im Detail vor. Ich warte darauf, was passiert und reagiere mit der Kamera spontan darauf. Ich inszeniere nicht, sondern dokumentiere, was damals passiert ist. Ich möchte auch nicht zu viel bewerten. Die Bewertung überlasse ich gerne dem Zuseher.

Mauthausen – Zwei Leben. Regie, Kamera, Produzent: Simon Wieland Filmstart: Okt. 2020

Wie lange dauerte das Projekt, und wie gingen Sie das Filmmaterial an?
Da ich oft mit alten Menschen drehe, mache ich den Film grundsätzlich nur mit einer Handkamera. Ich drehe schnell und nicht sehr lange. Die meisten Filmemacher hätten bis zu 100 Stunden Filmmaterial – wir hatten nur sechs Stunden. Die Arbeit im Schnittraum ist ein längerer Prozess, den man nicht beschleunigen kann. Es ist eine natürliche Entwicklung, bis man das Material versteht und es in die richtige filmische Form bringen kann.
Aus meiner Sicht widersprechen langwierig gestaltete Bilder dem Dokumentarischen, da sie zu sehr auf den Gestalter hinweisen und so die Authentizität der Bilder zurückdrängen. Darum arbeite ich schnell. Das ist auch wichtig, weil ältere Menschen nicht mehr in der Lage sind, lange Dreharbeiten zu machen. Dadurch bekommt das Ganze eine große Spontaneität. Ich gehe mit den Menschen an die Orte ihrer Erinnerung. Im Prozess der „Emotional Memory“ erleben die Protagonisten ihre damaligen Erfahrungen noch einmal. Dadurch kommt es zu sehr emotionalen und authentischen Situationen, und das ist mir wichtig. Auch die konträren Schicksale der beiden Protagonisten haben mir erlaubt, mein Thema sehr filmisch, dramatisch zu erzählen.

An wen richtet sich Ihr Film?
Der Film ist in erster Linie an junge Menschen adressiert, die diese Zeit damals nicht erlebt haben. Die verbleibenden Zeitzeugen sind jetzt noch in der Lage zu berichten und Zeugnisse abzulegen. Es ist extrem wichtig, diese Geschichten zu dokumentieren und für die Nachwelt zur Verfügung zu stellen.

Werden Sie bei diesem Thema auch mit negativen, ablehnenden Reaktionen konfrontiert – etwa im Sinne von „Lassen wir die Geschichte endlich ruhen“ oder ähnlichen Aussagen?
Ja, natürlich. Es ist schwer, mit solchen Themen an das Publikum heranzukommen. Nicht jeder ist bereit, sich damit auseinanderzusetzen. Trotzdem muss man das machen und es den Menschen zeigen. Aus meiner Erfahrung heraus sind gerade junge Menschen anfangs oft ablehnend. Das erlebte ich bei meiner ersten Doku, im Rahmen einer Roadtour, die uns in die Dörfer zu den Menschen brachte. Während einer Vorführung in einem Wirtshaus saß eine Gruppe Jugendlicher im angrenzenden Gastraum und drehte dem Film demonstrativ den Rücken zu. Nach zehn Minuten drehten sie sich um und nach weiteren 15 Minuten fragten sie, ob sie die Eintrittskarte noch kaufen können. Wichtig ist eben, dass eine Geschichte authentisch erzählt ist. Ich glaube, dass Menschen keine Lust haben, dogmatische Filme zu sehen.

Was meinen Sie genau?
Ein Film, in dem jemand emotional und echt die Geschichte erzählt, kann jede andere Person ansprechen. Das versuche ich bei meinen Filmen. Bei mir erzählen die Menschen selbst, was sie erlebt haben und nicht der Kommentator. Meine Filme haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da ich sehr nah dran bin.

Hatten Sie bei diesem Projekt einen Leitsatz, der Sie begleitet und inspiriert hat?
Ein Satz, der mich stark berührt hat, stammt von Leszczyńskis Mutter. Sie war die Hebamme von Auschwitz und verhinderte dort den Tod sehr vieler Babys. (Sie wurde später als Gerechte unter den Völkern geehrt.) Als Leszczyński nach dem Krieg nach Hause kam und auch seine Brüder alle am Leben waren, soll sie gesagt haben: „Ich habe in Auschwitz dafür gesorgt, dass kein Kind getötet wurde, darum sind alle meine Söhne gesund aus dem Krieg zurückgekommen.“ Was Leszczyński in Mauthausen erlebt hat und wie oft er fast gestorben wäre, das grenzt wirklich an ein Wunder.

© Simon Wieland

Simon Wieland,
geb. 1963 in Mistelbach, studierte an der Hochschule für Film und Fernsehen in München. 2008 gründete er seine Produktionsfirma. Wieland arbeitete für Produktionen für den ORF, 3Sat, ARTE. Er erhielt bereits mehrere Preise, u. a. eine Deutsche-Filmpreis-Nominierung, Spezialpreise und lobende Kritiken bei den Filmfestivals von San Francisco und Tel Aviv. Der Autor, Kameramann und Regisseur widmete sich in seinen Dokus (Unser Kampf; Nemci ven! Deutsche raus!; Heil Hitler – Die Russen kommen) in den letzten Jahren vor allem zeitgeschichtlichen Themen.

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