Ehrengeleit für einen Juden in dunkler Zeit

Wilhelm Viktor Kleinhenz organisierte anno 1934 für seinen jüdischen Mitbürger Bernhard Wildberg einen Ehrenzug – in einer Zeit, in der eine Ehrerbietung dieser Art für Juden nicht gerade als selbstverständlich war und für den Organisator sogar gefährlich für Leib und Leben.

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WILHELM KLEINHENZ wurde am 21. April 1883 in Langen-leiten in der Rhön geboren. Maria Kleinhenz, geborene Arnold, erblickte am 17. Februar 1881 in Langenleiten das Licht der Welt. Geheiratet haben die beiden am 16. Oktober 1906 in Langenleiten. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor, fünf Söhne und eine Tochter. Drei der Söhne fielen im Zweiten Weltkrieg. Wilhelm Kleinhenz starb 72-jährig am 2. Februar 1956, seine Frau Maria am 6. März 1963 82-jährig in Kleinbardorf. Bilder / Repros © Josef Kleinhenz

Bernhard Wildberg war ein Jude. Im fränkischen Kleinbardorf nannten ihn die Leute „Baruch“*. Seine Frau sprachen sie liebevoll mit Hannchen an. Nach dem Passahfest besuchten die beiden Bauern und Bekannte im Ort, um Geflügel zu kaufen und von Festtagen übrig gebliebene ungesäuerte Fladenbrote gegen Eier und Mehl zu tauschen. So standen sie mit der Ortsbevölkerung in regem Kontakt und hatten in einer schwierigen Zeit immer genug zu essen. Bernhard Wildberg war ohne Tadel und eine Zeitlang Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr Kleinbardorf. Am 2. April 1934 starb er mit 74 Jahren. Mit seinem Tod verlor die Gemeinde im Grabfeld bei Bad Königshofen einen engagierten und aufrichtigen Mitbürger. Bei der Beerdigung wurde die Feuer-wehr um einen Ehrenzug gebeten. Ohne Rücksicht auf eigene Nachteile bewies der amtierende Kommandant Wilhelm Viktor Kleinhenz bürgerlichen Mut und trommelte die Kameraden hierfür zusammen. Der Verstorbene wurde schließlich mit einem Ehrengeleit der Feuerwehr zu Grabe getragen. Nichts Ungewöhnliches, oder? Doch! In einer Zeit, in der die Nationalsozialisten an der Macht waren, galt für einen Juden diese Ehrerbietung nicht gerade als selbstverständlich – für den Organisator sogar als gefährlich für Leib und Leben. Doch trotz aller Befürchtungen bewies der rechtschaffene Wilhelm Viktor Kleinhenz bürgerliche Zivilcourage und organisierte den Ehrenzug. Um es vorwegzusagen: Wilhelm Kleinhenz war aus guten Gründen ein Nazi-Gegner und machte daraus kein Geheimnis. Er erhob daher auch nicht die Hand zum „Deutschen Gruß“. In seiner christlichen Weltanschauung fühlte er sich von der Bayerischen Volkspartei unterstützt, der er als Mitglied angehörte. Diese Vereinigung stellte sich gegen den Nationalsozialismus. Die Bayerische Volkspartei war laut Wikipedia 1918 in Regensburg gegründet worden und galt als Zusammenschluss des politischen Katholizismus, um besonders Interessen des Besitzbürgertums zu vertreten.

Die Tatsache, dass fünf Söhne dem Vaterland dienten und davon drei Opfer des Krieges wurden, soll Wilhelm Kleinhenz vor Sanktionen bewahrt haben.
Otto Kleinhenz

Gefahr für Leib und Leben
Ob es nun den Nazis passte oder nicht: Wilhelm Kleinhenz, der 1934 bereits drei Jahre im Amt des Kommandanten der Frei-willigen Feuerwehr Kleinbardorf tätig war, handelte aus seinem Pflichtgefühl heraus. Also stellte er den Ehrenzug auf die Beine. Gleichwohl war sich Wilhelm Kleinhenz darüber bewusst, dass das Ehrengeleit für Wildberg die Nazis auf den Plan rufen könnte. Denn wer sich gegen den nationalistischen Ungeist und die Hitler-Diktatur stellte, musste früher oder später mit Vergeltung rechnen. Das wusste auch Otto Kleinhenz als Zeitzeuge zu berichten, einer der fünf Söhne von Wilhelm und Maria Kleinhenz, geborene Arnold. Otto war bei der Beerdigung von Bernhard Wildberg dabei. Damals war er neun Jahre alt. Er erzählte später von seinen Beobachtungen: „Mit glänzenden Helmen salutierten die Feuerwehrmänner von Kleinbardorf, um ihrem ehemaligen Kommandanten Trauer und Respekt zu zollen.“

Ignatz Wildberg, der Sohn von Bernhard Wildberg, gehörte zu den Soldaten, die nicht mehr vom Krieg nach Kleinbardorf heimkehrten. © Josef Kleinhenz

Die große Verantwortung vor G“tt
Am Beerdigungszeremoniell am Ortsausgang in Richtung Königshofen nahmen viele Dorfeinwohner teil. Auf die Trauer-gemeinde blickend, würdigte ein Rabbiner aus der nahen Grabfeldstadt Königshofen die Lebensleistung von Bernhard Wildberg, so der Zeitzeuge. Der Rabbiner soll auch gesagt haben: „Der Verstorbene steht nun vor G-tt, wo es keine Flucht vor der Verantwortung gibt. Der Tod soll den Menschen da-her Mahnung sein.“ Über diese Worte sei er als junger Mensch zunächst verwundert gewesen. Daher habe er sie später seiner (g-ttesfürchtigen) Mutter erzählt, die ihm dazu aus christlicher Sicht Näheres erklärt habe. Der amtierende Kommandant Wilhelm Kleinhenz würdigte seinen Amtsvorgänger Bernhard Wildberg als hoch angesehene Persönlichkeit und dessen ehren-amtliche Tätigkeit als Kommandant für das Gemeinwohl.

Feuerwehr mit glänzenden Helmen
Flankiert von den Männern der Feuer-wehr wurde der schlichte Naturholz-Sarg auf offenem Wagen mit Pferden im Ehrengeleit zum mehr als 400 Meter hohen Judenfriedhof nahe Kleinbardorfs geleitet. Als die schnaufenden Tiere den Wagen mit dem Verstorbenen den steilen Berg hin-aufzogen, griffen zupackende Hände von Trauerbegleitern in die Speichen – wie so oft auf dem Weg zu dieser Begräbnisstätte. Denn der Wagen sollte nicht zurückrollen: „Das bedeutete sonst Unheil.“
Auf dem Grabstein von Bernhard Wildberg steht zu lesen: „Geboren am 1. Mai 1859, gestorben am 2. April 1934.“ Ob sein Denkmal noch existiert? Vor wenigen Jahren wurde es vergeblich gesucht. Ein Foto vom Grabstein ist vorhanden, ein Porträtbild von Bernhard Wildberg allerdings nicht mehr.

Stein an Stein: Der jüdische Friedhof bei Kleinbardorf. © Josef Kleinhenz

Der jüdische Friedhof mit Tausenden von Gräbern.
Ein weiterer Zeitzeuge, der die Trauerfeier von Bernhard Wildberg begleitete, ist Erwin Hermann. Er übernahm jahrzehntelang die Pflege des Judenfriedhofs und führte Besuchergruppen durch die Anlage. 1987 setzt der Maurer das Taharahaus instand, das 1696–1697 errichtet worden war. Darin wurden die Toten symbolisch „rein“ gewaschen, so auch Bernhard Wildberg. Heute ist der jüdische Friedhof bei Kleinbardorf mit 4.400 Gräbern, die 1987 gezählt wurden, der zweitgrößte in Bayern. Die Zahl der Beigesetzten liegt aber wesentlich höher, da zahlreiche Grab-steine bereits versunken sind. Anstelle einer Fliehburg wurde er 1574 mit 21.050 Quadratmetern angelegt, um Verstorbene jüdischen Glaubens aus Franken bis hin nach Thüringen zu begraben. Die Begräbnisstätte wurde in der Zeit des Nationalsozialismus, aber auch noch 1957 und 1977 geschändet: Grabsteine wurden grundlos zerschlagen oder umgestürzt.

Die große Macht der Nazis.
Dass der verantwortliche Kommandant Wilhelm Kleinhenz hinter dem Ehrenzug der Feuerwehr stand, den er organisiert hatte, wurde später von den Nazis nicht vergessen, wie Otto Kleinhenz festhielt. Trotz ehrenwerten und vorbildlichen Verhaltens soll sein Vater später auf die Schwarze Liste gesetzt worden sein. Das wurde in der Familie mit Angst und Schrecken zur Kenntnis genommen. Otto Kleinhenz: „Die Tatsache, dass fünf Söhne dem Vaterland dienten und davon drei Opfer des Krieges wurden, soll Wilhelm Kleinhenz vor Sanktionen bewahrt haben.“ Schmerz und Trauer über den großen menschlichen Verlust in der Familie rissen tiefe Wunden. Die Namen der toten Söhne von Wilhelm und Maria Kleinhenz leiben jedoch unvergessen und sind am Kriegerdenkmal Kleinbardorf mit weiteren Gefallenen des Dorfes in Stein gemeißelt: Erhard, Josef und Rudolf Kleinhenz. Erhard Kleinhenz war mit einer Österreicherin verheiratet. Mittlerweile sind auch die vom Krieg Heimgekehrten Söhne Otto und Emil Kleinhenz sowie der Zeitzeuge Erwin Hermann verstorben.

Bernhard Wildberg fiel hochdekoriert.
Zu den gefallenen Soldaten Kleinbardorfs gehörte auch Bernhard Wildbergs Sohn Ignatz, der laut Denkmalinschrift am 21. März 1896 geboren und am 14. November 1914 als vermisst gemeldet wurde. Von Ignatz Wildberg gibt es noch ein Bild. „Er war der einzige Kriegsfreiwillige aus Kleinbardorf und fiel hochdekoriert“, fasste Otto Kleinhenz einen Teil der traurigen Kriegsbilanz des Grabfelddorfes zusammen. Verewigt wurde Ignatz Wildberg am Kriegerdenkmal des jüdischen Friedhofs. 1922 haben es jene Gemeinden errichtet, die dort ursprünglich ihre Toten bestatte-ten. „Zum Andenken an die tapferen Helden jüdischen Glaubens, die in dem Weltkrieg 1914–18 ihr Leben für ihr Vaterland hingegeben“, steht auf dem Denkmal. Dessen Pflege hat heute die Krieger- und Soldatenkameradschaft Kleinbardorf übernommen.

Von rechts: Der fränkische Ort Kleinbardorf mit seiner Ägidius-Kirche schrieb jüdische Geschichte. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert waren hier jüdische Familie ansässig. Es gab sogar eine Synagoge, die jedoch beim Novemberpogrom 1938 von SA-Männern zerstört wurde. Zeitzeuge Erwin Hermann auf einer Ruhebank am jüdischen Friedhof bei Kleinbardorf. Zeitzeuge Otto Kleinhenz.

Frohes Wiedersehen in Russland.
Otto Kleinhenz zog nach kaufmännischer Ausbildung bei der BayWa in Bad Königshofen später nach Bischofsheim in die Rhön, übernahm dort die Leitung einer Filiale dieses Unternehmens und blieb seiner Heimatgemeinde Kleinbardorf bis zuletzt eng verbunden. Sein Schicksal als Kriegsgefangener in Wladimir, 190 Kilometer nordöstlich von Moskau, ist eine eigene Geschichte: Rund 40 Jahre danach traf er sich mit dem russischen Direktor seines Arbeitslagers in Wladimir, der in einer Ziegelei die Gefangenen beaufsichtigte „und sehr menschlich behandelte“, wie Otto Kleinhenz hinzufügte. Beim frohen Wiedersehen wurden nicht nur Erinnerungen wachgerufen. Es wurden in Umarmungen auch Tränen vergossen. Zu Freunden wurden die beiden schon vorher durch ihren langen Briefkontakt. Als Soldat war Otto Kleinhenz mit nur 18 Jahren einberufen worden. Er kam erst neun Jahre später als letzter Kriegsheimkehrer des Grabfelddorfes Kleinbardorf nach Hause zurück.

Abschied der fünf Brüder.
Otto Kleinhenz, der selbst Gedichte schrieb, hielt in einem Bericht fest: „Beim letzten gemeinsamen Beisammensein meiner Brüder in Kleinbardorf, am denkwürdigen Judenhügel (nur wenige Meter vom Judenfriedhof entfernt) in Höhe eines herrlichen Rundblicks auf das Heimatdorf und seine Felder und Wiesen, wuchs der Wunsch und Gedanke, eine kleine Marien-Kapelle zu bauen, von wo aus die Mutter G-ttes hinabsieht zum Ort des Abschieds der fünf Brüder vom Elternhaus.“ An dem Aussichtspunkt sangen sie gemeinsam zum Abschied aus tiefem Herzen Jugend- und Heimatlieder, bevor sie dem Befehl des Kriegseinsatzes folgen mussten und beim wehmütigen Auseinandergehen einander Adé sagten. Bis ins Dorf hinunter schallten ihre Melodien. Gehört wurden sie am Abend von den Leuten, die gerade aus dem Ortsbrunnen Wasser schöpften oder dort ihr Vieh tränkten, wie man hinterher erfuhr.
Die Mutter-G-ttes-Kapelle hoch oben auf dem Berg wurde 1952 auf Veranlassung von Otto Kleinhenz und unter finanzieller Beteiligung seines Bruders Emil Kleinhenz aus Sandsteinen errichtet. Erwin Hermann und eine Handvoll Helfer schleppten per Rucksack und Gießkanne den Zement und Sand sowie das Wasser mühsam den steilen Berg hinauf. Die notwendigen Steine grub Erwin Hermann am unwegsamen Gelände unmittelbar hinter dem gewählten Standort aus.
Von einem katholischen Pfarrer wurde die gelungene Kapelle später feierlich eingeweiht und ihrer Bestimmung übergeben. Noch heute thront das religiöse Denkmal als Zeichen der Danksagung an den Schöpfer für die glückliche Kriegsheimkehr zweier Brüder der Familie Kleinhenz über Kleinbardorf. Die Krieger- und Soldatenkameradschaft Kleinbardorf initiierte unterdessen eine Beleuchtungsmaßnahme. Die kleine Fatima-Kapelle wird heute angestrahlt und leuchtet nachts weit in die Ferne.

*Baruch ist ein hebräischer Vorname, der aus der Bibel stammt und auch als Familienname verwendet wird. Der Vorname bedeutet „der Gesegnete“.

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